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Weniger Arzt im künstlich intelligenten Gesundheitssystem

Digitalisierung mit Nebenwirkungen

Von Guido Arnold. Erschienen in DISS-Journal (39) 2020

Online-Sprechstunden beim Arzt per Telemedizin und Gesundheits-Apps auf Rezept – die Digitalisierung des Gesundheitssystems verspricht „zeitgemäßen Service“ für den Patienten. Doch es geht um mehr: Gesundheitsindustrie und Krankenkassen wollen das persönliche Gesundheitsbemühen jedes „Kunden“ erfassen und durch die Einführung von dynamischen Tarifen individuell bepreisen. Der ehemalige Solidargedanke hat ausgedient. Die freie Arztwahl ebenfalls: Künstlich intelligente Gesundheits-Apps sollen zukünftig vorfiltern, wer mit welchem Anliegen (nicht-virtuellen) Zugang zum Arzt bekommt. Insbesondere der Schock der Corona-Krise wirkt wie ein Brandbeschleuniger für die Etablierung weitreichender telemedizinischer und künstlich intelligenter Anwendungen. Es geht um wesentlich mehr als um „Datensicherheit“ oder die Wahrung unserer „Privatsphäre“. Auf diese zu verteidigende, aber vordergründige Ebene wird der öffentliche Diskurs aktuell reduziert. Um die Tiefe des Problems adäquat zu beschreiben, müssen wir von DER fundamentalen Transformation des Gesundheitswesens des 21. Jahrhunderts sprechen. Es geht um einen gigantischen Markt neuer Gesundheitsdienstleistungen in einem biopolitisch neu gerahmten Gesundheits- und Menschen-Bild und es geht um ein dem entsprechendes massives Entsolidarisierungs-Programm. Dieses Programm wäre völlig unzureichend mit einer „Neoliberalisierung“ des Gesundheitswesens beschrieben.

Die Coronakrise als boost für die Telemedizin

Das Versprechen der Telemedizin ist bestechend. Und tatsächlich kann das Anbinden von kleinen regionalen Krankenhäusern an Spezialkliniken per Telemedizin als sinnvoll erachtet werden. So stehen z. B. die Universitätsklinken in Aachen und Münster per Videokonferenzen mit kleineren Krankenhäusern und Arztpraxen in Kontakt, um Fälle in der Intensivmedizin und Infektionspatienten zu besprechen. In Anwesenheit eines Arztes (vor Ort!) wird bei der Untersuchung ein weiterer aus der Spezialklinik dazugeschaltet. Der Start für das Projekt „virtuelles Krankenhaus“ wurde wegen des Bedarfs in der Corona-Krise auf den 29.3.20 vorverlegt und auf 200 angeschlossene Kliniken in NRW erweitert. So kann eine Expertise in verantwortungsvoller Weise hinzugezogen werden, die aus verständlichen Gründen nicht in allen Regionalkrankenhäusern zur Verfügung steht. Ich würde dieses Einsatzgebiet der Telemedizin als unstrittig bezeichnen. Zentral ist die Betreuung des Patienten durch einen lokalen Arzt.

Anders sieht das bei Online-Arztbesuchen aus. Medizinische Videosprechstunden sind technisch nicht aufwändiger als ein Videochat mit jitsi oder zoom. Egal, ob der Arzt gerade in der Praxis, zu Hause oder auf Reisen ist, je ein Laptop mit Kamera und Mikrofon auf Seiten des Arztes und beim Patienten genügen. Der Patient braucht nur seine Krankenkassenkarte in die Kamera zu halten und schon kann es losgehen. Der Tele-Arzt wird durch eine entsprechende Software automatisch dazu angehalten, den Befund während der Sitzung in die elektronische Patientenakte einzutippen. Um die Sicherheit der sensiblen Patientendaten steht es dabei leider schlecht, wie verschiedene Untersuchungen der Telematik-Infrastruktur ergeben haben. Aber das scheint kein Hindernis für deren Nutzung zu sein.

Normalerweise kostet die Nutzung der Software den Arzt monatlich 30–150 Euro. Einige der derzeit 23 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zugelassenen Software-Anbieter verlangen als Lockangebot während der Coronakrise kein Geld für diesen Softwaredienst. Das, was im letzten Jahr nur wenig Zuspruch erfahren hat, entpuppt sich in der Epidemie als attraktives Angebot. Die Anmeldezahlen schnellen nach oben. Niemand setzt sich in Coronazeiten gern in ein Wartezimmer. Ärzte werden mit einer Technikpauschale geködert. Sie können überdies für die ersten 50 Videosprechstunden im Quartal je zehn Euro mehr abrechnen als für ein persönliches Gespräch in der Praxis. Die bisher festgelegte Begrenzung der Onlinekonsultationen auf maximal 20 Prozent aller Patientenkontakte wurde wegen der Corona-Krise bis mindestens zum 30. Juni ausgesetzt.

