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Gedenkstättenfahrten als „Integrationshelfer“?

Von Burak Yilmaz. Erschienen in DISS-Journal 34 (2017)

Seit der verstärkten Fluchtbewegung nach Europa und Deutschland im Sommer 2015 bekomme ich als Gruppenleiter des Projektes „Junge Muslime in Auschwitz“ vermehrt E-Mails aus der Lehrerschaft im gesamten Bundesgebiet. Sie fragen nach einer möglichen Gedenkstättenfahrt mit ihren Schülerinnen und Schülern an. Im Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ organisieren wir jährliche Auschwitzfahrten und bieten im Anschluss ein drei- bis sechsmonatiges Theaterprojekt an, um die Erlebnisse der Teilnehmenden zu verarbeiten. Ziel ist es, stigmatisierten Jugendlichen einen Schutzraum anzubieten, indem sie ihre Lebensgeschichte durch Biografiearbeit in einen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang bringen.

So schilderte mir zuletzt eine Lehrerin, dass die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte ihre Schülerinnen und Schüler für gegenwärtigen Antisemitismus sensibilisieren würde. Ihre Schülerinnen und Schüler kämen kaum in Kontakt mit „Deutschen“ und „deutschen Gepflogenheiten“. Daher bat sie mich, ob ich nicht mit ihren Schülerinnen und Schülern zum Thema Nationalsozialismus arbeiten könne und wir gemeinsam eine Gedenkstätte besuchen könnten.

Lehrkräfte bei Konflikten unterstützen

Mir begegnen häufig Lehrkräfte, die sich stark für ihre Schülerschaft engagieren und Konflikte offen ansprechen. In diesem Bereich des Engagements erhalten Lehrkräfte immer noch zu wenig Unterstützung- sowohl von Seiten der Schulleitung als auch von der Politik. In letzter Zeit jedoch häufen sich die Anfragen, die an eine ganz bestimmte Gruppe ausgerichtet sind: Geflüchtete Schülerinnen und Schüler aus sogenannten internationalen Vorbereitungs- oder Willkommensklassen. Auch auf Konferenzen und Lehrer*innenfortbildungen bemerke ich ein gestiegenes Interesse daran, dass sich geflüchtete Jugendliche so schnell wie möglich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen sollten, um dieses Land kennenzulernen und zu verstehen.

Damit erfahren die Themen Holocaust Education in multiethnischen Lerngruppen und Gedenkstättenfahrten eine neue Aufmerksamkeit, die sich allerdings nicht in einen übereifrigen Nachholbedarf zuspitzen sollte. Unterstützt wird dies jedoch dadurch, dass etliche neue Fördermittel und -programme genau diesem Muster folgen, indem Antisemitismus auf Minderheiten externalisiert wird. Wenn jedoch Antisemitismus als Problem von Minderheiten angesehen wird, kann dies im Umkehrschluss bedeuten, dass die Mehrheitsgesellschaft frei von jeglichen Ressentiments sei. Diese Sichtweise kann wiederum zu rassistischen Zuschreibungen führen. Doch Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und geht uns alle an.

Für mehr Repräsentation in unserem Bildungssystem

Den neuen Förderprogrammen und auch den Schulen sollte bewusst sein, dass in unserem Bildungssystem ein Repräsentationsmangel vorherrscht. An vielen Schulen in Duisburg und im Ruhrgebiet, an denen ich Workshops gestalte, kommt die Lehrerschaft meistens aus der Mehrheitsgesellschaft. Lehrer*innen mit Migrationsgeschichte sind immer noch unterrepräsentiert, während aber die Mehrheit der Schülerschaft meistens Migrationsgeschichte hat. Die Migrationsgeschichte der Schülerschaft wiederum ist in den Geschichtsbüchern und in den stadthistorischen Museen wenig sichtbar.

Oft beschweren sich Schüler*innen, dass die Gastarbeitermigration oder der Nahostkonflikt im Geschichtsunterricht kaum behandelt wird. Geschichtliche Ereignisse, von denen sie familiär direkt betroffen sind und sie sich eine kritische Auseinandersetzung in der Schule wünschen. Es liegt das Problem vor, dass Schüler*innen sich mit ihrer Familienbiografie und ihrer Migrationsgeschichte wenig repräsentiert fühlen, obwohl ihre Familien seit mehreren Generationen Teil dieses Landes sind und auch Teil des Kollektivgedächtnisses sein sollten. Insofern steht die Frage: Können Gedenkstättenfahrten hier als „Integrationshelfer“ dienen?

