- Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung - https://www.diss-duisburg.de -

Die Massenflucht zwischen Denormalisierung, Normalisierung…

… und transnormalistischen Alternativen. Von Jürgen Link. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)

1.

Zunächst einmal ist die große „Flüchtlingskrise“ von 2015ff. das größte Rätsel des hegemonialen mediopolitischen Diskurses seit 2001. Völlig verschiedene diskursive Erklärungsmuster schwirren durcheinander. Ist diese Krise ein isoliertes Ereignis, das plötzlich vom Himmel schicksalhafter „Fluchtursachen“ über Europa bzw. über „Deutschland“ hereingebrochen ist – so wie 2001 „Nine Eleven“ tatsächlich vom Himmel über die USA kam? Oder war es, wie Schäuble mit ironischem Dementi erklärte, die ungeschickte Skifahrerin Angela, die die „Lawine lostrat“, als sie am 5. September 2015 unter Bruch der „europäischen Hausordnung“ von Dublin und Schengen die deutsche Grenze öffnete? Oder aber ist diese Krise gar nicht isoliert, sondern bloß der Höhepunkt einer „Kette“ von Krisen seit 2007 oder sogar seit 2001, wie es die Begriffe „Krisenschwemme“, „Multikrise“ und „Megakrise“ suggerieren? So erklärte es Angela Merkel selbst am 14. Oktober 2015 in Schkeuditz bei Leipzig, als sie ihre bisherige Kanzlerschaft als eine Zeit von „Krise an Krise“ bezeichnete: von Finanzkrise über Griechenlandkrise und Eurokrise (die sie alle „geschafft“ hätte, wie man sie verstehen sollte).

2.

Worin sich der mediopolitische Diskurs allerdings einig ist, ist die Feststellung eines dramatischen Verlusts an „Normalität“ (gleichbedeutend mit einem Verlust an „Kontrolle“). Das große Ereignis fordert jedenfalls, wie immer es auch erklärt werden mag, eine „Rückkehr zur Normalität“, eine Normalisierung. Als Seehofer in schöner Unbewusstheit erklärte, niemand werde „den Pfropfen wieder auf die Flasche bekommen“, wählte er den passenden orientalischen Mythos vom Flaschengeist für ein Ereignis denormalisierter Massendynamik. Es ist also eine normalismus-theoretische Analyse gefragt, und diese muss als erstes feststellen: Ja, es handelt sich um eine Mega-Denormalisierung – das zu leugnen ist lächerlich. Und ja, die Proliferation des deutschen Neorassismus wurde durch diese Denormalisierung ausgelöst und wird anhalten, wenn die Normalisierung misslingt.

3.

Es gibt ein „klassisches“ Symptom für den Charakter der Massenflucht als Denormalisierung: Das ist der Kollaps der Verdatung. Normalität in modernen Gesellschaften westlichen Typs, die nicht zuletzt verdatete Gesellschaften sind, beruht auf möglichst transparenter statistischer Verdatung von Massen. Und hier nun haben wir es mit einem Ereignis zu tun, dessen verdatende Zahlen auch nach einem Jahr vollständig ungewiss sind. Keine offizielle verdatende Instanz weiß bis heute, wieviele Flüchtlinge zwischen Anfang und Ende 2015 und dann in 2016 nach Deutschland gekommen sind, woher sie kommen, wer sie sind und wo sie sich genau aufhalten – die Zahlen für 2015 schwanken zwischen 700.000 und 1,2 Millionen – sie sind also nicht nur ungenau, sondern völlig wertlos. Der mediopolitische Diskurs skandalisiert einzelne Aspekte wie die Vielfach-Identitäten von „Schnorrern“ oder gar „terroristische Schläfer“. Tatsächlich stehen heute (Juni 2016) oft ganze Auffanglager leer und müssen Zeltstädte schon wieder abgebaut werden. Also lagen auch die Prognosen, ein weiteres notwendiges Dispositiv normalistischer Regierungsweise, total daneben.

4.

