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Wie man unseren Kindern das Lernen vermiest

Ein Beitrag zum Thema „Rechtschreibung“. Von Siegfried Jäger.

Erschienen in: Diskussion Deutsch 15, S. 20-33. Nachdruck in: W. Klute (Hg.). Orthographie und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1974.

Für Hannes, Katrin et al. und gegen den geplanten Mutismus.

Das folgende ist leider exemplarisch, d.h. zu verallgemeinern. Im ersten Schuljahr einer städtischen Grundschule wird bereits nach wenigen Tagen eine Bewertung für die Hausauf¬gaben eingeführt: ein Strich = schlecht, ein Kreuz = in Ordnung, zwei Kreuze = schön. Der Protest gegen diesen Versuch, die Kinder von Anfang an unter einen Leistungsstreß zu stellen, der jede wirkliche Leistung auf die Dauer verhindert, wird abgewehrt: „Die Eltern wollen und müssen wissen, wie ihr Kind steht, außerdem muß ich ja bald Noten geben.“ Das die Bemerkung einer wissenschaftlich ausgebildeten Expertin für Kindererzie¬hung, die unter dem Streß des Widerspruches zwischen administrativ angeordnetem Unfug und möglicherweise besserem Wissen ebenso steht wie der Hochschullehrer, der eine Prü¬fung, die den Unfug der Notengebung zum Gegenstand hat, benoten muß.

Nach fünf Monaten Unterricht werden im ersten Schuljahr bereits benotete Diktate geschrieben. Dabei geschieht es, daß sich das an sich schon sinnlose Verfahren durch starr-schematische Auslegung von Anordnungen verselbständigt und z.B. vergessene i-Punkte geeignet sind, eins Diktatnote um mehrere Grade nach unten zu drücken.

Ich will hier keine wissenschaftliche Begründung für den Unfug auf extrinsische Motiva¬tion gerichteter Leistungsbewertung (durch Sternchen, Kreuzchen, Noten oder objektive Tests) geben. Das habe ich zusammen mit D. Duhm ausführlich an anderer Stelle getan. ((Vgl. S. Jäger, D. Duhm, Notengebung – Kritik und Alternativen. In: Linguistik und Didaktik 2, H. 7, S. 165-183.)) Mir geht es hier um einen Appell dafür, dem administrativ angeordneten Unfug ein Ende zu setzen.

Daß unsere Rechtschreibung widersprüchlich und der Vereinfachung höchst bedürftig ist, hat sich inzwischen herumgesprochen – bis in die Ministerien und sonstige abgelegene Orte. Trotz dieser Einigkeit, die nur deshalb noch nicht zu Konsequenzen geführt hat, weil dem scheinbar (?) politische Gründe entgegenstehen, ist die Frage der Bewertung von Rechtschreibleistungen offenbar noch zu wenig deutlich gestellt worden. Diese Bewer¬tung fördert nicht den Erwerb einer Kulturtechnik (ganz zu schweigen von den eigentlichen Zielen des Deutschunterrichts), sie erschwert oder verhindert ihn. Man kann sich des Ver¬dachts kaum noch erwehren, daß dahinter die Absicht zur Verdummung unserer Kinder steht. Die Note in Rechtschreibung, als ungeeignetes Meßinstrument für Leistungsfähigkeit allseitig längst erkannt (!), eignet sich dennoch hervorragend für die Legitimation von Ausleseprozessen. Unangepaßte (= kritische, nicht auf blinden Gehorsam gedrillte) Kinder aller Schichten, besonders aber der Unterschicht, können auf diese Weise weiterhin regle¬mentiert und relegiert werden.

Die folgenden Beispiele, es handelt sich um Diktate aus der Mitte des ersten Schuljahrs, deren inhaltlicher Schwachsinn einem Sprachunterricht im letzten Drittel des 20. Jhs ein Armutszeugnis ausstellt, mögen die herrschende Bewertungspraxis unter Beweis stellen:

1. a a a nun sind wir alle da
0 Fehler!
(Zeichen der Lehrerin)
(Unterschrift der Mutter)

2. e e e der Esel ist am See
0 Fehler
(Zeichen der Lehrerin)
(Unterschrift der Mutter)

3. i i i ich hole die Mon
0 Fehler
(Zeichen der Lehrerin)
(Unterschrift des Vaters)

4. Uwe baut einen Schneemann
Jan baut einein lk Schnee V
Tapp baut einen Schneetapp
2 Fehler
(Zeichen der Lehrerin)
(Unterschrift der Mutter)

5. Win win wehe
im Wala das V
V Rehe, im Wala ist
auch Futter V die Rehe.
5 1/2 Fehler
ausreichend!
(Zeichen der Lehrerin)
(Unterschrift der Mutter)

6. Uwe ist der Zauberer.
Sim se la bim.
Er will zaubert.
Tapp ist v ein Wolf.
Er ist auch ein F v.
Er ist wieder ein lieb Tapp.
5 ganze Fehler 6 halbe i-Punkt-Fehler
zus.: 8 Fehler
mangelhaft!
(Zeichen der Lehrerin)

Bleiben wir einen Moment bei dem letzten Diktat. Das Kind traute sich nicht, seiner Mutter den „Markel“ zu gestehen. Erst auf gutes Zureden hin war es bereit, das Heft zu zeigen. Als der Vater sich für die Sache interessierte, brach das Kind schweigend in Tränen aus. Dies, obwohl es zu Hause nie unter extrinsisch motiviertem Leistungsdruck gestanden hat. Es zeigt sich, daß die Schule dem lebhaften und intelligenten Kind (IQ über 120) bereits nach wenigen Monaten zum Greuel geworden war.

