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Das Europabild der AfD

Von Helmut Kellershohn. Erschienen in DISS-Journal 37 (2019)

In ihrem neuesten Programm, dem Europawahlprogramm 2019, knüpft die AfD an ihre bisherigen Vorstellungen einer Renationalisierung der Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik nahtlos an. Sie lehnt einen „wie auch immer gearteten“ europäischen „Gesamtstaat“ (EP 7), einen „europäischen Superstaat“ (EP 11) „mit Gesetzgebungskompetenz und einer eigenen Regierung“ (EP 11) ab. Zur Begründung verweist sie darauf, dass es für ein „solches Gebilde weder ein Staatsvolk“ gebe, noch dass dieses Gebilde „über das erforderliche Mindestmaß an kultureller Identität“ (EP 7) verfügen würde. Die europäischen „Kulturen, Sprachen und nationale[n] Identitäten“ seien „durch Jahrhunderte dauernde, geschichtliche Entwicklungen entstanden“ (EP 11), eine europäische Identität sei daher eine „Illusion“ (EP 11). Im Gegenteil beruhe die „politische, ökonomische und soziale Stärke Europas“ gerade auf „der Vielfalt der nationalen Kulturen und Traditionen“ (EP 11). Die AfD macht sich also die ethnopluralistische Argumentation der Neuen Rechten zu eigen, um gegen die „Idee der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘“ zu polemisieren. Die AfD wendet sich gegen diese Idee, deren Realisierung ja noch in weiter Ferne liegt, um bestimmte Entwicklungen, die ihrer Meinung nach in diese Richtung weisen könnten, in ihrem Europa- Programm zu kritisieren. Andererseits unterbreitet sie eine Gegenidee, die sich am gaullistischen Ideal eines „Europas der Vaterländer“ oder, wie es auch heißt, an einer „europäischen Gemeinschaft souveräner Staaten“ (EP 7) orientiert. Die Kritik an – aus der Sicht der AfD – unerwünschten Entwicklungen in der EU nimmt also gleichzeitig die Rückbildung der EU in Richtung eines „Europa[s] der Nationen“ (Kapitelüberschrift, EP 10) ins Visier. Mit dieser Zweigleisigkeit will die AfD mögliche Entwicklungslinien der EU verhindern, um gleichzeitig, wenn die Rückbildungsstrategie, die sie als „Reform“-Strategie (EP 11) deklariert, keine Erfolge („in angemessener Zeit“, EP 12) zeitigt, eine Legitimationsgrundlage zu haben, um die Auflösung der EU in ihrer jetzigen Form zu betreiben: Dann halte man „einen Austritt Deutschlands [DEXIT genannt; H.K.] oder eine geordnete Auflösung der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig“ (EP 12). Der ‚schwarze Peter‘ läge dann bei den politischen Kräften in Europa, die die EU angeblich zu einem „Superstaat“ formen wollen.

Deutlicher, weniger verklausuliert als gegenüber der EU argumentiert die AfD hinsichtlich des Euro: „Der Euro ist für ein Wirtschaftsgebiet mit derzeit 19 völlig unterschiedlich leistungsfähigen Volkswirtschaften eine Fehlkonstruktion und kann in dieser Form ökonomisch nicht funktionieren.“ (EP 30) Die AfD verlangt daher die „Wiedereinführung der nationalen Währungen“, gegebenenfalls unter „paralleler Beibehaltung des Euro“ (EP 30).

