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Belarus: Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg

Von Guido Arnold

Das Regime von Alexander Lukaschenko hat sich seit Februar zum Komplizen der russischen Aggression gegen die Ukraine gemacht und sein Territorium als Aufmarschgebiet für die Invasion zur Verfügung gestellt. Das belarussische Militär selbst ist jedoch (noch) nicht direkt in aktive Kampfhandlungen eingestiegen. Die wichtigste Kriegsabschreckung – eine nahezu völlige Ablehnung der belarussischen Gesellschaft gegenüber einer Beteiligung am Krieg. Die prägnanteste Form der weißrussischen Antikriegsbewegung sind massive Widerstandsaktionen gegen das Eisenbahnnetz des Landes.

Als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine schwappte eine Welle der Sabotage über das Land: Kriegsgegnerinnen versuchten, die Eisenbahnen unbrauchbar zu machen, um zu verhindern, dass russisches Militärgerät durch belarussisches Gebiet fährt. Nach Angaben des belarussischen Innenministeriums wurden bereits 80 Sabotageakte verübt. Unabhängige Medien bezeichneten diese Kampagne als neuen „Eisenbahnkrieg“ – die Bezeichnung für belarussische Partisanenangriffe auf Eisenbahnlinien während der Nazi-Besatzung. Die Aktivistinnen werden als „Partisanen“ bezeichnet.

In den Augen der meisten Belarussen scheint das Risiko, öffentlich zu protestieren – verglichen mit seiner Wirksamkeit – in der gegenwärtigen Situation zu hoch. Dies steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der erneut verschärften Einschränkung der Versammlungsfreiheit.

So wurden etwa 1.100 Menschen verhaftet, nachdem als Reaktion auf die russische Invasion Ende Februar Antikriegsproteste organisiert wurden. Ein Teil des Protests hat sich stattdessen auf klandestine Widerstandsformen verlagert. Eine Schätzung des belarussischen Innenministeriums geht von mehreren hundert Partisanen aus, die direkt am belarussischen „Eisenbahnkrieg“ beteiligt sind. Aktivistinnen gehen von Tausenden von Unterstützerinnen aus.

Die häufigste Form der Sabotage ist das Inbrandsetzen von Signalschaltkästen, so dass die Signale dauerhaft auf Rot schalten und der Zugbetrieb nur noch ‚manuell‘ durch Freigabe der Strecken per Funkkommunikation möglich ist. Dadurch werden die Züge gezwungen, mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 20 Kilometern pro Stunde zu fahren. Anfang März behauptete ein Telegram-Kanal belarussischer Eisenbahnerinnen, dass russische Militärtransporte als Folge des „Eisenbahnkriegs“ eingestellt worden seien. Auch Oleksandr Kamyshin, Chef der ukrainischen Eisenbahngesellschaft, deutete in einem Interview an, dass die Aktionen der Partisanen zu einem zeitweiligen Stillstand des Eisenbahnverkehrs geführt hätten. Die russischen Militärtransporte seien sieben Tage nicht vorangekommen. Russische Logistikzüge verkehrten zwar danach wieder in Belarus, aber es würden Vorsichtsmaßnahmen zu ihrem Schutz getroffen: Sie führen nicht mehr nachts und immer mehr Waffen und Munition würden in normalen Güterwaggons transportiert, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. „Aktivisten versuchen, Transporte von Militärgütern zu blockieren oder zu verzögern, vor allem in den Regionen Homiel und Brest, wo die Truppen in Bewegung sind“, sagt Pavel Latushka, einer der führenden Köpfe der belarussischen Opposition.1

Cyberpartisanen

Den Auftakt der Sabotageserie machte jedoch ein Hackerangriff. Sogenannte Cyberpartisanen legten mit ihrer Cyberattacke am 27. Februar (drei Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine) das Computernetz der weißrussischen Eisenbahngesellschaft lahm. Auf zwei Hauptstrecken fuhren gar keine Züge mehr, alle anderen im Land mussten auf Sicht fahren (15-20 km/h). Fahrkarten konnten nicht mehr gebucht werden – an den Bahnhofsschaltern mussten sie per Hand ausgestellt werden. Bereits vor Beginn des russischen Angriffskrieges, am 24. Januar hatten die Hackerinnen die belarussische Bahn infiltriert und einige Server, Datenbanken und Workstations verschlüsselt, um die Bewegung russischer Truppen zu sabotieren, „da die Spannungen über eine mögliche erneute Invasion in der Ukraine zunehmen“.2

