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One Night in Hongkong…

Eine kurze Begegnung mit „Occupy Central“ am 03.10.2014

Von Iris und Robert Tonks. Erschienen in DISS-Journal 28 (2014)

Es gibt einige Städte, die sich bei einer Durchreise nach Indonesien als Stop-Over-Möglichkeiten, Rastplätze für eine Nacht, anbieten: z.B. Bangkok, Singapur oder eben Hongkong. Wir entscheiden uns für Hongkong, weil wir Inseln und Berge lieben – und Hongkong hat beides. Weltstadt, pulsierende internationale Millionenmetropole mit Wolkenkratzern orientiert am Feng-Shui-Prinzip – mitten in China und doch sehr britisch, ausgestattet mit einem Sonderstatus als Special Administrative Region. Vom Victoria Peak, den man mit einer Schweizer Bahn erreicht, bietet sich nicht nur ein unvergleichlicher Ausblick – von hier aus kann man auch stundenlang durch tropische Wälder laufen, ohne ein Haus zu sehen. Doch nicht nur Victoria Peak und seine „shopping mall“, sondern auch die Metro und der Airport Express, der den Flughafen in 24 Minuten mit Hongkong Island verbindet (was kein Auto im alltäglichen Hongkonger Verkehrschaos schafft), erinnern an die enge Verbindung Hongkongs zu Großbritannien. Die Briten übernahmen den „wertlosen Steinhaufen im chinesischen Meer“ (Palmerston, brit. Außenminister) 1841 nach dem ersten Opiumkrieg und hielten das Protektorat Hongkong bis vor 17 Jahren. In dieser Zeit entwickelte sich Hongkong zu einer Hochburg des Kapitalismus. Noch immer ausgestattet mit dem Sonderstatus ist das heutige Hongkong mit 7 Mio. Einwohnern sehr westlich, sehr kapitalistisch geprägt, obwohl es ein integraler Bestandteil der Volksrepublik China ist.

Es gibt Spannungen, komplizierte Wirtschaftsbeziehungen und Konflikte. Letztere haben sich im September 2014 in einem noch nie dagewesenen Ausmaß manifestiert. In erster Linie richten sich die Proteste gegen den Verwaltungschef C.Y. Leung, der in einem kapitalistischen Teilsystem (Hongkong) das kommunistische Machtsystem (China) vertritt.

Zuerst zu den Spannungen. China hat für 2017 eine Regierungsreform geplant. Erstmals sollen die Hongkonger wählen dürfen; die Kandidaten sind jedoch pränominiert. Vorbestimmte Regierungsvertreter will sich vor allem die junge und gebildete Bevölkerung Hongkongs nicht bieten lassen. Geprägt durch die westlichen Werte, die ihnen ihre Eltern vermittelten, wollen Hongkongs Studierende freie Wahlen mit unabhängigen Kandidaten – und sie können ihren Zielen deutlich und rebellisch Ausdruck verleihen. Einige Intellektuelle bilden die Köpfe verschiedener Bewegungen, die sich zu „Occupy Central“ (in Anlehnung an „Occupy Wallstreet“, aber mit ganz anderen Zielen) zusammenschlossen und für Demokratie kämpfen. Die jungen Leute setzen friedliche Mittel ein; sie sind auf die Straße gegangen mit Bannern, Plakaten und vielfältigen Kunstaktionen, haben durch die Internetmedien Anhänger mobilisiert – und sie haben eine Straße besetzt; die Straße zwischen den Metrobahnhöfen „Admiralty“ und „Central“ – „Occupy Central“. „Central“, das ist der Hauptknotenpunkt Hongkongs, wo auch die Regierungs- und Finanzgebäude stehen. Das höchste ist das International Finance Center (IFC), wo der Tourist an normalen Tagen hochfahren kann, um die Aussicht zu bewundern – aber nicht heute. Denn hier – so wird uns am Aufzug erklärt – sitzt der Krisenstab zum Monitoring der Protestbewegung und beäugt die Demonstrierenden von oben. Diese haben die Hauptverkehrsader schon seit Tagen in der Hand – angestiftet durch westliche Mächte, wie man in der Volksrepublik China vermutet. Diese traut den jungen Hongkongern also entweder nichts zu oder sucht nach weiteren Feinden. Als Feinde werden die jungen Leute nämlich angesehen und sie werden bekämpft. Einige Tage vor unserer Ankunft wurden kritische Studierende inhaftiert; das führte zu den ersten Protesten und schon bald gab es Übergriffe mit Tränengas durch die Polizei. An den Barrikaden aus Stahlgittern, die mit Kabelbindern zusammengebunden sind, hängen Tücher und Atemschutzmasken – auf den Plakaten, die an allen Wänden und auf der Straße kleben, liest man Aufschreie gegen die Polizeigewalt. Die Polizei steht den Demonstrierenden gegenüber – sie soll gestern mit Gummigeschossen aufgerüstet haben, heißt es. Der Vater eines Studierenden, so erklärt man uns, schreit ihnen gerade seinen Zorn entgegen. Es gibt Beifall. Schutzschilde und Helme liegen auf dem Boden – Anspannung in der Luft. Die polizeilichen Übergriffe haben scharfe Proteste, auch aus anderen Teilen der Bevölkerung und aus dem Ausland nach sich gezogen. Familien haben sich mit den Demonstrierenden solidarisiert und sind mit ihren kleinen Kindern zur Blockade gekommen. Die „Umbrella-Revolution“ soll friedlich bleiben – C.Y. Leung soll zurücktreten – so die Forderung. Mit einem aufgespannten gelben Regenschirm stellte sich ein Demonstrant bei einer Regierungsveranstaltung dem Rot der chinesischen Machthaber entgegen. Er war geschützt durch die Anwesenheit internationaler Medienvertreter, deshalb ging niemand gegen ihn vor. Damit erhielt „Occupy Central“ ein Symbol und eine Farbe. Überall liegen und hängen Regenschirme – aufgespannt, die Tuche als Banner zusammengenäht und zwischen Brücken ausgebreitet oder  unter den Pavillons der Demonstrierenden liegend. Gelbe Bänder sind um die Barrikaden geknotet – Zehntausende. Und Zehntausende Klebezettel in allen Farben und allen Sprachen säumen den Weg in die Gebäude – aufmunternde, unterstützende Worte und Kritik an China. Nationale und internationale Presse wartet – interviewt Demonstrierende und Anführer verschiedener Protestgruppen vor laufender Kamera. Das Ziel der Bewegung sei Demokratie, freies Wahlrecht insbesondere mit freier Nominierung der Kandidaten und Mitbestimmung für eine positive Zukunft mit Bildungschancen und Jobs, erzählen uns die Demonstrierenden. Nur Kandidaten haben sie nicht; die sollen sich finden in einem zu kommenden Prozess. Das ist ein Problem. Die Revolution hat einen Namen, Symbole, eine Farbe, ein Ziel, aber kein Gesicht und sie hat viele Gegner.

