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Humanitärer Schiffbruch

 Mit der »Aquarius« ist das letzte zivile Rettungsschiff vom Mittel­meer verschwunden. Erleben wir das Ende der Seenotrettung?

Von Fabian Hillebrand. Erschienen in DISS-Journal 36 (2018) ((Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Neues Deutschland vom 28.09.2018, S.21))

 Während die Debatte um die Seenotrettung in Europa laut tosend geführt wird, ist der Tod auf dem Mittelmeer leise. Entgegen der landläufigen Annahme strampelt, schreit oder winkt ein Ertrinkender nicht. Sich verbal auszudrücken ist eine dem Atmen untergeordnete Funktion; wer keine Luft mehr bekommt, schreit nicht nach Hilfe. Ertrinkende sind, wenn überhaupt, daran zu erkennen, dass sie still im Wasser liegen und ihren Kopf in den Nacken recken. Liegen ihnen Haare im Gesicht, sind sie nicht mehr in der Lage, diese wegzustrei­chen. Zuerst taucht dann der Kopf unter. Nur die Unterarme oder die Hände schauen noch aus dem Meer. Dann dringt Wasser in die Lunge ein. Ertrinken ist der Tod durch Erstickung an Flüssigkeit. Der Körper sinkt langsam in die Tiefe des Meeres ab. Erst später wird der tote Körper zurück an die Oberfläche gedrängt, die durch Leichenfäulnis entstehenden Gase bewirken einen Auftrieb.

Auf diese Art starben zwischen 2014 und 2017 mehr als 12 000 Menschen im Mittelmeer, nach Zahlen der Internatio­nalen Organisation für Migration. Es wä­ren noch weitaus mehr, hätten sich nicht überall in Europa freiwillig Menschen in Bewegung gesetzt, um auf alten Kähnen, umgebauten Fischkuttern und ehema­ligen Forschungsschiffen auf das Meer hinauszufahren und Flüchtlinge zu retten. Von Anfang an waren diese Rettungen umstritten. Der Druck auf die Hilfsorgani­sationen ist dieses Jahr aber noch einmal massiv gestiegen.

Dabei gab es einmal eine staatliche Seenotrettung. Unter dem Eindruck der Tragödien vor den Inseln Malta und Lam­pedusa hatte Italien im Oktober 2013 die Operation Mare Nostrum ins Leben geru­fen. Sie rettete mehr als 400 Flüchtlinge am Tag. Doch nach nur einem Jahr wurde die Mission wieder eingestellt. Die euro­päischen Regierungen weigerten sich, die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um Mare Nostrum in eine europäische Seenotrettung zu überführen und Italien finanziell zu entlasten. Auf die italienische Heldentat folgte eine europäische Schan­de. Die Todeszahlen vor den Küsten Afri­kas stiegen rapide.

Es war diese Lücke, dieser Rückzug Europas aus der Rettung und Bergung von Menschen, den die privaten Seenotret­tungsorganisationen ab 2015 auszufüllen hatten. Zwischenzeitlich führten rund ein Dutzend Vereine mit mehreren Schiffen Rettungen durch. Die Gründerin einer der ersten Organisationen, Regina Catrambo­ne, wurde damals vom Staatspräsidenten Sergio Mattarella mit dem Verdienstorden der Italienischen Republik ausgezeichnet. Es waren andere Zeiten. Am 24. Septem­ber 2018 entschied Panama, wohl nach Druck durch die italienische Regierung, der »Aquarius 2« die Flagge zu entziehen. Damit ist kein privates Rettungsschiff mehr im zentralen Mittelmeer aktiv. Es ist das vorläufige Ende einer Kriminalisie­rungskampagne, die lange vor der Regie­rungsbeteiligung der stramm rechten Le­ga-Partei in Italien begann, durch sie aber ihren entschiedenen Auftrieb bekam.

Europäische Prioritäten

»Die See war so unruhig, fast alle unse­re Gäste waren seekrank, mussten sich permanent übergeben. Die Menschen harrten seit Tagen auf See aus. Es gibt, wenn so viele Menschen an Bord sind, kaum Platz sich hinzulegen. Es gibt keine Schlafkojen, die Menschen sind perma­nent über Deck den Wetterverhältnissen ausgesetzt. Das Wasser spült bei hohen Wellen über das Deck. Die Menschen sind entkräftet, am ersten Tag gab es bereits die ersten Notevakuationen.«

So drastisch beschreibt der Rettungs­sanitäter des Schiffes »Lifeline« die Si­tuation im Nachhinein. Das Schiff hatte im Juni 2018 Flüchtlinge aufgenommen, Italien verweigerte ihnen die Einfahrt in einen sicheren Hafen, tagelang befand sich das Schiff auf offener See und war­tete auf die Zuweisung eines sicheren Hafens. Seit seinem Amtsantritt hetzt Ita­liens Innenminister Matteo Salvini gegen die Seenotrettung. Er bezeichnete die ge­retteten Flüchtlinge auf der »Lifeline« als »Menschenfleisch« und die Seenotretter als »Schlepper«. Wie ichbezogen er dabei vorgeht, wird dadurch deutlich, dass er den Gesetzestext, der weitreichende Ver­schärfungen der Migrations- und Sicher­heitspolitik vorsieht, nach sich benennt, als »Decreto Salvini«.