Die mediopolitische Klasse stochert also mit der Stange im Nebel der Denormalisierung und mutmaßt aber, dass im Laufe des Jahres 2015 eine Art symbolische Exponentialkurve von Flüchtlingen entstand – deren Normalisierung nach einem bekannten Schema verlaufen muss: Zuerst Nullwachstum herstellen, danach die Spitzenzahl schrittweise „runterfahren“. Genau das ist die Politik der Regierung Merkel-Gabriel. Das Nullwachstum wurde durch die Sperrung der nordgriechischen Grenze erreicht, die ganz offensichtlich mit heimlicher Komplizenschaft Berlins durchgeführt wurde (als ob die Weltmacht Nummer 2 den mehr oder weniger „unregierbaren“ Ministaat Mazedonien nicht hätte zwingen können!). Das schrittweise „Herunterfahren“ soll durch den „Merkelplan“ – Erdogandeal, Umverteilung in Europa, Finanzhilfen für die Lager „vor Ort“ sowie militärische „Stabilisierung“ des mittelöstlichen „Krisenhalbmonds“ – erreicht werden.

5.

Dabei wird das entscheidende Kettenglied verschwiegen: Griechenland als „Hotspot-Land“ für die gesamte Massenflucht zu „nutzen“. Denn wie kam es zum „Kontrollverlust“?  Weil Berlin das erste Halbjahr 2015 damit „verlor“, die zunächst auf Schuldenerlass bestehende Regierung Tsipras 1 mit Einsatz des gesamten erpresserischen Dispositivs von Bankenschließungen und Staatsbankrott in die Knie zu zwingen und ihr Rückgrat in jedem Sinne des Wortes zu brechen. Denn die Massenflucht über die Balkanroute „explodierte“ nicht erst im Sommer, sondern bereits im Frühjahr 2015, und das war Berlin bekannt. Warum kein Medienalarm? Um Tsipras 1 keine „Trümpfe“ in die Hand zu geben, wie sie seither Erdogan weidlich zu nutzen weiß. Noch nach der Kapitulation von Tsipras 1 und seiner Verwandlung in einen willig-vollstreckenden Tsipras 2 hatte Schäuble kein wichtigeres „Anliegen“, als jeden Zusammenhang zwischen Griechenlandkrise und „Flüchtlingskrise“ zu leugnen: Athen dürfe auf keinen Fall wegen der Flüchtlinge einen „Reformenrabatt“ bekommen, ließ er durch seinen Sprecher verkünden.

6.

Es braucht den feschen und forschen österreichischen Außenminister Kurz, um Griechenland als entscheidendes Kettenglied der ganzen „Flüchtlingskrise“ zu lokalisieren: Anfang Juni 2016 schlug er für die definitive Normalisierung das „australische Modell“ vor: Weitere Flüchtlinge auf Inseln wie Papua-Neuguinea zu internieren, und er nannte auch gleich das „europäische“ Pendant von Papua: Lesbos. Der größte Teil des deutschen mediopolitischen Diskurses, allen voran die ARD-Tagesschau, verschwieg den Namen „Lesbos“. Denn dieser Name sagt alles: Papua-Neuguinea ist der Musterfall eines Landes der untersten, fünften Normalitätsklasse, dessen Regierung von der Ersten Normalitätsklasse (Ersten Welt) zu allem gezwungen bzw. gekauft werden kann. ((Den Begriff der Normalitätsklassen habe ich in meinem Buch „Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird“ (Göttingen 2006, 431ff.) herausgearbeitet. Dabei gehe ich davon aus, dass der Grad der normalistischen Penetration in der Welt sehr unterschiedlich ist. Grob gesehen, existieren fünf Normalitätsklassen: 1. und 2. Welt sowie drei Klassen der 3. Welt: obere Schwellenländer, mittlere Durchschnittsländer der 3.Welt schließlich die „least developed countries“ mit ihren „failed states“ und „black holes of governance“)) Kurz setzt Griechenland also zynisch in die fünfte Normalitätsklasse. Das ist übertrieben, aber richtig ist, dass Schäuble und Merkel Griechenland von der zweiten in die dritte Normalitätsklasse, das heißt in die „obere Dritte Welt“ versenkt haben – durch Massenarbeitslosigkeit sowie weitgehende Wegnahme der normalen Löhne und sozialen Sicherungsnetze. Und dadurch „bietet sich“ das Land nun auch als europäisches Papua zur definitiven „Normalisierung“ der Flüchtlingskrise „an“. Tsipras 2 „muss“ es willig vollstrecken.

7.

