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Wie funktioniert das Soziale?

Eine Einführung in die Sozialphilosophie von Rahel Jaeggi und Robin Celikates
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 36 (2018)

„Was ist Sozialphilosophie?“ Dies ist die Einstiegsfrage der beiden Autor*innen Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Robin Celikates, Associate Professor für Politische Philosophie an der Universität von Amsterdam.

Gegenstand der Sozialphilosophie sei „das Soziale“ – es geht also um „soziale Praktiken, Institutionen und Beziehungen“ mit ihren spezifischen Problemlagen. Dieser Gegenstand sei „als konstitutive Bedingung von Individualität und Freiheit zu verstehen.“ (11) Die Sozialphilosophie erhebe einen Deutungsanspruch auf das gesellschaftliche Ganze. Die Herangehensweise sei „zugleich beschreibend und bewertend“. (12) Gründungsväter dieser Wissenschaftsdisziplin seien Jean-Jacques Rousseau, der „als Erster eine systematische Analyse der Fehlentwicklungen der modernen Gesellschaft vorgelegt“ habe, ferner Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx, die die sich entwickelnde kapitalistische Gesellschaft begrifflich und analytisch geprägt und kritisiert hätten. (Vgl. 14)

Ziel der Einführung sei es, „einen problemorientierten systematischen Aufriss“ zu geben, um der „Vernachlässigung des Sozialen in der praktischen Philosophie der Gegenwart entgegenzuwirken.“ (26)

Hegel habe in den Grundlinien der Philosophie des Rechts das historisch neue und moderne Phänomen erstmals begrifflich als „bürgerliche Gesellschaft“ gefasst, und zwar in der „Ausdifferenzierung einer Sphäre von Eigentum und Recht“. (28) Eine zweifache Revolution sei hier zu sehen: Mit der Entstehung der industriellen Arbeitsgesellschaft seien einerseits die Individuen freigesetzt und in einen arbeitsteiligen Produktionsprozess eingegliedert worden, andererseits seien die Menschen aus den Zwängen und Einschränkungen des Feudalismus emanzipiert worden. (Vgl. 29)

Freiheit als einem „Meta-Wert“ oder besser noch: als „Modus des Vollzugs von Tätigkeiten und Praktiken“ (Vgl. 62), komme eine fundamentale Bedeutung zu. Es gehe darum, wie aus der Sichtweise der Sozialphilosophie „das Verhältnis von Freiheit und Sozialität zu verstehen ist.“ (53) Freiheit könne sich nur in sozialen Bezügen zeigen. Es gehe nicht um Freiheit oder Sozialität, sondern Freiheit habe soziale Voraussetzungen (soziale Beziehungen, Rollen, Praktiken und Institutionen) und müsse sich zu diesen Voraussetzungen verhalten. (Vgl. 63)

Anerkennung, ein wesentlicher Begriff in der Sozialphilosophie, sei konstitutiv für das menschliche Selbstverständnis und für die Identität; es bilde sich in Anerkennungs-Beziehungen. Deshalb seien Menschen auf Anerkennung angewiesen. (Vgl. 64) Wichtig dabei sei die Frage, wie der Konflikt zwischen Anerkennung und Sozialität zu begreifen sei, da „die Verhältnisse von Anerkennung immer auch unterwerfen und damit Freiheit verhindern“ können. (69) Auch hier geht es also um die konfliktreiche Beziehung zwischen dem Individuellen und dem Sozialen.

Entfremdung, ein „Schlüsselbegriff“ der Sozialphilosophie, verweise, ebenso wie die verwandten Begriffe Verdinglichung und Anomie, auf Unfreiheit und sei eine Fehlentwicklung der modernen Gesellschaft. (Vgl. 77) Mit Bezug auf den Marxschen Entfremdungsbegriff ließen sich zwei Dimensionen ausmachen: Individuell und kollektiv sei die Fähigkeit verloren gegangen, Kontrolle über das eigene Tun zu erlangen („das Problem der Ohnmacht“); zweitens könne man sich mit der eigenen Tätigkeit und mit den Mitarbeitenden nicht mehr identifizieren („das Problem der Verarmung, des Sinnverlusts und der Bedeutungslosigkeit der Welt“). (Vgl. 81) Entfremdung sei bezüglich dieser Machtlosigkeit und dieses Sinnverlusts immer noch gegenwärtig. Entfremdete Arbeit könne als „unfreie Tätigkeit“ bezeichnet werden, sodass die Überwindung von Entfremdung als Voraussetzung für „Verwirklichung von Freiheit“ gesehen werden müsse. (Vgl. 88)

Ein weiterer Grundbegriff für die Sozialphilosophie ist nach Jaeggi und Celikates Macht. Da Machtverhältnisse komplex seien, müsse eine Kritik der Macht zwei Verständnisse von Macht beachten: Sie müsse fragen, „inwiefern vor allem asymmetrische und mit Gewalt verbundene Formen von Macht individuelle und kollektive Freiheit blockieren.“ (100) Neben dieser repressiven Macht gebe es aber auch eine produktive Form von Macht, und hier müsse gefragt werden, welche Spielräume den Subjekten innerhalb dieser Verhältnisse für die eigene Gestaltung offenstehen und wie diese erweitert werde könnten. (Vgl. Ebd.)

Bei der abschließenden Analyse des Begriffs der Ideologie plädieren die beiden Autor*innen für eine komplexe Ideologiekritik, die drei Merkmale habe: 1. Ideologiekritik müsse immanent ansetzen, d.h. an den inneren Widersprüchen und den Erfahrungen der Subjekte, die durch diese Widersprüche geprägt seien. 2. Ideologiekritik verfahre metakritisch, d.h. sie kritisiert z.B. Herrschaftsverhältnisse, die als selbstverständlich, naturwüchsig und somit als nicht veränderbar gesehen würden. 3. Ideologiekritik ziele auf „die Diagnose, Kritik und Überwindung von Erfahrungs-, Reflexions- und Handlungsblockaden.“ Deshalb halte die Ideologiekritik „am Ziel der Emanzipation fest […].“ (Vgl. 108-110)

Jaeggi und Celikates ist es gelungen, eine verständliche und lesbare Einführung in die Sozialphilosophie zu geben, die gleichzeitig die inhaltlichen Schwerpunkte und kontroversen Diskussionsprozesse sehr anschaulich auf knappem Raum darstellt. Weshalb sie aber trotz ihrer häufigen Bezüge auf Marx und die „Kritische Theorie“ Begriffe wie Ausbeutung, Klassenverhältnisse und Gewalt, die doch konstituierende Merkmale kapitalistischer Gesellschaft sind, außen vor lassen, muss kritisch hinterfragt werden. Dass alle drei Merkmale Teil der sozialen Wirklichkeit sind, steht doch wohl außer Frage. Ihr eigener Anspruch in diesem Buch ist es doch kritisch zu fragen, wie das Soziale konstituiert ist, wie es funktioniert.

Rahel Jaeggi / Robin Celikates
Sozialphilosophie
Eine Einführung
München: C.H.Beck Verlag 2017
128 Seiten, 9,95 Euro