So kommen wir zur Wirtschaft. Mit Hongkong verfügt China über einen der wesentlichen Finanzdienstleistungsplätze im globalen Maßstab, einschließlich der Hongkong Shanghai Banking Corporation (HSBC), der größten Bank Asiens. Die HSBC bietet China auch mittels der Währung, Hongkong Dollar, eine bedeutende Brücke zum Welthandel. Täglich kommen ca. 20.000 Chinesen mit einem einfachen Visum nach Hongkong – zum Einkaufen und evtentuell auch zum Verkaufen. Wenn sie beides tun, spricht man von „Parallel Trading“.  Sie bringen vor allem Landwirtschaftsprodukte, wie Reis und sie kaufen v.a. westliche Medizin und  Milchpulver. Dies ist ein enormer Wirtschaftsfaktor für den Einzelhandel, auch wenn das „Parallel Trading“ Hongkong – gesamtwirtschaftlich gesehen – auch Nachteile bringt.  Nach dem Milchpulverskandal in China, bei dem ca. 30.000 Babys an verseuchter Nahrung starben, kauften Festland-Chinesen organisiert und in großem Stil Hongkong leer an Milchpulver („powder formula“). Jetzt gibt es ein Gesetz. Nur 1,8 kg dürfen eingekauft werden, sonst gibt es hohe Geld- und sogar Gefängnisstrafen. Zurzeit jedoch kommt niemand aus China zum Einkaufen. Die Regierung hat das Reisen mit dem einfachen Visum gestoppt und die Einzelhändler Hongkongs verzeichnen finanzielle Einbußen von bis zu 70% – alles wegen der Proteste für mehr Demokratie.

Das ist ein ernstzunehmender Konflikt. Das müsse aufhören, sagt der Taxifahrer, der uns zum Flughafen bringt. Die jungen Menschen müssten die Straße, die Hauptverkehrsader Hongkongs freigeben, es gehe ihnen ja nicht schlecht. Man könne gut leben in Hongkong, nur das Wohnen sei teuer und die Gewinne aus veräußertem Wohneigentum fielen in den Besitz der Regierung. Aber die Proteste machten den Einzelhandel kaputt und schreckten die Touristen ab. Diese kämen nicht pünktlich zu ihren Flügen, wobei er schimpfend nach einem Ausweg aus dem Stau suchte. Wir schafften es rechtzeitig – doch schon am nächsten Tag hörten wir, dass die friedlichen Demonstrierenden von Schlägertrupps unklarer Herkunft angegriffen wurden. Die Polizei schaute zu und schlug dann auf die Demonstrierenden ein. Die vereinbarten Gespräche waren von der Regierung bereits kurzfristig abgesagt worden und Leung ist auch nicht zurückgetreten. Er und seine Mitarbeitenden betreten nur das Regierungsgebäude zurzeit nicht. Wie die neuen Medien und sozialen Netzwerke den Demonstrierenden durch Kontakte in alle Welt den Rücken decken, so schützen sie auch die Regierung – „home office“ – geht ja auch. Und die in den Medien kursierende Meldung von einem geplanten Hackerangriff der Opposition auf die Regierungscomputer hat nicht stattgefunden – jedenfalls noch nicht. Dafür gibt es aber jetzt wieder Hoffnung auf Gespräche zwischen Regierung und Opposition. Bleibt zu hoffen, dass es auch Aussicht auf Kandidaten für freie Wahlen gibt, die Freiheit und Demokratie als Grundlage ihrer Politik sehen werden. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der diffusen Freiheitsbewegung, ihrer Grundlagen und Ziele und vor allem der Möglichkeit, die Forderung nach Demokratie zu verwirklichen und in der Verfassung Hongkongs zu verankern, steht noch aus.

Iris Tonks ist Mitarbeiterin des DISS. Robert Tonks ist Europareferent der Stadt Duisburg.