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Feministischer Frieden?

Von Melanie Stitz

Zerbombte Städte und die Geschichten der Menschen, die in diesem (Ukraine-)Krieg leiden und sterben, machen fassungslos, wütend, traurig und ratlos. Zuschauen ist schier unerträglich. Jetzt und sofort muss gehandelt werden und Schluss sein mit Zaudern und Fragen nach dem Woher und Wohin, lautet der Tenor. »Vaterlandsverräter*innen«, »Feiglinge« und Zweifler*innen, Hoffnungsträger*innen in jedem Krieg, haben einen schweren Stand dieser Tage. Obwohl sich laut Umfragen etwa die Hälfte der Bevölkerung hierzulande gegen Waffenlieferungen ausspricht, hat sich die mediale Debatte deutlich verhärtet: »Handeln« wird enggeführt auf militärischen Beistand, alles andere gleichgesetzt mit »Dulden« und »Nichtstun«. Aber auch alle Versuche, die Logik von Krieg und Eskalation zu durchbrechen und eine friedliche Zukunft zu bauen, sind Arbeit – unendlich mühsam, unsäglich schwer, sie brauchen all unseren Verstand, Empathie, langen Atem. Wie kann ein »Danach«, das es hoffentlich geben wird, aussehen? Wie könnten heute die Grundlagen gelegt werden für künftigen Frieden? Was macht Frieden – wenn schon nicht sicher – zumindest wahrscheinlicher? Was lässt sich lernen aus anderen Kriegen?

»Feministische Außenpolitik« steht für den Versuch, den Blick um solche Perspektiven zu weiten. Leitend ist der Gedanke, dass Kriege nicht erst beginnen, wenn der erste Schuss fällt, und auch nicht enden, wenn ein Friedensabkommen unterzeichnet ist. Armut, Ungleichheit und Klimawandel sind Nährboden für Kriege. Verrohung und Brutalisierung gehen Kriegen voraus. Feindbilder und Eskalationen werden über Jahre, gar Generationen genährt. Um ein Menschenleben als Kollateralschaden verbuchen zu können, muss sein Wert schon vorher in Frage gestellt sein. Nach dem Krieg bleiben zurück: zerstörte Infrastruktur, Berge von Waffen, weiteres Elend, traumatisierte und brutalisierte Menschen; Soldaten, die eben noch »Helden« waren und ins zivile Leben nicht mehr zurückfinden. In Guatemala sind Ausmaß und faktische Straflosigkeit von Femiziden dramatisch – die Ursachen dafür reichen bis in den Bürgerkrieg (1960–1996), so die These (nicht nur) der Gesellschaft für bedrohte Völker.

Feministische Außenpolitik geht davon aus, dass »Außenpolitik das Potenzial hat, ein Mechanismus für Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden zu sein« und, »dass es ohne Feminismus keinen Frieden geben kann«, so das Centre of Feminist Foreign Policy (CFFP). Weiter heißt es: »FFP (feministische Außenpolitik) geht einen Schritt aus dem Black-Box-Ansatz des traditionellen außenpolitischen Denkens und seiner Konzentration auf militärische Gewalt, Gewalt und Herrschaft heraus, indem es ein alternatives und intersektionales Umdenken von Sicherheit aus der Sicht der Schwächsten anbietet. Es handelt sich um einen mehrdimensionalen politischen Rahmen, der darauf abzielt, die Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten von Frauen und marginalisierten Gruppen zu verbessern, um die destruktiven Kräfte von Patriarchat, Kolonialisierung, Heteronormativität, Kapitalismus, Rassismus, Imperialismus und Militarismus zu hinterfragen.« CFFP glaubt, dass feministische Außenpolitik so die Möglichkeit bietet, »die gewalttätigen globalen Machtsysteme zu hinterfragen, die Millionen von Menschen in ständigen Zuständen der Verwundbarkeit zurücklassen.«

Es geht also auch um globale soziale Rechte, solidarische Klimapolitik, Zugang zu Wasser und Nahrung, um Care und Sorgearbeit, Bildung, Gesundheit, … Die Betroffenen politischer Entscheidungen sind auf allen Ebenen zu beteiligen: Nichts soll »ohne sie über sie« entschieden werden, fasst CFFP1 es zusammen. UN Women, ein Organ der Vereinten Nationen, fordert die Beteiligung von Frauen an Friedensverhandlungen. Auf ihrer Website heißt es: »Zwischen 1990 und 2017 stellten Frauen nur 2% der Mediator*innen, 8 % der Verhandlungsführer*innen und 5 % der Zeug*innen und Unterzeichnenden aller bedeutenden Friedensprozesse dar. Werden Frauen in Friedensprozesse einbezogen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Abkommen mindestens zwei Jahre Bestand hat, um 20 %. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Abkommen mindestens 15 Jahre lang eingehalten wird, steigt sogar um 35 %.«

Es geht nicht nur um Beteiligung, sondern auch um die Inhalte. Margaret Thatcher zog in den Falkland-Krieg und Annalena Baerbock streitet für schwere Waffenlieferungen. Im Online-Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung zu Feministischer Außenpolitik heißt es: »Wie bei jedem emanzipatorischen Projekt, liegt ihre Essenz im Auge der Betrachterin.«2

Hannah L. Mühlenhoff, die einen Sieg der Ukraine für unrealistisch hält, schreibt in der taz (»Militarismus ist unfeministisch«, 7.5.2022): »Es ist berechtigt zu fragen, wie eine antimilitaristische Position in dem Kontext eines Angriffskriegs auf einen Staat und angesichts des Leids in der Ukraine beizubehalten ist und was diese bedeuten kann. Zunächst untersucht eine feministische Perspektive, wessen Sicherheit die Lieferung schwerer Waffen eigentlich schützen soll. Die meisten öffentlichen Befürworter*innen der Waffenlieferungen vermischen die Sicherheit der Ukraine als Staat (oder sogar der Europas und des Westens) mit der der Menschen in der Ukraine. Doch diese sind nicht gleichzusetzen.« Sie argumentiert, dass die Bundesregierung mit diplomatischen Mitteln mehr beitragen könnte zum Frieden als militärisch – letzteres verbaut diese Option.