Die Cyberpartisanen werden auf etwa 30 Personen geschätzt; nicht alle agieren von Belarus aus. Einige von ihnen sind ins Ausland gegangen. Zum ersten Mal traten die Cyberpartisanen im September 2020 in Erscheinung, als es in Belarus vielfältige Protestaktionen gegen die offenkundig gefälschte Präsidentenwahl gab – und zunehmende Repressionen gegen die Demonstrierenden. Damals war es ihnen gelungen, in die internen Systeme des belarussischen Sicherheitsapparates einzudringen und zu zeigen, wie das immer autoritärere System von Alexander Lukaschenko im Inneren funktioniert. Am 8. Juli 2021 gelang ihnen ihr bislang größter Coup: Sie erbeuteten von Regierungsservern sechs Terabyte geheimer Informationen, darunter auch die internen Datenbanken des Innenministeriums. Seitdem veröffentlichten sie einige der Interna häppchenweise auf Youtube: Namen und Adressen von Geheimdienstmitarbeitern, wer die Befehle zur Festnahme von Demonstrantinnen erteilt hatte, auf welche Weise die Sicherheitskräfte die Gerichte kontrollierten und unerträgliche Bedingungen für die Verhafteten schufen. Lukaschenko wies daraufhin seine Sicherheitskräfte an, zum Papier zurückzukehren, wenn sie Informationen auf ihren Computern nicht sichern könnten.

Bei der Bewertung der erbeuteten Regierungsdokumente war bereits die Zusammenarbeit mit einer Gruppe von (ehemaligen) Regierungsangestellten hilfreich3, die zum Widerstand übergelaufen waren. Diese Zusammenarbeit bewährte sich nun bei der Bahn-Sabotage erneut.

Partisanen

ByPol, eine Organisation (großenteils ehemaliger) Mitarbeiterinnen des belarussischen Sicherheitsdienstes, versucht, die Sabotageaktivitäten zu koordinieren und hat nach eigenen Angaben seit Anfang März sechs große „Partisanenoperationen“ gegen das Schienennetz in Belarus durchgeführt. Eine davon am 19. März – sämtliche Zugverbindungen zwischen Belarus und der Ukraine wurden sabotiert. Die Gleise, die von Brest, Luninets, Kalinkavitchy und Homiel zur Grenze führen, wurden außer Betrieb gesetzt. Die Blockade hielt mindestens vier Tage an.4

ByPol ist eine im Oktober 2020 gegründete Initiative, in der nach eigenen Angaben Hunderte von amtierenden und ehemaligen Sicherheitsbeamten organisiert sind, die sich der oppositionellen Svetlana Tikhanovskaya verpflichtet fühlen und (verdeckt) für den Sturz Lukaschenkos und die Einsetzung einer demokratischen Regierung in Belarus kämpfen. Sie leiten eine internationale Untersuchung der von Lukaschenkos Regime begangenen Verbrechen gegen die Protestbewegung in Belarus. Darüber hinaus versuchen sie, Lukaschenkos Regime aus dem In- und Ausland zu zersetzen und zu sabotieren, um eine Rechtsstaatlichkeit „wiederherzustellen“5. Dabei arbeiten sie u. a. zusammen mit der ebenfalls 2020 gegründeten Gruppe BySol6 zur Unterstützung politisch Verfolgter und Gefangener.

Repressive Abschreckung

Um Sabotageakte zu verhindern, haben die Behörden die Patrouillen an den Bahnanlagen verstärkt und eine Kampagne brutaler Repressionen gegen die Partisanen selbst eingeleitet. Von Anfang an kündigten die belarussischen Sicherheitskräfte an, dass „jegliche Aktionen“ gegen Bahnanlagen als terroristischer Akt betrachtet würden, d. h. die Beteiligten würden eines Verbrechens angeklagt, auf das in Belarus die Todesstrafe steht. Derzeit sind etwa 40 Personen wegen des Verdachts auf Sabotage festgenommen worden.