War das alles von Merkel und Schäuble von Anfang an geplant, wie man fast meinen könnte? Ich denke nein – es ergab sich nach der Formel „jede Krise als Chance nutzen“ als vorübergehend „aus dem Ruder gelaufene“ Folge einer allerdings geplanten GERMROPA-Strategie der Berliner Eliten, das heißt eines Umschwenks von „weicher“ auf „harte“ Hegemoniepolitik. ((Der Begriff GERMROPA kann und soll die deutschen Hegemoniebestrebungen innerhalb Europas sichtbar machen. )) Dazu bot sich eine „linksradikale“ Regierung (Tsipras 1) „ideal“ an: Sie durfte keinen Eurocent mehr „kriegen“ als die korrupten Vorgängerregierungen – im Gegenteil: Sie musste noch viel mehr „bluten“, um jede Hoffnung auf Rettung „von links“ ein für allemal in ganz Europa zu zerschlagen. Wenn schon, dann lieber „Rechtspopulismus“ als „Linkspopulismus“. Deshalb lieber 300.000 Flüchtlinge sich in Ungarn stauen lassen als mit Tsipras 1 auf Augenhöhe zu verhandeln. Daraus folgte dann die Grenzöffnung von 5. September als tatsächlich alternativlos – weil die Alternative gewesen wäre: 300.000 Menschen mit der Bundeswehr zwangsweise nach Griechenland, wohin sie nach Dublin „gehört“ hätten, zu deportieren. Aber für die spätere schrittweise Normalisierung konnte man dann das völlig versenkte Griechenland „schrittweise“ zum europäischen Hotspotland „einrichten“.

8.

Aber Merkels Herz? Ebenfalls ein Fall von „aus der Krise eine Chance machen“. Wenn die Denormalisierung schon da war, konnte man sie für GERMROPA dazu nutzen, medial ein moralisches Antlitz für die neue Rolle als Weltmacht Nummer 2 zu zeigen und damit auch Europa auf Linie zu zwingen – und im weiteren Verlauf der geplanten Normalisierung einen Schritt an globaler Vielfalt nachzuholen (sowie nebenbei wirtschaftlich teils Fachkräfte, teils Billiglöhner, und obendrein einen „Wachstumsschub“ zu gewinnen). Dennoch war das alles ein gewagtes Spiel – es nahm die neorassistische Proliferation in Kauf und auch das Risiko einer Hegemoniespaltung (Seehofer und die „Obergrenze“ – eine normalistische Selbstverständlichkeit, nebenbei gesagt). Es nahm auch eine „antideutsche“ Rebellion in einigen europäischen Ländern in Kauf. Wenn die Normalisierung nicht gelingt, ist das Spiel verloren.

9.

Wird also die Normalisierung Erfolg haben? Das ist nicht sicher. Ein großes Risiko der Berliner Politik lag von Anfang an darin, einen faktischen Notstand (Denormalisierung) nicht als solchen zu erklären und die Normalisierung auf der Basis weiterlaufender Normalität „zuhause“ zu versuchen. „Wir schaffen das“ bedeutete: Wir schaffen das im Rahmen unserer alten Normalität. Das wäre ohne die Benutzung des antirassistischen Potentials in Deutschland und der ehrenamtlichen Helferinnen nicht gegangen. Und jetzt geht es nicht ohne Erdogan (aber auf Kosten Griechenlands). Entscheidend wird sein, wie sich die gesamte „Kette“ der Krisen weiter entwickelt. Ob auch die Wirtschaftskrise im Süden sich festfrisst und dann auch nach Norden „zurückkommt“.

10.

Die Massenproteste in Frankreich erklären sozusagen wieder die Hoffnung auf „Rettung von unten“ – ohne die Schranken der „Reformen“ (Zwangsnormalisierungen) zu respektieren. Transnormalistische Bewegungen wären also die wahre Alternative zum GERMROPA-Nationalismus und seinem „rechtspopulistischen“ neorassistischen Zwillingsbruder.  ((Im Transnormalismus werden die Grenzen des flexiblen Normalismus überschritten, indem die Normalität so ausdehnt wird, dass sich das, was als normal gilt, auflöst. (Vgl. Jürgen Link, Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz 2013, S. 233ff.) )) Die Faustregel „jede Krise als Chance nutzen“ sollte vielleicht nicht nur der Hegemonie überlassen werden.

Prof. Dr. Jürgen Link ist Herausgeber der kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie.