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Diskurstheorie und Kritik

Von Nietzsches zu Foucaults Genealogie und zu Martin Saars „Genealogie als Kritik“, mit einem Blick auf die Folgen dieser philosophischen Spur für die Kritische Diskursanalyse

Von Siegfried Jäger. Erschienen in DISS-Journal 28 (2014)

Dass die Wahrheit nur von dieser Welt ist, macht nicht nur Michel Foucault Sorgen. Schließlich handelt es sich um das Problem aller Philosophie und des Glaubens an Gott oder Götter. Foucault zieht angesichts der Vielfalt und Heterogenität der Antworten den Schluss, es gebe nur historisch (und regional) jeweils gültige Wahrheiten, aber eben keine objektiven oder absoluten Wahrheiten. Doch stimmt das wirklich? Meint doch Foucault auch, dass die Wahrheit das wichtigste Thema all seiner Werke sei. Aber welche Wahrheit? Und in welcher Beziehung steht sie zur Macht, zu den Mächten und zum Wissen? Und mehr noch: Gibt es neben den historisch und nur jeweils regional gültigen Wahrheiten auch so etwas wie eine gültige Moral oder eine für alle verbindliche Ethik? Denn: Ist Wahrheit nicht die Grundlage aller Kritik? Hängt Kritik nicht völlig in der Luft und wird zum bloßen Meinen, zum subjektiven Standpunkt, wenn sie sich nicht auf (absolute?) Wahrheit berufen kann? Und wie steht es mit der Parrhesia, der Wahrheit des weisen Narren, der mit dem Mut zur Wahrheit den Markt der Meinungen zum Tanzen bringen könne? ((Vgl. zu den genannten Stichwörtern die Einträge in dem „Lexikon kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste“, hg. von Siegfried Jäger und Jens Zimmermann, in Zusammenarbeit mit der Diskurswerkstatt im DISS, Münster: Unrast 2010.)) Antworten stehen bereit, die (heftige) Diskussion ist voll im Gange und diese ist überhaupt nicht neu, aber für alle Versuche Kritischer Diskursanalyse ungeheuer spannend.

Dass Michel Foucault stark von den Schriften des Philosophen und Dichters Friedrich Nietzsche beeinflusst war, besonders was sein Verständnis von Genealogie betrifft, ist kein Geheimnis. Neben zwei ausführlicheren Texten Foucaults, die man in den Kleinen Schriften ((Nietzsche, Freud, Marx, DE 1, S. 727-743, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ DE 2, S. 166-191)) und einem Vortrag zu „Nietzsche“ ((„Die Wahrheit und die juristischen Formen“, Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 29-51.))  nachlesen kann, findet sich eine Vielzahl von Hinweisen auf Nietzsche in den vier Bänden der kleinen Schriften. ((Vgl. auch die Bezugnahmen auf Nietzsche in DE 4, S. 51-119 „“Gespräch mit Ducio Trombadori“, in dem Foucault sich sehr grundsätzlich zu seiner Arbeitsweise äußert.) )) Insofern kann man durchaus zu Recht behaupten, Foucault sei in seinem gesamten Schaffen stark von Nietzsche beeinflusst worden, wie auch das Register zu den Schriften in Band 4 ausweist.

Diesen Bezug zu Nietzsche untersucht Martin Saar in seiner Studie mit dem Titel „Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault“ ((Dabei handelt es sich um seine stark gekürzte Dissertation, die er unter dem Titel „Selbst-Kritik. Nietzsche, Foucault und der Begriff der Genealogie“, 2007 verfasst hat.)) Daraus geht hervor, dass Foucault den Begriff der Genealogie nicht einfach von Nietzsche übernommen hat, sondern – durch diesen und insbesondere dessen „Genealogie der Moral“ inspiriert – einen eigenen Begriff der Genealogie entwickelt hat, – oder genauer: eigene Begriffe von Genealogie –, die er seinen historischen Untersuchungen zugrunde gelegt hat. ((S. dazu Christian Pietzek in Jäger /Zimmermann (Hg.), S. 57-59.)) Foucault gelingt es damit, sein Verständnis von Diskurs (der „Archäologie des Wissens“) zu dem des Dispositivs zu erweitern – nicht zu ersetzen, wie vielfach angenommen wird.  Dabei rekurriert er wie Nietzsche auf die vielfältigen Herkünfte der Moral und damit auch des gesellschaftlichen Geschehens und kann damit zentrale Ansätze der (europäischen) Geschichtsschreibung radikal in Frage stellen.

Dies bedeutet zugleich nicht, dass sich Foucault nun auf das Selbst „zurückbesonnen“ habe, sondern nur, dass er das Selbst in seinen variantenreichen Zusammenhängen mit dem gesellschaftlichen Sein erklären kann. Und nicht nur dieses: Er kann dadurch einen Zusammenhang herstellen, zwischen der Kritik des Selbst und der Kritik der Gesellschaft. Dies impliziert natürlich, dass das Selbst bzw. die Selbste als die prinzipiellen Architekten der Gesellschaften angesehen werden bzw. dass es die Menschen selbst sind, die die Geschichte(n) machen. Das mag man als „zu philosophisch“ und zu allgemein kritisieren, es kann meines Erachtens ohne Probleme durch Einbezug spezifischer Verhältnisse konkretisiert werden.

Doch was hat dies mit der Bestimmung dessen zu tun, was als Möglichkeit der Kritik im Rahmen Kritischer Diskursanalyse beansprucht werden kann? Denn mit einer Kritik an den Selbsten und ihrer Moral ist ja noch nicht eine Kritik an der Gesellschaft verbunden, die (Kritische) Diskursanalyse ja zu leisten versucht?

