Zur Lage des Marxismus

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Ein Tagungsbericht von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 27 (2014)

 

Vom 13. bis zum 15. Dezember 2013 veranstaltete die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG), die Rosa- Luxemburg- Stiftung und der Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen an der Humboldt Universität Berlin (akj-berlin) die Tagung „Zur Lage des Marxismus“ im Audimax der Humboldt Universität. Die hohe Teilnehmerzahl von ca. 300 konnte angesichts der verstärkten marxistischen Debatte über Ursachen und Konsequenzen der seit Jahren andauernden weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise nicht überraschen.

„Wo hat das kritische Wissen in der Gesellschaft seinen Platz, damit es nicht verloren geht und weiterentwickelt wird? Wie beziehen wir uns auf Marx? Welches Wissen haben wir, woran arbeiten wir, welchen Einfluss haben wir? Wie verbinden wir emanzipatorische Bewegungen? Wie kann man die Diskurse der Gewerkschaften beeinflussen und wie können wir uns einbringen? Wie können wir die brennenden gesellschaftlichen Fragen zu Verarmungsprozessen, zur Ökologie, zum Feminismus und vielen mehr mobilisierungsfähig bündeln? Wie kann der Umschlag in Praxis stattfinden?“ Auf diese zentralen Fragestellungen verwies Alex Demirović in seinen einleitenden Ausführungen. Die mobilisierungsfähige Bündelung bzw. der Umschlag in Praxis fehle in der bisherigen Marxismus Debatte. Positiv sei zu werten, dass akademische Stützpunkte kritischer Gesellschaftsforschung an den Universitäten in Wien, Frankfurt, Marburg, Kassel, Jena, Essen und Berlin vorhanden seien.

Elmar Altvater referierte zu dem Thema „Warum und zu welchem Ende beschäftigen wir uns im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit Marx und dem Marxismus?“ Er führte aus, dass für ihn die Beschäftigung mit der Kapitalismusanalyse von zentraler Bedeutung sei. Die Krise von Arbeit, Geld und kapitalistischer Produktionsweise zu erklären, dies leiste nur die Marx‘sche Wissenschaft. Mit der Mehrwertrate schwanke auch die Profitrate, die die zentrale Steuerungsgröße im Kapitalismus sei. Die gegenwärtige Austeritätspolitik sei autoritär und antidemokratisch und die zerstörerische Kraft der Krise werde verstärkt. Der Kapitalismus selbst kollabiere nicht. Durch die schöpferische Zerstörung – hier bezog sich Altvater positiv auf Joseph Schumpeter – erfolge nach der Krise wieder ein Aufschwung. Allerdings werde die Natur durch die kapitalistische Produktion irreversibel zerstört, da immer mehr Schadstoffe und Treibstoffe produziert würden und so die Zerstörung des Planeten bis zum Kollaps weitergehe. Zu fragen ist hier allerdings, wie das zusammenpasst: Der Kapitalismus kollabiere nicht, zerstöre aber die Natur irreversibel bis zum Kollaps? Dann hat der Kapitalismus also doch ein Grenze und damit auch die sogenannte schöpferische Zerstörung? Zentrale Aussage in seinem Vortrag war, dass es nur durch eine marxistisch-materialistische Kritik möglich sei, die planetarisch- ökologischen Menschheitsprobleme, die durch die kapitalistische Produktion verursacht würden, zu verstehen und zu lösen.

Frank Deppe sprach über die Entwicklung des Marxismus im 20. Jahrhundert, um dann wie Demirovic und Altvater zu konstatieren, dass das öffentliche Interesse am Marxismus seit der Finanzkrise zugenommen habe. Ohne Klassenkämpfe und Arbeiterbewegung gäbe es keinen Marxismus. Die Krisen und die Austeritätspolitik produzierten mit ihren Spaltungs- und Verteilungsprozessen soziale Unruhen, sodass die Fragen nach Alternativen jenseits kapitalistischer Verhältnisse immer drängender würden.

Auf die lange Zeit betriebene Ausgrenzung des akademischen Marxismus gegenüber dem Feminismus und auf das bisweilen heute immer noch spannungsreiche Verhältnis gingen Birgit Sauer, Katharina Hajek, Pia Garske, Katharina Pühl, Nikita Dhawan und Maria do Mar Castro Varela in ihren Ausführungen ein. Birgit Sauer umriss dieses Verhältnis von Feminismus und akademischen Marxismus als Bewegungs- und Befreiungswissenschaft von Ausbeutung und patriarchalischer Herrschaft. Sie verwies auf die Verbindung zwischen Klasse und Geschlecht. Auf den langen Kampf um die Institutionalisierung des Feminismus gingen u.a. mehrere Beiträge ein. Dies betonte auch Silvia Kontos und verwies darauf, dass der Feminismus früher an den Universitäten als „Frauenförderung“ bezeichnet und diskriminiert wurde. Sie zeigte an der Debatte um die Hausarbeit der 1970er Jahre, wie auch der akademische Marxismus diese Diskussion ignorierte, da die Hausarbeit ja keine mehrwertschaffende Arbeit beinhalte. Sie hingegen machte deutlich, wie diese unbezahlte und von Frauen geleistete Arbeit sehr wohl indirekt zur Mehrwertproduktion beitrage. In ihrem Referat ging sie dann auch auf die heutige Pflege- und Sorgearbeit ein, deren Spuren des kapitalistischen Zuschnitts und die umfassende Care-Krise im Postfordismus. Die subalterne Rolle der Frau im Kapitalismus müsse zurückgewiesen werden. Der Marxismus müsse sich dafür notwendigerweise öffnen.

Michael Heinrich konnte die Ausführungen von Frank Deppe zum Verhältnis Klassenkämpfe, Arbeiterbewegung und Marxismus so nicht mittragen. Er machte deutlich, dass dabei ein Ausblenden der Organisationen der Arbeiterbewegung vorläge, da hier ja auch intern Machtkämpfe und Ausschlussverfahren stattgefunden hätten. Der Marxismus wäre so auch zum Herrschaftsmittel geworden. Er bezog dies historisch auf die SPD vor dem 1. Weltkrieg und auf den Stalinismus. Der Marxismus sei also nicht nur Herrschafts kritik gewesen. Deshalb habe er mit dem „Ismus“ Probleme. Marx selbst habe gesagt, er sei kein Marxist. Hinsichtlich heutiger linker Hochschullehrer sei er skeptisch, da häufig eine Selbstzensur stattfände um Karriere zu machen. Die Arbeit an der MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe), die er sehr hoch einschätze, werde im Marxismus nur widerwillig zur Kenntnis genommen, da bisherige „Gewissheiten“ ins Wanken gerieten. Als Beispiele nannte er „Die deutsche Ideologie“, die es so nie gegeben habe. Auch das „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ von Marx müsse zumindest aufgrund der Quellen mit einem Fragezeichen versehen werden. Heinrich führte aus, dass er nicht die Möglichkeit eines Profitratenfalls bestreite. Was er allerdings kritisiere sei, dass die Profitrate in jedem Fall langfristig fallen müsse. Das in den Originalmanuskripten vorliegende Material ließe zumindest Zweifel an diesem Gesetz aufkommen. Diese Ausführungen von Heinrich machen deutlich, dass die kontroverse Diskussion um dieses „Gesetz“, die ja ganze Bände füllt, durch die Veröffentlichung der MEGA neu befeuert wird.

Thomas Sablowski kritisierte in seinen Ausführungen, dass linke Intellektuelle zu Blockupy keine strategische Debatte geführt hätten, wo und warum man sich hätte einklinken können. Zur Marxschen Theorie gäbe es keine Alternative, auf ihrer Basis müsse weitergearbeitet werden.

Für Klaus Dörre gibt es nicht den Marxismus, sondern eine gewisse Pluralität, die bei Marx selbst angelegt gewesen sei. Es habe auch Brüche und Ungereimtheiten im Marxschen Denken gegeben. Wichtig sei aber der Kern in der Marxschen Theorie.

Eines der folgenden Themen der Tagung „Kritische Wissenschaft als generationsübergreifendes Projekt“ (mitorganisiert von reflect!) mutete begrifflich erst einmal etwas irritierend an. Umso überraschender entwickelte sich eine sehr interessante und spannende Debatte mit Redebeiträgen von Katharina Pühl, Nikita Dhawan, Maria do Mar Castro Varela, Ingo Stützle und Benjamin Opratko und vielen Diskutierenden. Und das hatte seinen Grund: Ging es doch hier um die biografische Verbindung mit politischer Sozialisation. Wie, durch wen und wodurch wurde man/frau sozialisiert und wie gestaltet sich die heutige wissenschaftliche und politische Arbeit in und außerhalb von Universitäten. Es würde den Rahmen dieses Tagungsberichts sprengen, hier auf alle biografischen Beiträge einzugehen. In der Diskussion ging es auch um die Schwierigkeit der Etablierung kritischer Wissenschaft an den Universitäten, bedingt durch entsprechende Machtverhältnisse. Katharina Pühl sprach sich für eine Erweiterung von Marx durch Foucault aus, Ingo Stützle sah in der Institutionalisierung kritischer Wissenschaft auch die Gefahr einer Tradierung und Maria do Mar Castro Varela sagte, dass kritische Theorie nicht ohne Selbstkritik zu haben sei.
Die abschließende Diskussion der Tagung über „Anschlüsse an Marx“ beschäftigte sich mit aktuellen Forschungsschwerpunkten und Herausforderungen, um die Rolle der AkG und anderer Projekte. Sonja Buckel sprach sich für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen AkG, Wissenschaft, linken Spektren in Parteien, NGO`s u.a. aus. Alternative Wissensproduktionen müssten einbezogen werden; es sei wichtig, sich auf unterschiedliche Logiken einzulassen. Unmissverständlich machte sie deutlich, dass für eine Kapitalismuskritik Marx unbedingt benötigt werde, aber darüber hinaus auch weitere Theorien. Hier müsse der Marxismus für eine Anschlussfähigkeit offen sein.
Auch wenn kein kohärentes Tagungsprogramm vorgelegt wurde bzw. angesichts der Debatte zum Marxismus nicht vorgelegt werden konnte, und auch der Titel „Zur Lage des Marxismus“ nicht als festes Theoriegebäude zu verstehen war, so zeigten die Redebeiträge und intensiven Diskussionen die Wichtigkeit einer solchen Tagung, weil kritische Theoriediskussionen in die marxistische Forschung Eingang gefunden haben. Dies wurde hier u.a. an queer-feministischen und ökologischen Theorien erkennbar. Die Krisenanalyse mithilfe Marxscher Theorie, Fragen zur Klasse und zum Klassenkampf, die Verbindung universitärer und außeruniversitärer Zentren und das intensive Bedürfnis, die Debatte zum Marxismus und die Einflussmöglichkeiten in emanzipatorischen Bewegungen nicht isoliert, sondern im kollektiven Dialog zu führen, getragen vom gegenseitigen Respekt, lassen erkennen: Um den Zustand des Marxismus im deutschsprachigen Raum ist es nicht so schlecht gestellt. Anschlusstagungen werden folgen.