Das Bewertungs- und Datensammel-Portal Jameda vermittelt nicht nur Videosprechstunden zum eigenen Haus- oder Facharzt, sondern zu beliebigen Ärzten irgendwo in Deutschland. Weil die Wartezimmer vieler Arztpraxen in Coronazeiten weitgehend leer bleiben, bieten einige Ärzte schon für den gleichen oder den Folgetag Videosprechstunden-Termine auch überregional an. Auch Rezepte können nach einer Videosprechstunde ausgestellt werden. Für Privatpatienten geht das manchmal online, allen anderen muss das Rezept bis Ende 2020 noch per Post zugeschickt werden. Mit einer Ausnahmeregelung für die Zeit der Corona-Krise ist es möglich, dass ein Arzt den Patienten, den er noch nie persönlich getroffen hat, bis zu zwei Wochen krankschreibt.

Der Ersatz von realen Arztbesuchen durch telemedizinische Sprechstunden stellt eine gefährliche Tendenz hin zu einem zukünftigen „Vielklassensystem“ dar, dessen Klassen bzw. Tarife eng verknüpft sind mit der Bereitschaft des Patienten, a) intime Gesundheitsdaten zur Verfügung zu stellen und darüber b) das eigene Gesundheitsbemühen bewerten zu lassen. Wir werden sehen, dass die Online-Sprechstunde kein Nebeneffekt einer virologischen Ausnahmesituation, sondern kalkuliertes Ziel eines auf (weiter gesteigerte) Kosteneffizienz reduzierten Gesundheitssystems ist. Auch der Video-Chat mit dem Therapeuten, dessen Offline-Sitzungen während der Kontaktbeschränkung in der Coronakrise nicht stattfinden konnten, muss als Türöffner für eine bedenklich eingeschränkte (Basis-)Gesundheitsleistung auch jenseits der Epidemie verstanden werden.

Gerade für die ärztliche Versorgung in ländlichen Gebieten wird der Verweis auf den Tele-Doktor zu einer noch schlechteren Abdeckung durch ortsansässige Ärzte führen. Es ist zynisch, den für viele Ärzte unattraktiven ländlichen Raum als Argument für die telemedizinische Sprechstunde heranzuziehen. Eine (dort) höhere Vergütung, statt einer Abwertung der Versorgung, sollte das Mittel der Wahl sein. Die bisher geltende freie, nicht-virtuelle Arztwahl ist angezählt.

„Selbstermächtigung“ durch den Quantified-Self-Trend

Begonnen hat alles ganz harmlos mit den Bonus-Tarifen einiger Krankenversicherungen, die ihren Versicherten einen Jahresbonus gewährten, wenn diese ausreichend tägliche Bewegung über einen Schrittzähler (Fitnessarmband, Smartwatch, …) nachweisen. Dahinter steckt die gleiche Idee wie bei der „Blackbox“ der Autoversicherer, die das individuelle Fahrverhalten aufzeichnet und dem Fahrer bei ausreichend defensiver Fahrweise (wenige abrupte Brems- oder Beschleunigungsmanöver) gegebenenfalls einen Bonus auf den zu zahlenden Fahrzeugversicherungstarif anrechnet. Das, was als Bonus begann, soll in individualisierte Tarife, also programmatische Ungleichbehandlung münden. Aus der Ausnahme des Bonustarifs für explizite Sparfüchse wird über wenige Jahre der Regelfall: In neuen Automodellen sind Blackboxes ab Mai 2022 europaweit verpflichtend. Ab 2024 müssen alle Neuwagen damit ausgestattet werden.

