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Terrorismus und Gehorsam

Eine Rezension von Jobst Paul. ((Ich stütze mich auf die H-Net-Rezension von Mohammed M. Hafez (Naval Postgra­duate School) unter https://www.h-net. org/reviews/showrev.php?id=50115.)) Erschienen in DISS-Journal 36 (2018)

Bereits im Jahr 2004 legte der Psychiater und frühere CIA-Beamte Marc Sageman – damals zu Al-Qaeda ((Marc Sageman: Understanding Terror Net­works. Philadelphia: University of Pennsylva­nia Press 2004.)) – eine Studie zum Phänomen des Terrorismus vor, wobei er spekulative Erklärungsansätze durch ver­gleichende empirische Analysen größe­rer Fallzahlen ersetzte. In seinem neuen Werk Turning to Political Violence: The Emergence of Terrorism weitet Sageman diese quantitativ-vergleichende Methodik aus, um zwei Fragen im Zusammenhang zu beantworten: Wie entsteht Terroris­mus? Und: Wie entstehen Terroristen?

Dazu zieht Sageman einerseits die weit zurückreichende Geschichte und vie­le unterschiedliche geografische Schau­plätze heran, andererseits aber auch Tagebücher, Memoiren und Berichte, um die Perspektive der Täter zu rekonstru­ieren. Damit verfolgt Sageman das Ziel, den Blick des Lesers von einer aktuellen Terrorangst und von aktuellen Vorstel­lungen über die Gestalt des Terroristen wegzulenken, um Kontinuitäten sichtbar zu machen. Der Effekt dieser Perspektiv­änderung besteht darin, dass die oft in den Vordergrund gestellten ideologischen Gründe für die Entstehung von Terroris­mus verblassen.

Stattdessen lenkt Sageman den Blick auf sozialpsychologische Mechanismen, die einem – eigentlich – wohlbekannt sind. Danach kann die Etablierung exorbi­tanter Feindbilder und Appelle zur Aufop­ferung für die Wir-Gruppe zur Ausbildung von terroristischer Rigorosität führen – al­lerdings oft nicht ohne eine weitere, be­günstigende Voraussetzung: Danach sind die Opfer-Staaten von Terrorismus über ihre Praktiken und Gegenmaßnahmen auch bedeutende Auslöser von politischer Gewalt: Durch ihre Handlungsweise stif­ten sie auf der Gegenseite erst die ‚so­ziale Identität‘, die Voraussetzung ist für erfolgreiche Aufrufe zum individuellen ter­roristischen Akt. Damit verleiht Sageman allerdings auch der kontroversen Aussage wissenschaftliche Geltung, nach der es ‚9/11‘ ohne die herausfordernde Außen­politik der USA nicht gegeben hätte.

Damit fließen andererseits Ebenen zusammen, die man zunächst getrennt halten sollte, um die Erträge – und die Brisanz – des sozialpsychologischen An­satzes von Sageman würdigen zu kön­nen. So entsprechen die beschriebenen Unterordnungs- und Gehorsamsprozesse potenzieller terroristischer Täter den Be­schreibungen, die bereits die Forschun­gen der 1940er bis 1960er Jahre zum ‚autoritären Charakter‘ lieferten und die danach durch die Milgram-Experimente noch einmal untermauert wurden.

Davon zu trennen wäre dann die Fra­ge, auf welche Weise Regierungen Terro­rismus gegen sich und ihre Gesellschaften begünstigen. Sie dürften sich nach außen zwischen paternalistischer Herablassung und Ausbeutungskalkülen bewegen und ohne rassistische und ähnliche Rhetorik nicht auskommen, mit der ja ebenfalls innere Gehorsamsstrukturen gegen einen äußeren Feind organisiert werden sollen.

Damit kommen reziproke Strukturen in den Blick, denen nachzuspüren der um­fangreiche Band viel Gelegenheit bietet. Insofern ermöglicht es Turning to Politi­cal Violence, das Thema Terrorismus in einem größeren Zusammenhang zu dis­kutieren, statt seine Untiefen durch spe­zialisierte Fragestellungen letztlich doch wieder unsichtbar zu machen.

Marc Sageman
Turning to Political Violence
The Emergence of Terrorism
Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2017
544 pp., 49.95$ (cloth)