- Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung - https://www.diss-duisburg.de -

Moralische Verletzung als moralische Macht

Eine Rezension von Jobst Paul. ((Ich stütze mich auf die H-Net-Rezension des Werks von Titus Firmin (University of New Orleans) unter https://www.h-net. org/reviews/showrev.php?id=51172.)) Erschienen in DISS_Journal 36 (2018)

Mit ihrem Werk Moral „Injury and Nonviolent Resistance: Breaking the Cycle of Violence in the Military and Behind Bars“ legen Alice and Staughton Lynd weniger eine Summe ihres lebenslangen Engagements vor. Eher beschreiben sie eine einzelne Indikation, die ihnen während ihrer Arbeit für soziale und Bürgerrechte, in der Antikriegs- und Verweige­rerbewegung, in der Gefängnisreform- und Arbeiterbewegung immer wieder als zentrales Phänomen begegnet ist. Auch unter Rückgriff auf die klinische, aber auch philosophische und theologische Fachliteratur bezeichnen sie dieses Phänomen als ‚moral injury‘.

Gemeint sind die psychischen Folgen, die Menschen erleiden, wenn sie etwas ge­tan, beobachtet oder nicht verhindert ha­ben, was ihre tiefsten Moralvorstellungen verletzte und erschütterte, und wenn sie sich diese Erfahrung nicht verzeihen kön­nen. Sie können sich aufgeben, zu Drogen oder Alkohol greifen oder in die Gefahr ei­nes Selbstmords geraten. Oder aber, die Erfahrung führt dazu, dass sie ihr Leben auf den Kopf stellen, bzw. dass sie sich fortan offensiv gegen jene Gewalt rich­ten, die sie moralisch so verletzt hat. Die Indikation ist Teil des Gesamtkomplexes der Posttraumatische Belastungsstörung (post-traumatic stress disorder – PTSD).

Interessant ist in diesem Zusammen­hang, dass die englische Bezeichnung ‚moral injury‘ die Betonung auf einen Op­ferstatus der Betroffenen lenkt und diese damit entlastet, während deutschsprachi­ge Bezeichnungen wie ‚Schuldsyndrom‘, ‚Schuldbewusstsein‘ oder ‚schlechtes Ge­wissen‘ letztlich keine gesellschaftliche Perspektive zulassen.

Alice and Staughton Lynd haben das Phänomen der ‚moral injury‘ hauptsäch­lich beim Militär und in Gefängnissen erlebt und widmen ihr Werk daher u.a. US-amerikanischen Kriegsveteranen oder israelischen Kriegsdienstverweigerern, aber auch hungerstreikenden Gefange­nen u.a.m., die versucht haben, mit Akten des gewaltfreien Widerstands die Logik der Gewalt zu durchbrechen. Teilweise vergleichen die AutorInnen die Bedingun­gen in den USA und Israel.

Mit Blick auf die USA bringen die Au­torInnen zur Sprache, welche Folgen die Wandlung von der Wehrpflichtigen- zur Freiwilligen-Armee hatte: Heute tragen weniger als 1% der US-Bevölkerung die sich ständig abfolgenden Einsätze und entsprechend hat sich zwischen 2005 und 2015 die Selbstmordrate in den Reihen der Veteranen verdoppelt. Dabei beginnen die Erfahrungen mit ‚moral in­jury‘ bereits in der Ausbildung, etwa mit Maßnahmen, die der ‚De-Sensibilisierung‘ der Rekruten dienen. Hinzu kommt, dass diese Rekruten bei Vertragsabschluss in der Regel wenig oder nichts über ihre Selbstbestimmungsrechte wissen (z.B. die Einordnung in Nicht-Kampf-Einheiten) und danach jahrelang gegen ihren Willen agieren müssen. Die AutorInnen weisen zudem nach, dass viele Rekruten wenig oder nichts darüber wissen, was interna­tionales oder Kriegsrecht ihnen auferlegt.

Wie beim Militär betrifft auch in den Gefängnissen die Indikation ‘moral in­jury’ Menschen, die Gewalt ausgeübt haben und selbst Opfer sind. Gegen­wärtig (2018) gibt es in den USA 1.266 000 Gefangene, darunter ca. 90 000 in Einzelhaft. Längere Einzelhaft mit ihren folterähnlichen Effekten und andere Maß­nahmen dehumanisieren Menschen und perpetuieren den Zyklus von Gewalt. Gefangene, die dagegen mit gewaltfrei­em Widerstand, etwa mit Hungerstreiks, reagieren, und z.B. nicht mit Revolten, arbeiten damit gegen diesen Kreislauf an und unterwerfen sich ganz bestimmten ideologischen Prozessen.

Moral Injury and Nonviolent Resis­tance ist daher nicht nur eine Diagnose der Verhältnisse, sondern vor allem eine Handreichung und Ermutigung für Betrof­fene, Aktivisten und Helfer. Ihnen empfeh­len Alice and Staughton Lynd den geduldi­gen Weg hin zu Methoden des friedlichen Widerstands gegen illegale Gewalt – da der Ernst und der Wagemut eines solchen Widerstands nicht nur die ‚moral injury‘ der Betroffenen bekämpft, sondern durch seine moralische Kraft auch nach außen wirkt.

Alice Lynd/Staughton Lynd
Moral Injury and Nonviolent Resistance
Breaking the Cycle of Violence in the Military and Behind Bars
Oakland: PM Press 2017
192 pp., $ 17.95 (paper)