Das Anliegen der Versicherer ist simpel: das Filetieren eines immer genauer abschätzbaren Versicherungsrisikos durch immer genauere Verhaltensdaten. Der entsolidarisierende Effekt dieser ausdifferenzierten Tariflandschaft geht aber weit über die Banalität der Versicherungsmathematik hinaus. Der inaktive Couch-Potato wird, wie der unbeliebte Auto-Raser, durch eine teurere Versicherung abgestraft. „Gesellschaftlich unerwünschtes“ Verhalten wird detektierbar, mit einem Malus belegt und damit steuerbar. Wichtig anzumerken ist hierbei, dass die Definition, welches Verhalten im Sinne des Allgemeinwohls als zu belohnen oder zu bestrafen gilt, nicht gesamtgesellschaftlich ausgehandelt, sondern von Versicherungsunternehmen in einer intransparenten (künstlich intelligenten) Bewertungssoftware (variabel) festgelegt wird. Damit lässt sich sehr effektiv Bevölkerungsmanagement betreiben. Und es eröffnet sich ein neuer Markt an „medizinischer“ Hard- und Software zur Selbstvermessung und Selbstoptimierung.

„Wir befähigen das Individuum, seine Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen.“

So der Apple-Chef Tim Cook, 2019 bei der Vorstellung des bislang größten „kardiologischen“ Feldversuchs in den USA unter Mitwirkung der Stanford Universität. 400.000 Applewatch-Nutzer geben nonstop ihre Kreislaufdaten über den in der Uhr verbauten EKG-Sensor weiter. Dieser Puls-Sensor kann angeblich sogar das Infarktrelevante Vorhofflimmern diagnostizieren. Stiftung Warentest attestiert den Fitness-Smart-Watches ein schwaches Abschneiden, sowohl in Bezug auf deren medizinische Genauigkeit, als auch auf den Datenschutz. Ärzte berichten immer wieder von vermeintlich akut herzkranken Smart-Watch-Träger*innen in der Notaufnahme, deren „Leiden“ sich über medizinisch zugelassene Diagnose-Verfahren nicht bestätigen lässt (Der Spiegel v. 21.11.19).

Unbeirrt von der mangelnden medizinischen Aussagekraft der so ermittelten Daten, findet eine wachsende Gewöhnung an die (Selbst-)Quantifizierung des Alltags und an die individuelle Verantwortung um die eigene Gesundheit als zentrale Größe im künstlich-intelligenten Krankenversicherungswesen statt. Diese Form der fremdbestimmten Verhaltenslenkung als „Selbstermächtigung“ zu verkaufen, kann durchaus als „Nudging“ (( (engl.: anstupsen): Die Beeinflussen des Verhaltens von Personen über individuelle Anreize)) verstanden werden. Überhaupt setzt die eingeleitete Transformation des Gesundheitswesens viel weniger auf repressives Verordnen, als auf (ökonomisch) verführendes „Anstupsen“ im Sinne eines neuen Lifestyles, der sich durch ein gefördertes Bemühen um die eigene Gesundheit auszeichnet.

Lifestyle-Medizin als Türöffner

Nachdem viele kleine Startups mit individuellen Online-Ernährungsberatungen und auf den spezifischen Stoffwechsel-Typ ausgerichteten Nahrungsergänzungsmitteln auf dem erweiterten Gesundheitsmarkt vorgeprescht sind, zieht nun auch der Lebensmittelriese Nestlé nach. Mit dem Wellness Ambassador Programm, kann mensch sich für gut 600 Dollar im Jahr nach einem integrierten DNA-Test und der ständigen Übermittlung von Lebens- und Ernährungsgewohnheiten von einer KI individuell optimierte Lebensmittel zusammenstellen lassen. Das Angebot richtet sich insbesondere an eine Klientel mit Diabetes und hohen Cholesterinwerten. Konkret bekommt der Kunde eine individuelle Mischung von Smoothies, Tees und Vitamin-Snacks empfohlen. Das Programm startete nicht zufällig in Japan und erfreut sich insbesondere in Deutschland einer großen Nachfrage. Beide Gesellschaften haben einen hohen Altersdurchschnitt.

Auch andere Anbieter wie mymuesli versprechen über diverse „personalised nutrition“-Programme, mögliche Nährstoffdefizite zu identifizieren – ebenfalls auf Grundlage von DNA- und Ernährungstests. Bei vielen Anbietern gibt es halb-wissenschaftliche Testergebnisse, deren Bedeutung sich für den Kunden nicht unmittelbar erschließt. Wer sich damit überfordert fühlt, kann sich bei der Interpretation mit einem zusätzlich zu bezahlenden Online-Coaching helfen lassen.

Über eine Zweitverwertung der so gesammelten Ernährungsgewohnheiten ist bisher nichts bekannt. Es werden lediglich die Persönlichkeitsrechte im Rahmen der Datenschutzgrundverordnung garantiert.