Inhumane Blockade

Der Innenminister hat das Anlanden von Seenotrettungsschiffen in Italien weitge­hend blockiert. Die Retter bringt das in eine heikle Lage. Nach jeder Bergungsak­tion muss neu verhandelt werden, wo die Flüchtlinge an Land gehen sollen. Ein oft langwieriger Prozess, der Gefahren für die Crew und die Gäste – also die aufgenom­menen Flüchtlinge, birgt. Aber auch das restliche Europa macht eine schlechte Fi­gur. Kein Land will die Rolle Italiens über­nehmen. Anstatt sich für verbindliche Regeln für die Seenotrettung einzusetzen und so die Rettung von Menschenleben wieder in einen Normalzustand zu über­führen, wird jeder Fall neu verhandelt. Ob bei der »Aquarius«, der »Lifeline«, der »Sarost 5«, jedes Mal musste darum ge­rungen werden, welche europäische Re­gierung die Flüchtlinge aufnimmt.

Libysche Realitäten

In den Lehrgängen der Seenotrettungs­organisationen, die alle Crewmitglieder vor einem Einsatz durchlaufen, werden die Freiwilligen auf eine heikle Situation vorbereitet. Nähern sich während einer Rettung Boote der libyschen Küstenwa­che, kann es sein, dass schiffbrüchige Flüchtlinge lieber ins Wasser springen, als sich von dieser bergen zu lassen. Die grauen Militärboote lösen Panik aus, die Angst vor einer Rückkehr nach Libyen ist groß. Dort erwarten sie mit Menschen überfüllte Lager, in denen Zustände vor­herrschen, die das Auswärtige Amt als »KZ-ähnlich« beschreibt. Das Land wird seit Jahren von einzelnen europäischen Regierungen wie auch von der Europäi­schen Union mit Geld und Wissen unter­stützt. Die Idee: Aus ehemaligen Milizen und Menschenhändlern sollen unter Euro­pas Führung Küstenwächter werden, die die Flüchtlinge schon in Libyen zurückhal­ten. Eine Rechnung mit zweifelhaftem Er­gebnis. Immer wieder kam es in den letz­ten Jahren zu Zusammenstößen zwischen Küstenwache und zivilen Seenotrettungs­vereinen. Den Milizen werden schwere Vergehen zum Vorwurf gemacht: Sie sol­len eine Frau und ihr Kind zum Sterben in einem Boot zurückgelassen, in einem an­deren Fall auf Insassen eines Flüchtlings­bootes geschossen haben. Inzwischen sind die Milizen aber die einzigen, die Ret­tungsmissionen durchführen. Die Militär­missionen von Frontex befinden sich viel zu weit vor der Küste, um Menschen zu retten oder Schlepper zu fangen, wie Mi­chel Brandt, der für die LINKE im Bundes­tag sitzt, dem »nd« sagte. Handelsschiffe, die früher ebenfalls Menschen retteten, fahren immer häufiger einfach an Schiff­brüchigen vorbei. Die Gefahr, in einen politischen Streit zu geraten und dann über Wochen keinen Hafen ansteuern zu können, ist ihnen zu groß.

Das Ende der Seenotrettung?

Wer nun das Ende der humanitären See­notrettung beschwört, der irrt. Denn selbst unter den erschwerten Umständen werden die Organisationen weiter in See stechen. »Weil alles besser ist, als wenn die Leute ertrinken«, wie Claus-Peter Reich, Kapitän der »Lifeline« kürzlich im nd-Interview bekräftigte. Tatsächlich ma­chen sich die nächsten Helfer schon be­reit. Die Organisationen Sea-Eye und Life­line stehen kurz davor, mit Ersatzschiffen auszulaufen. Auch eine neue Organisation aus dem Baskenland ist kurz davor, zur ersten Rettungsmission auszulaufen. Da­niel Rivas Pacheco von der Organisation Maydayterraneo ist zuversichtlich, dass der Kahn »Aita Mari« in wenigen Wochen erste Missionen durchführt. Der Name stammt von einem baskischen Volkshel­den, einem Fischer, dessen Popularität darin begründet liegt, dass er bei stürmi­scher See aufs Meer fuhr, um Menschen zu retten. Ein programmatischer Name. Solange das Leben an bestimmten Fle­cken dieser Erde so ist, wie es ist, werden sich Menschen durch Stacheldrähte und Zäune nicht davon abhalten lassen, die Flucht zu wagen. Genauso werden sich Menschen nicht davon abbringen lassen, ihnen zu helfen. Der Sprecher der Organi­sation Sea-Eye, Gorden Isler, sagte dieser Zeitung einmal, er sei sich sicher, dass die Seenotrettung älter wird als die aktuelle italienische Regierung.

Etwas anderes ist zu Ende gegangen. Wer Menschen sehenden Auges ertrinken lässt, als Abschreckung für andere und um den eigenen Wohlstand zu sichern, der kann sich nicht mehr auf humanitäre Werte und Menschenrechte berufen. Es geht hier darum, wer das Recht hat, Rech­te in Anspruch zu nehmen. Ein Teil Euro­pas will die Flüchtlinge davon abhalten, basale Menschenrechte einzufordern. Die Seenotrettung wird nicht aufgeben zu ver­suchen, das zu verhindern. Auch mit der Seebrücke formiert sich eine Gegenbewe­gung, die die Rettung von Menschenleben über die Wohlstandswahrung in Deutsch­land setzt. Doch diese Bewegungen sind schwach. Solange die Rechtspopulisten Oberwasser haben, wird weiter gestor­ben. Leise, wie im Mittelmeer oder be­reits in den trockenen Wüsten zwischen der afrikanischen Atlantikküste und dem Roten Meer.