Das Vorgehen der Sicherheitskräfte zielt darauf ab, die lokale Bevölkerung einzuschüchtern. Der stellvertretende Innenminister Gennady Kazakevich drohte damit, Partisanen zu töten: „Wie Sie wissen, kann man mit Terroristen nicht verhandeln, man kann sie nur vernichten“, sagte er Anfang März. Diese Worte sind keine leere Drohung: Die belarussischen Sicherheitskräfte haben in der Tat einen Freibrief für den Einsatz von Schusswaffen gegen Saboteure erhalten. Ende März wurde berichtet, dass eine Einheit der ‚internen Truppen‘ das Feuer auf Personen eröffnet hatte, die Signalelektrik im Westen von Belarus anzündeten. Niemand wurde verletzt, und die Aktivistinnen konnten entkommen. Am 6. April kam es jedoch zu weiteren Festnahmen, nachdem in den Regionen Bobruisk und Borissow Signalsysteme angezündet worden waren: zwei Personen erlitten Schussverletzungen, eine Person wurde mit einem Messer verletzt.

Das Menschenrechtszentrum Viasna berichtet, dass die Sicherheitskräfte nach Beginn des „Eisenbahnkriegs“ eine Reihe von Razzien in Städten in der Nähe der Sabotageorte – Stolbtsy, Dzerzhinsk und Baranowitschi – durchführten. Die Wohnungen von Personen, von denen bekannt war, dass sie zuvor an Protesten teilgenommen hatten, wurden durchsucht und ihre Telefone überprüft. Hinweise auf oppositionelle Telegram-Kanäle genügten um die Betroffenen in Haft zu nehmen. Zusätzlich haben Sicherheitsdienste gegen belarussische Bahnmitarbeiter ermittelt: Ende März wurden etwa 40 Personen festgenommen. Ihre „Reuevideos“ – in denen sie zur präventiven Abschreckung vor laufender Kamera ihr Bedauern über ihre Taten ausdrückten – erschienen später auf von den Behörden kontrollierten Social-Media-Kanälen. Das einzige Vergehen dieser Personen bestand darin, dass sie einen bestimmten Telegram-Kanal für Eisenbahner abonniert hatten, der von den Behörden als „extremistisch“ eingestuft wurde.

Lukaschenko weiß sehr wohl, wie stark die
Antikriegsstimmung in der belarussischen
Gesellschaft ausgeprägt ist.

Menschen im ganzen Land sind zu freiwilligen Augen und Ohren von Belaruski Gaiun geworden, einem oppositionellen ‚Überwachungsdienst‘, der die Bewegungen der russischen Truppen auf dem belarussischen Territorium, Raketenstarts sowie Starts und Landungen von Militärflugzeugen aufzeichnet. Anton Motolko, der das Meldeportal leitet, sagte in einem Interview, dass täglich etwa 1.000 Nachrichten eintreffen. Aber die Personen, die Informationen an Belaruski Gaiun senden, müssen auch damit rechnen, dass sie strafrechtlich verfolgt werden. Menschen werden verhaftet, weil sie Artikel über den Krieg auf Wikipedia bearbeiten, den Krieg in privaten Gesprächen kritisieren oder einfach nur ein Band mit den Farben der ukrainischen Flagge an einem öffentlichen Ort anbringen.

Verhaftete werden vielfach vor dem Hintergrund der Symbole von Putins Aggression gegen die Ukraine – den Zeichen Z und V – fotografiert und gezwungen, sich vor der Kamera beim „russischen Volk“ zu entschuldigen.

Keine direkte Beteiligung an Kampfhandlungen

Lukaschenko äußerte im November 2021, dass er „im Falle eines Krieges im Donbas“ nicht unbeteiligt zuschauen würde. Tatsächlich wurde im März 2022 die Bewegung belarussischer Einheiten in Richtung der südlichen Grenze beobachtet. Lukaschenko hat bereits mehrfach behauptet, die Ukraine habe ballistische Raketen auf belarussisches Gebiet abgeschossen. Beweise dafür hat er nicht vorgelegt, aber die Äußerungen mussten als Versuch interpretiert werden, den künftigen Kriegseintritt von Belarus zu rechtfertigen. Dennoch gibt es derzeit [18.4.22] keine Evidenz für eine tatsächliche Beteiligung der belarussischen Armee an Kampfhandlungen.