Ada – die Gesundheitsapp

Am Beispiel des medizin-informatischen Startups Ada lassen sich Umfang und Perspektive der aktuellen gesundheitspolitischen Transformation nachzeichnen. Ada ist zunächst eine App, eine Art Chatbot, der eine Online-Symptom-Analyse auf der Basis einer selbstlernenden KI anbietet. Die App soll „allen Menschen Zugang zur personalisierten Medizin der Zukunft verschaffen“, so Martin Hirsch, Chef des gleichnamigen Kreuzberger Unternehmens Ada.

„Ada stellt dir einfache Fragen und vergleicht deine Antworten mit Tausenden von ähnlichen Fällen, um die wahrscheinlichsten Ursachen für deine Symptome zu ermitteln.“

Mehr als acht Millionen Menschen haben die App bereits heruntergeladen.

Bekannt geworden ist Ada durch einen Datenskandal:

„Alle Daten sind verschlüsselt bei Ada gespeichert und werden niemals ohne Einverständnis mit Dritten geteilt“,

versprach die Ada Health GmbH auf der Webseite zur App. Dem ist nicht so. Ein Mitarbeiter der Heise-Redaktion gibt im Dezember 2019 zu Testzwecken „Inkontinenz“ in die Maske der Diagnose-App ein. Die Information wird jedoch nicht nur an Ada übermittelt, sondern auch an den Analysedienst Amplitude mit Hauptsitz in San Francisco. Der übertragene Datensatz umfasst insgesamt über 2.000 Zeichen, darin enthalten sind neben der Inkontinenz auch eine User-ID, der Zeitpunkt, das verwendete Betriebssystem, die Android Werbe-ID und vieles mehr. Auch die anschließend abgefragten Symptome werden übermittelt. Parallel dazu läuft eine Verbindung zu Facebook und zur Analysefirma Adjust. Auch hier werden persönliche Daten übermittelt. ((Detaillierte Analyse: https://www.heise.de/select/ct/2019/23/1573230323059682 ))

„Es ist generell schwierig, die Privatsphäre im digitalen Bereich aufrecht zu erhalten“, so Stefan Vilsmeier von der Firma Brainlab, die digitalisierte Chirurgie-Lösungen anbietet und eine Art App-Store für medizinische KI-Anwendungen entwickeln will. Der bayrische Ministerpräsident Söder geht noch einen Schritt weiter: „Gesundheitsdaten müssen aus den Fängen des Datenschutzes befreit werden.“ Ein Blick in die USA zeigt, wie selbstbewusst Google diese „Befreiung“ vorantreibt.

Googles Projekt Nightingale

Google arbeitet in den USA seit 2018 mit der Gesundheitsorganisation Ascension zusammen, die 150 Krankenhäuser und Tausende Arztpraxen betreibt. Gesundheitsdaten von mehr als 50 Millionen Menschen sollen bereits auf Googles Servern gelandet sein. Das umfasst Laborergebnisse, ärztliche Diagnosen, Behandlungsverläufe und Krankenhausaufenthalte – nicht etwa anonymisiert, sondern verknüpft mit Namen und Adressen der Patienten. Google-Mitarbeiter haben vollen Zugriff auf diese Daten.

Google entwickelt eine Software, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen vorschlägt, wie sich die Versorgung einzelner Patienten verbessern lässt. Es soll eine gewaltige Patientendatenbank entstehen, die optisch an Googles Suchmaschine erinnert. Die Software vervollständigt automatisch Eingaben zu den Patientennamen, die mit sämtlichen gespeicherten Gesundheitsdaten verknüpft sind. Ärzte sollen nicht nur individuelle Informationen einsehen, sondern grafische Zeitverläufe erstellen und Datensätze miteinander vergleichen können. Google hofft, diese Infrastruktur künftig an andere Gesundheitsdienstleister verkaufen zu können. All das geschieht, ohne dass die betroffenen Patienten zugestimmt haben.

Im November 2019 hatte sich ein Google-Mitarbeiter dazu entschieden, als Whistleblower geheime Dokumente über das Projekt Nightingale zu veröffentlichen. Aus diesen geht hervor, dass Google sogar die aus der Kooperation abgeschöpften Gesundheitsdaten selbst „zukünftig teilen oder verkaufen und für das Bewerben entwickelter Gesundheitsprodukte nutzen“ will.