Ethnisierende Diskurse führen auch zu Selbstethnisierung

Auch wenn einige Lehrkräfte die Erwartung haben, dass durch Gedenkstättenfahrten ihre Schülerinnen und Schüler Demokrat*innen werden, sind solche Fahrten keine Garantie für ein demokratischeres Miteinander. Gedenkstätten sind Orte, die bedrücken und Besucherinnen und Besucher auch aus der Fassung bringen können. Ich habe es auch schon erlebt, dass Jugendlichen nach Gedenkstättenfahrten ihr eigener Status als diskriminierte Minderheit bewusster wurde und sie erst recht nicht „Deutsch sein“ wollten. Jedes Jahr erlebe ich in Oświęcim aufs Neue, wie muslimische Jugendliche abends im Restaurant oder in einer Bar Rassismuserfahrungen machen, nachdem sie am Vormittag die Konzentrationslager besichtigt haben. Dieses Jahr zum Beispiel wurden einige der Jugendlichen unseres Projektes in der Altstadt von Oświęcim mit Zigarettenschachteln beworfen und einem lautstarken „Fuck Turkey! Fuck Erdoğan!“ beleidigt. Hinzu kommt, dass sie in Oświęcim das erste Mal in ihrem Leben Israelis treffen und kennenlernen. Es entstehen Kontakte, manchmal auch Freundschaften nach der Fahrt, doch diese Begegnungen werden dann von einigen der Jugendlichen im Freundeskreis oder im Elternhaus verheimlicht, da eine große Angst davor herrscht, als „Verräter“ schikaniert zu werden. Die Konfrontation mit gegenwärtigem Antisemitismus macht sie sprachlos. Gedenkstättenfahrten brauchen aufgrund dieser Erlebnisse nicht nur eine intensive Vorbereitung, sondern auch eine noch intensivere Nachbereitung.

Es ist zudem bekannt, dass Gedenkstätten schon immer umkämpfte Orte waren. Orte des Gedenkens werden vor ihrer Errichtung jahre- wenn nicht gar jahrzehntelang emotional debattiert und politisch ausgehandelt. Wenn wir nun aber Gedenkstättenbesuche als integrationspolitische Forderung stellen, würde dies im Umkehrschluss bedeuten, dass jeder Deutsche schon einmal in seinem Leben in einer Gedenkstätte war. Es ist ein verzerrtes Selbstbild, das die hoch emotionalen Debatten hinter diesen Gedenkstätten verdeckt und nicht zum Vorschein bringt. Mit einem solchen Selbstbild jungen Geflüchteten zu begegnen wird einer kritischen Erinnerungskultur nicht gerecht.

Mikroräume der Begegnung und demokratischen Teilhabe schaffen

Zu Beginn dieser Debatte um Geflüchtete und Gedenkstättenbesuche brauchen wir daher einen Perspektivwechsel. Es braucht eine anerkennende Pädagogik, die keine hierarchische Wir- versus – Ihr- Konstrukte aufbaut, sondern auf Augenhöhe arbeitet und die Themen der Geflüchteten aus ihrer Umwelt aufgreift. Viele von ihnen sind in Deutschland mit gesellschaftlichen Gepflogenheiten konfrontiert, die sie nicht verstehen, wie zum Beispiel das Konzept der Altersheime, die es in den ihnen bekannten kollektiven Familienmodellen nicht gibt.

Zu diesem Perspektivwechsel gehört auch die Haltung, jungen Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte das Gefühl zu geben, dass sie Teil dieser Gesellschaft sind. Es müssen Mikroräume geschaffen werden, in denen ein Austausch über Normen, Rituale und kulturelle Gepflogenheiten stattfinden kann. Insbesondere die Reflexion über Vor- und Nachteile eines individuellen und kollektiven Lebensmodells stellt sich als eine zentrale pädagogische Aufgabe der nächsten Jahre. Denn wenn sich Menschen als Teil dieser Gesellschaft fühlen können und anerkannt werden, wird auch ihr Interesse an Geschichte steigen.

Burak Yilmaz ist Gruppenleiter bei HeRoes Duisburg und betreut das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“