Im März kursierten immer wieder Gerüchte, dass Lukaschenkos Armee kurz vor dem Eintritt in den Krieg gegen die Ukraine stehe. Am 3. März erklärte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte, belarussische Fallschirmjäger hätten angeblich bereits den Befehl erhalten, die Grenze zu überschreiten. Am 11. März behauptete die ukrainische Führung, in der Grenzregion Kopani werde eine russische Provokation vorbereitet, auf die am selben Tag ein Einmarsch der belarussischen Armee folgen werde. Am 20. März meldete das ukrainische Verteidigungsministerium erneut Anzeichen für die Vorbereitung einer belarussischen Invasion; zu diesem Zeitpunkt schätzte der ukrainische Generalstab einen Angriff in der Region Volyn als sehr wahrscheinlich ein. In all diesen Fällen haben sich die Informationen letztlich nicht bestätigt.7

Das wichtigste Kriegshemmnis scheint zu sein, dass Lukaschenko sehr wohl weiß, wie stark die Antikriegsstimmung in der belarussischen Gesellschaft ausgeprägt ist. Umfragedaten von Chatham House von Anfang März zeigen, dass selbst die große Mehrheit der Menschen, die die Diktatur unterstützen, einen belarussischen Einmarsch in die Ukraine nicht befürworten würde. Nur drei Prozent der Befragten der Chatham-House-Umfrage befürworteten eine Beteiligung am Krieg, während 28 Prozent der Befragten der Meinung waren, dass es richtig sei, das Vorgehen Russlands zu unterstützen, ohne direkt in den Konflikt einzutreten.

Eine Armee, die in einer solchen Atmosphäre ‚an der Heimatfront‘ operiert, gilt als unzuverlässig. Schon in Friedenszeiten hatte das Regime in den Augen der meisten Belarussen kaum noch Legitimität. „Es ist keine Tatsache, dass [Lukaschenko] nicht [in den Krieg] eintreten wird“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij am 5. April. „Wir werden es erst am Ende wissen; der Krieg ist noch nicht vorbei. Aber trotzdem muss [Lukaschenko] auf sein Volk schauen. Und das weißrussische Volk ist gegen den Krieg mit der Ukraine.“

Es wird eingeschätzt, dass Lukaschenko eine schwere innere Krise fürchtet, wenn Weißrussland mit eigenen Kampfhandlungen in den Konflikt eintritt. Die breiten Sabotage- und Cybersabotage-Aktionen, als prominenteste Ausdrucksform dieser Ablehnung des Krieges, könnten in dieser Abwägung eine Rolle gespielt haben.

Ende März, als Russland begann, sich aus Kiew und Tschernihiw zurückzuziehen, nahm die Wahrscheinlichkeit einer direkten Beteiligung Weißrusslands an dem Konflikt aus taktischen Erwägungen deutlich ab. Nach Angaben ukrainischer und westlicher Geheimdienste plant das russische Militär, seine Hauptanstrengungen auf den Osten und Süden der Ukraine zu konzentrieren. Die weißrussische Front hat vielleicht nicht mehr die höchste Priorität. Dennoch schließen Militärexperten eine Beteiligung der belarussischen Armee in den nächsten Phasen des Krieges nicht aus.

Guido Arnold ist promovierter Physiker und arbeitet im DISS zum Thema digitalisierte Biopolitik.

1 https://www.liberation.fr/international/europe/au-belarus-les-opposants-a-la-guerre-en-ukraine-engagent-la-bataille-du-rail-20220324_WHTJ2UNNVZHLXI3UMS3WX5WTJM/ Auszüge frei zugänglich unter: https://sansnom.noblogs.org/archives/11299
2 https://twitter.com/cpartisans/status/1485618881557315588
3 https://www.technologyreview.com/2021/08/26/1033205/belarus-cyber-partisans-lukashenko-hack-opposition/
4 https://sansnom.noblogs.org/archives/11299
5 https://bypol.org/en
6 https://www.bysol.org/en/
7 https://www.opendemocracy.net/en/odr/why-belarus-is-yet-to-join-russias-invasion-of-ukraine/

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 43 vom Mai 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.