Die öffentliche Debatte verbleibt jedoch an der Oberfläche, wenn sie mit Ada und Nightingale (und vielen weiteren „Einzelfällen“) den exzeptionellen „Datenunfall“ skandalisiert und das dahinter liegende (gewöhnliche) Geschäftsmodell als unproblematisch anerkennt. Das Problem residiert im Regelfall, nicht im Störfall! Der Markt für KI-basierte Gesundheitsanwendungen und -produkte expandiert massiv und benötigt für das Trainieren der KI detaillierte Datensätze. Deren Wert steigt.

Wachsender Gesundheitsmarkt

Nachdem Apple, Google, Amazon, Facebook und Microsoft erkannt haben, dass „Gesundheit fast überall auf der Welt der größte oder zweitgrößte Sektor der Wirtschaft [ist]“ (Apple Chef Tim Cook in einem Interview mit dem Magazin „Fortune“ im Herbst 2017 ((http://fortune.com/2017/09/11/app-le-tim-cook-education-health-care/)) ), investieren sie Milliarden in die Biotech-Forschung und versuchen mit Hochdruck erweiterte Gesundheitsdienste in ihre Softwareumgebungen zu integrieren. Das Smartphone soll dabei zur neuen persönlichen Gesundheitszentrale avancieren, in seiner Funktionalität erweitert durch Zusatzgeräte wie Fitness-Armbänder oder Smart-Watches. Amazon nähert sich dem vielversprechenden Gesundheitsmarkt gleich auf drei Weisen. Der Konzern wird nicht nur Krankenversicherung, sondern plant, auch gleich Apotheke und Pharma-Unternehmen zu werden. Warum? Krankenversicherungen preisen das Risiko ein, krank zu werden. Je vielfältiger und je genauer die Kenntnis der Versicherung über die Gewohnheiten des Versicherten ist, desto exakter lässt sich dieses Risiko berechnen. Ein Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz. Daher liegt es nahe, dass Google und Amazon sich in diesem Geschäft behaupten könnten – die fehlende Expertise im Versicherungswesen lässt sich einkaufen.

Der Wert personalisierter Patientendaten variiert stark, aber er steigt. Im Schnitt sind medizinische Daten zehnmal mehr wert als Kreditkartendaten. ((https://www.althammer-kill.de/news-de-tail/gesundheitsdaten-sind-wertvoller-als-fi-nanzdaten/)) Gesundheitsdaten sind unwiderruflich, unabänderbar und damit viel länger nutzbar. Spätestens als die amerikanische Roche-Tochter Genentech für 3000 Datensätze 60 Mio. US-Dollar ans Startup-Unternehmen 23andMe bezahlte, wurde offensichtlich, wie wertvoll Patientendaten sind. Die Angaben stammten von 600.000 Personen, die für 99 US-Dollar einen Gentest kauften, ihre Einwilligung gaben, dass die Daten für Forschungszwecke verwendbar sind, und bei denen ein häufig bei Parkinson-Erkrankungen auftretendes Genom entdeckt wurde.

Nach dem im November 2019 in Deutschland verabschiedeten „Digitale-Versorgung-Gesetz“ (((DVG, 19/13438) )), sollen nun seit dem 1.1.2020 sensible Daten der elektronischen Patientenakte zentral zusammengefasst werden, um sie dann „pseudonymisiert“ Behörden, Forschungseinrichtungen und Universitätskliniken zur Verfügung zu stellen. Die Zusammenführung der Daten trotz der nachgewiesenen Sicherheitsmängel in der veralteten Telematik-Infrastruktur sowie das Fehlen einer Opt-Out Möglichkeit für die 73 Mio. gesetzlich Krankenversicherten sind heftig und breit kritisiert worden. Dennoch lautet der gesetzliche Beschluss: Es besteht kein Recht sich einer Verwertung der sensibelsten aller Daten zu verweigern. Somit besteht die ernst zu nehmende Gefahr, dass Krankenkassen oder Dritte Gesundheitsprofile anlegen.

Zentraler Player: Bertelsmann

Die hundertprozentige Bertelsmann-Tochter Arvato ist für viele deutsche Behörden zentraler IT-Dienstleister. Das Gesundheitsministerium hat Arvato damit beauftragt, die für die elektronische Gesundheitsakte notwendige Telematik-Infrastruktur ((Im Dezember 2019 gelang dem Chaos Computer Club ein spektakulär einfacher Hack des Systems, welches bereits jetzt sensible Patientendaten übermittelt. Sicherheitsforschern ist es gelungen, sich gültige Heilberufsausweise, Praxisausweise, Konnektorkarten und Gesundheitskarten auf die Identitäten Dritter zu verschaffen. Mit diesen Identitäten konnten sie anschließend auf Anwendungen der Telematik-Infrastruktur und Gesundheitsdaten von Versicherten zugreifen. (siehe https://www.ccc.de/de/updates/2019/neue-schwachstellen-gesundheitsnetzwerk) )) bereitzustellen und zu verwalten. Zudem ist Arvato nach der Übernahme von welldoo ((Welldoo ist ein Gesundheitsapp-Entwickler vor dessen Daten(un)sicherheit der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe 2015 explizit gewarnt hatte.)) unter dem neuen Namen Vilua selbst Gesundheitsdienstleister geworden. Darüber hinaus betreibt Arvato den Finanzdienst Infoscore, der seit 2005 (neben der Schufa) von vielen Banken zur Ermittlung der Kreditwürdigkeit herangezogen wird. Infoscore schlägt Finanzakteuren nicht nur vor, ob ein Kunde einen Kredit erhalten soll – Infoscore berechnet aus den vielen persönlichen Daten des Kunden einen dem Kreditrisiko angemessenen Zinssatz. Diese unternehmerische Verflechtung von Gesundheits- und Finanzdienstleistungen ist ein abenteuerliches Risiko hinsichtlich der zweckgebundenen Trennung beider Datenbanken. Arvato beteuert, dass beide Unternehmensbereiche durch eine „chinesische Mauer“ voneinander getrennt seien. Wenig glaubwürdig, denn Arvato hatte zuvor ebenfalls garantiert, dass ihre für die DB Fahrpreisnacherhebung gepflegte Datei von „Schwarzfahrern“ nicht in die infoscore-Datenbank einfließen würde. Fehlanzeige – das Unternehmen gab kleinlaut zu, die Erkenntnisse für die Ermittlung der Kreditwürdigkeit mitgenutzt zu haben. Solche (unglaubwürdigen) Separierungs-Versprechen kennen wir ebenfalls von der WhatsApp-Übernahme durch Facebook: Trotz gegenteiliger Zusicherung führte Facebook seine Datenbank nach nur zwei Jahren mit der von WhatsApp zusammen.

Bertelsmann nimmt darüber hinaus über seine gleichnamige Stiftung Einfluss auf die Entwicklung der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Im Sommer 2019 veröffentlichte Brigitte Mohn als Vorsitzende der Bertelsmann Stiftung eine Studie ((https://www.bertelsmann-stiftung.de/fi-leadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/VV_Bericht_KH-Landschaft_fi-nal.pdf)) zur Reduzierung der Krankenhäuser in Deutschland. 1960 gab es allein in Westdeutschland 3600 Krankenhäuser. Die Zahl hat sich auf derzeit 1400 bundesweit reduziert. Die Autoren fordern, die Zahl der Krankenhäuser noch einmal drastisch zu senken, auf bundesweit 600. Wie fragwürdig ein weiteres Reduzieren von Krankenhauskapazitäten zugunsten einer profitablen Gesundheitsversorgung erscheint, bedarf in Zeiten des Coronavirus keiner weiteren Ausführung. Dass Brigitte Mohn zusätzlich im Aufsichtsrat der Rhön-Klinik Kette sitzt, sei nur am Rande erwähnt.

Smartes Vorfiltern

Die Uniklinik in Essen bezeichnet sich selbst als „Smart Hospital“. Sie nutzt Ada für die „Triagierung“ von Patienten in der Notaufnahme. Das bedeutet, der Chatbot von Ada soll die dringenden Fälle von denen, die länger warten können, trennen. Ein ähnlicher Test läuft an der Uni Gießen-Marburg. Genau das ist die Perspektive vieler Krankenkassen, die schon jetzt offenbaren: „Der Goldstandard der freien Arztwahl ist nicht mehr zu halten“. Die Kostensteigerung sei zu groß. Ebenso wie die vermeintlichen Einsparpotenziale des digitalisierten Gesundheitswesens. So soll ein künstlich intelligentes System basierend auf den individuellen Patientendaten zukünftig fallspezifisch entscheiden:

Der althergebrachte, „zu teure“ analoge Arztbesuch soll auf ein Minimum reduziert werden. Der damit einhergehende Qualitätsverlust in der Gesundheitsversorgung wird billigend in Kauf genommen und hinter der Werbung für ein „zeitgemäß digitales“ Gesundheitsmanagement versteckt. Die durch das „Digitale-Versorgung-Gesetz“ geförderte Verschreibung von „Gesundheits-Apps“ leistet einer solchen Virtualisierung von Gesundheits(dienst)leistungen Vorschub. Die Verabreichung von Apps als medizinische Produkte auf Rezept ist eine nicht zu unterschätzende Finanzierungshilfe für medizinische Start-Ups und soll eine bedenkliche Appifizierung der Diagnose- und Behandlungs-Me-thoden forcieren. Es ist bezeichnend, dass die Qualitätskontrolle des bereits mehrere Hunderttausend Apps umfassenden Zoos an „medizinischen“ Beratungsapps erst im nächsten Jahr „nachgereicht“ werden soll.