Europa der Nationen

Wie sieht nun die Gegenidee einer „Gemeinschaft souveräner Staaten“ bzw. eines „Europa der Nationen“ näher aus? – Die AfD geht davon aus, dass „Volkssouveränität und Grundrechte der Bürger“ ausschließlich „in nationalen Staaten mit demokratischer Verfassung“ (EP 11) gewährleistet seien. Demgegenüber habe sich die EU „zu einem undemokratischen Konstrukt entwickelt, das von den politischen Akteuren Europas besetzt ist und von intransparenten, nicht kontrollierten Bürokratien gestaltet wird“ (EP 11). Alle Schritte, die zukünftige Gestaltung Europas betreffend, müssten daher durch Volksabstimmungen in den betreffenden Staaten legitimiert sein (EP 13), ohne dass es zu Souveränitätseinbußen kommen dürfe. Dies vorausgesetzt strebt die AfD ein Europa an, das als „Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner Staaten“ (EP 11), basierend auf „multilateralen Staatsverträgen“ und „partnerschaftlicher Kooperation“ (EP 12), ((Die AfD betont selbst, dass „die EU […] nach ständiger Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts kein Staat“ (EP 23) sei. Gleichwohl, so heißt es anderer Stelle, geriere sich die EU illegalerweise als „Bundes-Staat“ (EP 29).)) deklariert wird. Gewährleistet sein sollten „insbesondere ein möglichst unbehinderter Binnenmarkt“ (EP 7), allerdings unter Einschränkung der EU-Personenfreizügigkeit (EP 41), und nach außen hin „Freihandel und offene Märkte“ respektive der Verzicht auf „protektionistische Bestrebungen“ (EP 21). In der Forschungs- und Technologiepolitik werden paneuropäische Projekte empfohlen, so z.B. „bi- und multilaterale Forschungsprojekte zwischen einzelnen Staaten“ (EP 81) wie CERN oder „die Stärkung europäischer IT-Kompetenzen […] mit dem Anspruch weltweiter Technologieführerschaft“ (EP 86).

Für eine solche „Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ wäre die bisherige Gesamtarchitektur der EU auf ein Maß zurück zu schrumpfen, das an die frühere Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erinnert. Die gegenwärtigen EU-Institutionen und Vergemeinschaftungsformen würden entweder wegfallen, wie z.B. das „undemokratische EU-Parlament“ (EP 12) oder die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) (EP 17), oder umgebaut werden, wie z.B. der Europäische Gerichtshof, der „die Aufgaben eines supranationalen Schiedsgerichts wahrnehmen“ (EP 13) solle.

Führungsrolle Deutschlands

Neben der Betonung des Souveränitäts- und Subsidiaritätsprinzips fällt auf, dass die AfD für „Deutschland eine Führungsrolle innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft“ beansprucht, die es „verantwortungsbewusst annehmen“ (EP 17) sollte. Durchgehend werden „deutsche Interessen“ in den Vordergrund gestellt. So  wird eine „an deutschen Interessen ausgerichtete Außenpolitik“ (EP 17) eingefordert. Im deutsch-französischen Verhältnis seien deutsche Interessen „bei der Zusammenarbeit künftig […] viel stärker zu berücksichtigen“ (EP 17). Die Ablehnung einer „europäischen Armee“ – einschließlich der bereits eingeleiteten Maßnahmen, die in diese Richtung weisen – verbindet die AfD mit der Forderung nach einer „Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO, um hier Deutschlands Rolle und Einfluss zu erhöhen“ (EP 19). Bei Rüstungskooperationen müsse Deutschland in technologischer Hinsicht die „Systemführerschaft“ (EP 20) anstreben.

In der Umweltpolitik, um ein anderes Bespiel herauszugreifen, müssten sich Maßnahmen „zuerst an nationalen Gegebenheiten und Bedürfnissen orientieren“ (EP 43), beispielsweise dürften die Festlegung von Grenzwerten und die Umstellung auf Elektromobilität nicht auf Kosten der Wettbewerbsvorteile „der deutschen Automobilindustrie“ gehen, die „zu einem Großteil zum Wohlstand in Deutschland“ (EP 84) beitrage. Überhaupt müssten deutsche „Qualitätsstandards und Herkunftsangaben“ wie das „Made in Germany“ gestärkt werden.

Auch in kultureller Hinsicht fordert die AfD eine Offensive. Es gelte, die „deutsche Hochsprache und die historisch gewachsenen regionalen Dialekte als immaterielles Kulturerbe der Menschheit langfristig zu erhalten“ (EP 75). Der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse müsse europaweit beworben und die deutsche Sprache „in den europäischen Institutionen […] gemäß ihrer rechtlichen Stellung und ihrer großen Verbreitung auch de facto den Verfahrenssprachen Englisch und Französisch gleichgestellt werden“ (EP 75). Und „für die deutschen Minderheiten in aller Welt“ verlangt die AfD ein stärkeres Engagement der deutschen Außenpolitik, so auch auf dem Feld der „Erhaltung und Förderung der deutschen Sprachkenntnisse“ (EP 76).