Dieser Frage geht Martin Saar in seinem glänzenden Abschlusskapitel „Genalogie als Kritik“ nach (293-342). Zunächst geht er auf die Gemeinsamkeiten der beiden Philosophen ein:

„Versteht man unter Genealogie im weiten Sinn das Programm der historisierenden und machtanalytischen Relativierung und Kritik gegenwärtiger Selbstverhältnisse, so sind Nietzsche und Foucault gleichermaßen genealogisch verfahrende Philosophen. Denn sie teilen erstens gewisse systematische Grundüberzeugungen, was den Status und die Tiefenhistorizität von Subjektivität angeht. Zweitens vereint sie eine bestimmte Auffassung über die Kräfte und Mächte, die im Entstehen und in der Transformation von Subjektformen wirksam sind. Drittens verbindet sie ein strategisches oder praktisches Ziel, ein Wille zur Wirksamkeit, nämlich durch Destabilisierung und Neuverhandlung von Lebensformen und –vollzügen, die in genealogischen Texten durch den drastischen Aufweis der Kontingenz bestehender Geltungen erreicht werden sollen.“ (293)

Und weshalb setzt genealogische Kritik am Selbst an? Saar konstatiert:

„Genealogische Kritik ist kein universell einsetzbares Verfahren, aber eine effiziente spezifische Form lokaler und immanenter Kritik mit einem bestimmtem Gegenstandsbereich, nämlich allen im weitesten Sinn selbstbildenden, subjektivierenden Praktiken, und einem bestimmten Ansatzpunkt, nämlich dem Selbst und seinem Verständnis von sich und Verhältnis zu sich. Nur an diesen Gegenständen und mit diesem Ansatzpunkt ist … die historisierende und auf Praxis zurückführende Beschreibung, die die Grundoperation der Genealogien ist, eine kritische, d.h eine machttheoretische mit einem Negations-  oder Verwerfungseffekt. Und nur an diesen Gegenständen, nämlich den Praktiken, die das Selbst wiederum zum Gegenstand haben,  entfalten Genealogien ihre identitätskritsche und subversive Kraft. … die genealogische Kritik des Selbst (ist) eine politische Praxis.“ (295)

Sie wird wirksam als

„Geschichten der Genese von Selbstverständnissen und der Konstruktion von Selbstverständnissen, adressiert an die Träger dieser Selbstbilder, und zwar in der Form von Machtgeschichten, die in den Zuhörern Zweifel an der Notwendigkeit ihres eigenen So-Seins auslösen oder verstärken.“ (309)

Saar gibt zu, dass das grundsätzliche philosophische Vorgehen Nietzsches und Foucaults als Kritik zu verstehen, durchaus bestreitbar sei. (310) Doch zugleich betont er, dass die damit vorgeschlagene Deutung der Genealogie als Kritikform für spezifische kultur- und gesellschaftskritische Ziele durchaus geeignet sei, nämlich für eine machtsensible Beschreibung von Subjektwerdungsprozessen, ohne ein generell einsetzbares Kritikinstrument darzustellen. (313) Sie mache die Subjekte aufmerksam auf gewisse eigene schädliche Komplizitäten mit schädlichen Ordnungen. (331)

Zu fragen ist natürlich, was schädlich ist und wie wir dazu kommen, etwas als schädlich zu betrachten und abzulehnen. Das hängt von der Überzeugungskraft der genealogischen Geschichten ab, die erzählt werden und die dazu führen können, nicht so ein Subjekt werden zu wollen oder gar schon zu sein. Eine solche Geschichte findet sich zu Anfang der Ordnung der Dinge, in der eine Kurzgeschichte von Borges erwähnt wird, die zur Geschichte der europäischen Denksysteme absolut nicht passt: eine chinesische Enzyklopädie zum Reich der Tiere, die eine ganz andere ontologische Ordnung enthält als „wir“ sie gewohnt sind, in der die Grenze unseres Denkens überschritten wird und es unmöglich erscheint, so etwas zu denken. In Foucaults Essay „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ sieht Saar „nichts Geringeres als Foucaults eigene programmatische Absichtserklärung für eine alternative Geschichtsschreibung.“ (299)

Die genealogische Kritik ist eine kritische Perspektive auf das Subjekt, „die vom Selbst ausgeht und sich von dort her auf die sozialen Ordnungen in ihrer subjektprägenden Macht richtet.“ (335) Das kann sie, wenn sie das Gefühl erzeugt, „bei seiner eigenen Unterwerfung beteiligt zu sein. (341) „Zu jeder erfolgreichen Genealogie gehört aber jemand, der selbst sagt: so nicht.“ (346)

Genealogische Kritik ist jedoch nicht die einzig mögliche Form der Kritik, es gibt andere, die ebenfalls zu verwenden sind, indem man, um nur ein Beispiel zu nennen,  z.B. den Anspruch der christlichen Werte, universell zu sein, mit den Realisierungen christlicher Ethiken ins Verhältnis setzt.

Saars „Genealogie als Kritik“ ist ein philosophisch anspruchsvolles Werk und daher sicherlich nicht zur Feierabendlektüre geeignet. Es ist selbst eine genealogische Geschichte, wenn man bereit ist, sich ihr auszusetzen. Für eine fundierte Auseinandersetzung mit Kritischer Diskursanalyse (und sich selbst) sowie den Gesellschaften, in denen wir leben, ist sie unersetzlich.

Martin Saar
Genealogie als Kritik
Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault
2007 Frankfurt/New York: Campus
383 Seiten, 37,80 Euro