In den USA sind offenbar Millionen Afroamerikaner bei der medizinischen Versorgung benachteiligt worden. Laut einem Bericht des Wissenschaftsmagazins Science ((https://science.sciencemag.org/content/366/6464/447)) hat eine weit verbreitete Software weißen Patienten eher eine teure medizinische Behandlung zugesprochen als schwarzen. In dem Bericht heißt es, dass der Algorithmus jedes Jahr für rund 200 Millionen (versicherte) Patienten in den USA ausrechnet, ob eine Sonderbehandlung für sie infrage kommt. Die Software wird unter anderem von Krankenhäusern und Versicherungen eingesetzt, um automatisiert Patienten zu identifizieren, die am ehesten von aufwändigen und damit auch teuren Behandlungen profitieren würden. Das Problem liege an den Daten, mit denen der Algorithmus arbeitet. Als Grundlage für die Berechnung eines Risikofaktors habe der nämlich die Behandlungskosten eines Patienten genommen: Wer im Laufe des Jahres mehr Geld für medizinische Betreuung ausgibt, hat eine höhere Risikobewertung. Das System geht davon aus, dass höhere Behandlungskosten dafür sprechen, dass eine Person mehr medizinische Hilfe benötigt.

Laut der Studie nehmen Afroamerikaner in den USA weniger medizinische Behandlungen in Anspruch. Im Schnitt liegen die Behandlungskosten um 1801 Dollar im Jahr niedriger als für einen vergleichbar kranken Weißen. Ursachen für die geringeren Behandlungskosten von Afroamerikanern sind laut dem Bericht unter anderem Armut und Rassismus. Die Folge: Afroamerikaner müssen kranker sein, damit die Software einen höheren Risikofaktor erkennt, der zusätzliche Unterstützung rechtfertigt. Demnach habe der Algorithmus nur 17,7 Prozent der dunkelhäutigen Patienten eine zusätzliche Behandlung zugestanden. Laut Forschern würde der Anteil bei 46,5 Prozent liegen, wenn die Software ohne Benachteiligung rechnen würde.

Vollständig personalisierte Medizin & permanente Vorsorge

Bei Bluthochdruck Mittel A, bei Herzschwäche Mittel B: Dass Patienten mit gleicher Krankheit meist die gleiche Medikation erhalten, soll bald der Vergangenheit angehören. Dazu braucht die Pharmabranche massenhaft Patientendaten. Sie sollen aus Studien, Apps und Arztpraxen kommen. Ärzte sollen nun mehr und mehr auf die elektronische Patientenakte umstellen, damit diese Daten en passant anfallen. „Wir können in den nächsten Jahren mit einer Explosion an Daten rechnen“, sagt Anne-Marie Martin, Leiterin der Präzisionsmedizin bei Novartis. Die Analyse massenhafter Daten soll Zusammenhänge aufzeigen, die bis dahin unbekannt waren. Bestimmte Gen- oder Zelleigenschaften, Alter, Gewicht, eine Vorerkrankung, andere Medikamente, Wohnort, Ethnie oder die Uhrzeit der Einnahme könnten Einfluss haben, ob ein Mittel wirkt oder nicht. Big Data soll die Unkenntnis der Wirkungsweise durch die schiere Masse an Daten erschlagen – so die Hoffnung der Technokraten, die eine vollständig personalisierte Medizin herbeisehnen. ((Auch hier „hilft“ das Digitale-Versorgung-Gesetz, nach dem ein Arzt nur noch geringere Kosten abrechnen kann, wenn er sich der digitalen Datenerfassung entzieht, also weiter „analog“ mit den Krankenkassen kommuniziert und sich nicht über die (nachweislich unsichere) Telematik-Infrastruktur vernetzt. Gesundheitsminister Spahn: „Ich werde die Telematik und die elektronische Patientenakte vorantreiben, Hacker hin oder her.“))

