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Der römische Coup der Verfassungsväter

Rezension von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal (39) 2020

Am erstaunlichsten an Michael J. Klarmans fast 900 Seiten umfassenden Werk The Framers‘ Coup: The Making of the United States Constitution ((Ich stütze mich auf die Rezension von Gregory Richard (Winona State University) unter http://www.h-net.org/reviews/show-rev.php?id=49124.)) ist wohl die Tatsache, dass niemand vor ihm die Entstehung der US-Verfassung wirklich genau untersucht hat. Nicht weniger erstaunlich aber ist die Erkenntnis, die Klarman schon im Titel andeutet, dass nämlich jene, die an der Entstehung beteiligt waren, teilweise chaotisch improvisierten und waghalsige Entscheidungen trafen, meist gegen den Rat der etablierten politischen Ratgeber – Klarman nennt das Ergebnis daher einen Coup.

Und eine dritte Besonderheit: Obwohl die Verfassung teilweise deutlich die Spuren ihrer Entstehung trägt und auch sichtbare Irrtümer und Fehler hat, führte ihr massives Erscheinungsbild die Betrachter schnell in Versuchung, nach dem schlechten Beispiel des absolutistischen Europa von einem ‚göttlich inspirierten‘ Dokument zu sprechen.

Die äußeren Bedingungen waren denkbar kompliziert und ungünstig: Der Unabhängigkeitskrieg war letztlich nur aufgrund der losen konföderalen Struktur der 13 Staaten erfolgreich gewesen und daher sprach nichts dafür, dass sich die über 50 aus den Staaten zusammentreffenden und zerstrittenen Delegierten schließlich zu einer nicht-öffentlichen Klausur entscheiden würden, um dort einen völlig anderen als einen ‚konförderalen‘ Entwurf zu entwickeln.

Klarman führt in der Art eines peniblen Tagebuchs durch den Entscheidungsprozess und stellt dabei die handelnden Personen in biographischer Dichte dar. Es stellt sich heraus, dass diesen bewusst wurde, dass die fundamentalen Interessen- und Traditionsgegensätze zwischen den 13 Staaten, dass aber auch umgekehrt das Postulat der Kooperation und einer Wirtschaftsunion zwischen ihnen nicht ohne eine starke, sogar sehr Staatsregierung möglich sein würde.

Statt also einen Reformplan für die wacklige Konföderation vorzulegen, handelten die Delegierten hinter verschlossenen Türen ein austariertes republikanisches Machtmodell aus, wobei sich deutlich die Bildungstraditionen des alten Europa zu Wort meldeten – der Entwurf trägt die Züge der von Patriziern dominierten, aristokratischen Struktur der Römischen Republik, wie sie sich u.a. auch im späteren gigantischen Lincoln-Memorial oder im Namen ‚Capitol‘ niederschlägt und aus der wohl auch die Praktiken der Feierlichkeit und der Reverenz abgeleitet sind, ganz im Gegensatz oder zusätzlich zur christlich-jüdischen Inszenierung des Hill, des Neuen Jerusalems. Auch die Französische Revolution und mit ihr der ‚Konsul‘ Napoleon sollten die römisch-republikanische Inszenierung wenige Jahre später direkt übernehmen. Was wiederum die Verhandlungen in Philadelphia betrifft, sollte die Schwere des Erscheinungsbildes wohl auch davon ablenken, auf welchen schmalen Grat die neue Identität gebaut war – man sieht ihr nicht mehr an, dass sie vor allem von drei politischen Hypotheken begleitet wurde, zum einen von der wirtschaftlichen Talfahrt nach dem Unabhängigkeitskrieg, zum anderen von den konträren Interessen zwischen den kleinen (Rhode Island) und den großen Staaten und drittens von dem tiefen Dissens zwischen den Nord- und den Südstaaten, sprich: in der Frage der Sklaverei.

Klarman arbeitet heraus, dass diese Frage den Delegierten sozusagen als das Unsagbare bewusst war und gerade weil die Frage zentral war, sie sich nicht sichtbar niederschlug. Erst einen Bürgerkrieg später, also erst nach weiteren, knapp 90 Jahren, hob der Oberste Gerichtshof sie fürs gesamte Staatsgebiet auf.

Wie es scheint, werden in der Ära Trump die zentrifugalen Kräfte, die die US-amerikanische Nation offenbar noch immer kennzeichnen, insbesondere im Kampf um die Verfassung deutlich, d.h. um ihre Deutungshoheit und in Versuchen, sie im Interesse des ‚weißen‘ Amerika, der Zentralgewalt unterzuordnen. Auf der einen Seite steht das Szenario, dass dieser ‚Coup‘ gelingt, auf der anderen Seite, wenn er misslingt, steht die Aussicht auf eine Neujustierung im Interesse der großen Menschheitsfragen.

Michael J. Klarman
The Framers‘ Coup: The Making of the United States Constitution
New York: Oxford University Press, 2016
880 pp. $ 39.95 (cloth)
ISBN 978-0-19-994203-9

Jobst Paul ist Mitarbeiter des DISS mit den Themenschwerpunkten Diskurs-, Rassismus- und Antisiemitismusforschung