Verwundbarkeiten sehen und marginalisierte Stimmen zu Wort kommen lassen – gerade jetzt, wo alle Aufmerksamkeit schon erschöpft und gebunden ist? Der Platz reicht nur für Beispiele:

Das Kriegsdienstverweigerungs-Netzwerk Connection e.V. und Pro Asyl warnten Ende April, dass nach derzeitiger Praxis russische Deserteur*innen, »mit großer Wahrscheinlichkeit in den Asylverfahren abgelehnt werden. (….) So fordern deutsche Behörden und Gerichte von den betroffenen Personen unter anderem den Nachweis der Einberufung und Einsatzbefehle, die den Einsatz im Kriegsgebiet oder anstehende völkerrechtswidrige Handlungen belegen – was in der Praxis aber schier unmöglich ist. Zudem wird von den Behörden und Gerichten verlangt, dass betroffene Personen bereits in Russland einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben.« Sie und viele weitere Organisationen fordern Schutz und Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Russland, Belarus und der Ukraine. Es seien Tausende, die »aus diesen Ländern vor Rekrutierung und Kriegseinsatz fliehen.« Kriegsdienstverweigerung sei ein Menschenrecht, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011 fest. Ihm widerspreche auch das derzeit in der Ukraine geltende Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren.

Ukraine und Russland sind die größten Weizen-Exporteure weltweit. In Somalia, Äthiopien, Sudan, vom Klimawandel und den Folgen der Pandemie besonders betroffen, werden Millionen verhungern, wenn die Lieferungen ausbleiben. Doch laut Oxfam wurden nur drei Prozent der insgesamt sechs Milliarden US-Dollar, die die Vereinten Nationen 2022 für humanitäre Hilfe in diesen Ländern aufbringen müssen, bisher finanziert. 6 Mrd. Dollar – das sind ca. 5,7 Mrd. Euro.

100 Mrd. € – in Zahlen 100.000.000.000 – beschloss die Bundesregierung als Sondervermögen zur Modernisierung der vermeintlich »kaputtgesparten« Bundeswehr. Eine »Zeitenwende« mit Vorlauf und Ansage im Koalitionsvertrag. Der Krieg rechtfertigt, was ohnehin passiert wäre, sei es die Aufstockung des Militär-Etats oder das Verpassen der Klimaziele. Schon im Corona-Konjunkturpaket wurde die Bundeswehr mit 3,2 Mrd. Euro bedacht. Auf der Website der Bundeswehr ist von einer »Trendwende«, eingeleitet von Ursula von der Leyen, seit 2015 die Rede.3 Seitdem steigt der Verteidigungshaushalt Jahr für Jahr. Bereits Anfang der 2000er Jahre begrüßte Gerhard Schröder die »Enttabuisierung des Militärischen«, damals im Kontext des Afghanistan-Krieges.

Aber vielleicht sind ja Samen gesät für eine »Zeitenwende« von unten: Wir trainieren weiter unsere »ethischen Reflexe« (ein Begriff von Gayatri C. Spivak). Unser Wille zur Gerechtigkeit und unsere Empathie enden nicht vor der eigenen Haustür, sondern erstrecken sich auch auf die Menschen im Jemen, laut Vereinten Nationen Schauplatz der »schlimmsten humanitären Krise der Welt« – 370.000 Menschen von einer Militärallianz unter saudischer Führung (laut Robert Habeck »keine lupenreinen Demokraten«) getötet, Millionen auf der Flucht. Das Dogma der »Schwarzen Null« und die Erzählung von der »Schwäbischen Hausfrau, die nicht mehr ausgeben kann, als sie hat«, sind widerlegt. Wo politischer Wille ist, da ist auch Geld. Das heißt: 100.000.000.000 € für Gesundheit, Schulen, sozialökologischen Umbau und wider die Not in der Welt. Reichtum ist antastbar von nun an, zumindest wird transparent, wo er herkommt: Oligarchen aller Länder werden enteignet und RWE gleich dazu. Die Übergewinnsteuer, ein Vorschlag der LINKEN, wird Realität, soll heißen, Rüstungskonzerne wie Rheinmetall fahren keine Sondergewinne ein durch den Krieg. Wir stürzen die Denkmäler von Kriegsverbrechern und Kolonisatoren – niemand erklärt Black Lives Matter, das sei nun einmal Kulturgut…

Die Liste der Träume von einer feministischen Zukunft ist lang, der Weg unendlich weit.

Melanie Stitz ist Redakteurin der feministischen Zeitschrift Wir Frauen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Wir Frauen, Nr. 2/2022 (Sommer).

Dieser Artikel stammt aus dem gemeinsamen Sonderheft „Für eine andere Zeitenwende!“  – eine Gemeinschaftsproduktion der Zeitschrift kulturrevolution und des DISS-Journals aus dem Juli 2022.  Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.

1 https://centreforfeministforeignpolicy.org/

2 www.boell.de/de/2019/02/11/eine-gerechtere-und-friedlichere-aussenpolitik

3 www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/modernisierung-bundeswehr/verteidigungshaushalt-trendwende-finanzen