Eines Tages werde jeder Bürger sein Genom entschlüsseln lassen, so Ada-Chef Martin Hirsch. „Dann wird Ada in der Lage sein, aufgrund des Gentests und der jeweils neuesten medizinischen Erkenntnisse genaue Ratschläge zu erteilen, was man tun oder unterlassen kann, um gesund zu bleiben.“

Diese Vorstellung deckt sich mit der Zukunftsvision von Google: Im Mai 2018 sickerte ein internes Firmenvideo ((Geleaktes Firmenvideo von Google: https://vimeo.com/27071396938)) der Forschungsabteilung Google X in die Öffentlichkeit. Unter dem Namen „The selfish ledger“, was sich ungelenk mit dem „Buch des Lebens“ übersetzen lässt, beschreibt Google seine Zukunftsvision einer bevormundenden Gesundheitsvorsorge. Ein persönliches Journal „sämtlicher Handlungen, Entscheidungen, Vorlieben, Aufenthaltsorte und Beziehungen“ ist die Grundlage für ein System digitaler Assistenz, das KI-basiert auf jeden Einzelnen zugeschnittene „Handlungsempfehlungen“ ausspricht. Google verspricht perspektivisch Armut und Krankheiten überwinden zu können unter der freimütig vorgetragenen Bedingung: die Aufgabe der freien Entscheidung. Nur dann ließen sich effektiv „potentielle Fehler im Verhalten der Nutzer detektieren und korrigieren“.

Microsoft Chef Bill Gates treibt seit Jahren maßgeblich die Initiative ID2020 voran. Hierbei geht es um eine digitale ID auf Basis der Blockchain-Technologie ((Die Blockchain soll hier eine selbstkonsistente, verteilte Speicherung der persönlichen Daten ohne zentrale Behörde ermöglichen. Es handelt sich (grob gesagt) um das dezentrale Speichern der Daten an vielen Orten, um ein hohes Maß an Fälschungssicherheit zu garantieren.)) – eine Art Personalausweis, in dem sämtliche bekannten Daten über das Leben eines Menschen (vergleichbar mit Googles ledger) gespeichert werden. Die Corona-Pandemie kann nach Vorstellung der Gates-Foundation der Einführung eines solchen globalen Registers Auftrieb verleihen: Sobald ein Impfstoff vorhanden ist, ließe sich ein Impfgebot umsetzen. Die Funktion eines Impfregisters, wäre dann der einführende Basisbaustein für die ID2020. Eine Anwendung dieses Registers: individualisierte Zugangsbeschränkungen in Abhängigkeit eines Immunitätsnachweises. Die Nutzung der ID als global lesbare Patientenakte – ein nächster angedachter Schritt über den geregelt werden kann, wer Anspruch auf welche Gesundheitsleistungen hat.

Der Anwendungsbereich der ID geht jedoch weit über den Gesundheitssektor hinaus. Im Sinne eines „human capital investment“ soll die ID Aufschluss über „persönliche Potenziale und Schwächen“ geben. Zum Beispiel könne die Förderungswürdigkeit eines Menschen hinsichtlich seiner (Aus-)Bildung – gemäß der Initiatoren dieser „allumfassenden“ Akte – über die erkennbare Leistungsbereitschaft ermittelt werden. Dazu werde dann nicht mehr nur die detailliert festgehaltene Ausbildungshistorie herangezogen; eine KI solle vielmehr aus sämtlichen Handlungen, Überzeugungen und Wünschen statistische Muster für ein ungleich „genaueres Abbild“ des persönlichen Bemühens erkennen lassen.

Selbstbewusst stellt Google in Aussicht: „Noch passen sich die Systeme ihren Nutzern an. Dieses Verhältnis wird sich bald umkehren.“ Die diesen Ansichten zugrundeliegende, erschreckend totalitär anmutende Sicht auf eine vermeintlich bessere Welt in Bevormundung durch künstlich intelligente Expertensysteme, knüpft nahtlos an die Vorstellungen von Skinners Behaviorismus an. Dieser geht angesichts zu komplexer Lebensverhältnisse von einer notwendigen Verhaltenssteuerung andernfalls nicht-rational handelnder Individuen aus – ein längst überwunden geglaubtes, zutiefst paternalistisches und im Einklang mit Chinas Social-Scoring-Systemen erschreckend „aktuelles“ Menschenbild.

Guido Arnold ist promovierter Physiker und arbeitet im DISS zum Thema Entsolidarisierung durch digitale Transformation des Gesundheitssystems.