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Europaprogramm in der Kontinuität der bisherigen Bundesprogramme seit 2016 steht. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Konturierung eines „nationalen Wettbewerbsstaates“, dessen Souveränitätsanspruch als Grundlage einer „Wirtschaftsund Interessengemeinschaft souveräner Staaten“ in Europa von allen beteiligten Staaten in multilateralen Verträgen anerkannt wird. Europa wäre im Wesentlichen eine Freihandelszone mit reduzierten politischen Institutionen, die für die Regelung gemeinsamer Interessen zuständig wären. Dass die Definition dieser gemeinsamen Interessen Sache vor allem der „Führungs“-Macht Deutschland wäre – davon geht die AfD offensichtlich aus.

Feindbild Islam

Eine zweite Anerkennungslinie wäre identitätspolitischer Natur: Sie bezöge sich auf die wechselseitige Anerkennung der nationalen Identitäten und deren vorgeblichen Verankerung in Geschichte, Kultur und Sprache. Auch in diesem im Prinzip völkisch strukturierten, ethnopluralistischen Gebilde (mit den drei Ebenen Europa, Nation, Region) würden gemeinsame Belange verhandelt werden, vor allem in Bezug auf die „drohende Islamisierung Europas“ (EP 52) oder die Rückführung von Geflüchteten. Diesbezüglich erachtet es die AfD dann doch für sinnvoll, entgegen ihrer Behauptung, eine europäische Identität sei eine „Illusion“, von einem Mindestmaß an gemeinsamen „Prägungen“ und „Grundprinzipien“ auszugehen. ((Entgegen der Illusions-These heißt es allerdings an anderer Stelle des Europa-Programms, dass die AfD „die Bemühungen der Visegrád- Staaten zur Erhaltung der europäischen Identität“ (EP 17) unterstütze.))  So sei Europa „wesentlich geprägt von der griechisch-römischen Antike, dem Judenund Christentum, der Aufklärung und den Menschenrechten“ und den „Grundprinzipien von Recht, Freiheit und Demokratie“ (EP 51). Während diese Prägungen und Prinzipien als nicht ausreichend bzw. konstitutiv für die Idee eines geeinten Europa betrachtet werden, dienen sie gleichwohl als Legitimationsgrundlage für die Freund-Feind-Bestimmung Europa versus Islam bzw. Europa versus Migration. Unter deutlicher Anspielung auf PEGIDA heißt es: „Wir werden Europa gegen einen Islam verteidigen, der auf der Basis von Koran und Sunna mit den europäischen Grundprinzipien von Recht, Freiheit und Demokratie nicht vereinbar ist, einen Herrschaftsanspruch als alleingültige Religion erhebt und die Scharia durchsetzen will.“ (EP 51) Die Scharia sei ein „totalitär[es]“ Regelsystem und der „imperialistische Islam“ expandiere per Einwanderung und „höhere[r] Geburtenrate“ (ebd.) – Formulierungen, die den Ton gegenüber dem Feindbild Islam deutlich verschärfen.

Und um den „unkontrollierten Zustrom von illegal einreisenden [Nicht-EU-] Ausländern“ (EP 49) rückgängig zu machen, bedient sich die AfD des in Kreisen der ‚Identitären Bewegung‘ und des völkischen AfD-Flügels geläufigen Begriffs der „Remigration“, wenn sie im Programm schreibt: „In Deutschland und Europa müssen Remigrations-Programme größtmöglichen Umfangs aufgelegt werden“ (EP 40). Was das bedeutet, hat Björn Höcke mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck gebracht: „Ja, neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Grenzen wird ein großangelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein. Und bei dem wird man […] nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘, wie es Peter Sloterdijk nannte, herumkommen. Das heißt, daß sich menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden.“ (Björn Höcke: Nie zweimal in denselben Fluss, Lüdinghausen/ Berlin 2018, 254)