Der Mutismus nimmt seinen Anfang.

Sehen wir uns die Fehler genau an. Sechs i-Punkte sind vergessen. Das muß geahndet werden. Ordnung muß sein, egal ob du hinterher weinst (auch wenn du nur weinst, weil ich dir erst einbleuen muß, daß das etwas Schlimmes ist!) Dann hast du sa falsch geschrieben. Dieses Wort mußt du kennen. Es ist ein wichtiges Wort! Wie, du weißt nicht, was es bedeutet? Macht nichts, du mußt es trotzdem richtig schreiben. Auch im späteren Leben wirst du Dinge tun müssen, die du nicht verstehst. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. Du hast zaubert geschrieben statt zaubern. Weißt du nicht, daß nach einem Modalverb als Finitum das Verb im Infinitiv steht? Oder erlaubtest du dir etwa, beim Schreiben an die 3. Person zu denken, die da zaubert? Sie zaubert zwar, aber ich bestimme, daß sie zaubern will. Was? Du meinst, wenn Tapp (der Bär) plötzlich nun ein Wolf ist, dann muß Uwe nicht nur zaubern wollen, sondern wirklich zaubern? Unsinn, Logik ist hier nicht dran, wir schreiben. Und dann hast du vergessen, daß Tapp nun ein Wolf ist. Was? Du verstehst nicht, wieso nun, weil nun die Gleichzeitigkeit mit der Handlung aus¬drückt; das hat dich verwirrt? Du meinst, es müsse statt nun vielleicht im Nu oder bald darauf heißen? Unsinn – hier soll nicht gedacht werden, sondern geschrieben! Wo kämen wir hin, wenn jeder, statt blind das Falsche zu tun, vor lauter Nachdenken gar nichts mehr täte? Wie, und du kannst dir nicht vorstellen, daß Tapp, der Bär, der Wolf auch ein Fuchs ist. Du bist da einfach zu logisch, erstens weil beim Zaubern aus einem Tapp durchaus ein Wolf und ein Fuchs werden kann und zweitens, weil dich die Logik der Syntax dazu verführt, anzunehmen, ich hätte hier einen logischen Text machen wollen. Ich will keinen logischen Text machen. Wo kämen wir denn hin, wenn du später im Leben alle Anweisungen auf ihre Richtigkeit überprüfen würdest? Merk dir: Wer ein Amt hat, hat auch den Verstand! Wer das nicht einsieht, wird bestraft! Sei froh, daß ich dir dafür nur einen Schreibfehler ankreide! Später kommst du nicht so leicht mit sowas davon. Stell dir vor, ich würde so denken wie du und aus der Unlogik und Irrationalität der Notengebung die Konsequenzen ziehen! Auf der Straße stünde ich. Du denkst ja fast verfassungs¬feindlich. Und scheu dir das an: Er ist ein lieb Tapp! Er ist natürlich kein lieb Tapp, sondern ein lieber Tapp. Er ist nicht lieb, er ist ein lieber, 1-i-e-b-e-r. Was ? Du verstehst den Zusam¬menhang nicht? Ein Wolf, ein Fuchs, ein lieber? Du meinst, Wölfe und Füchse seien nicht lieb. Ganz falsch! Ich hab zwar wieder nicht gesagt, daß Uwe ihn wieder entzaubert hat. Das geht dich auch nichts an. Wie soll er denn sonst wieder lieb geworden sein? Du meinst, du könntest dir zwar vorstellen, daß ein Bär Tapp heißt oder ein Wolf oder ein Fuchs, und auch, daß ein Wesen namens Tapp lieb ist, weil du noch in einer Entwicklungsphase bist, wo du Ereignisse reihst? Das ist doch psychologistischer Unfug. Überhaupt die Psycho¬logie! Ich bin kein Psychologe, ich bin Pädagoge. Mich interessiert nicht, was in deinem Kopf vorgeht, sondern nur, ob ich dir beibringen kann, was ich will und muß. Und ich muß dir richtig schreiben beibringen. Wie, deine Kreativität? Die geht mich nichts an, basta! Jetzt ist aber Schluß: Du fragst auch noch, was der ganze Text soll? Du beschwerst dich, daß ich dich mit Irrationalem belästige, nur damit du lernst, dich im späteren Leben dem irrationalen und entfremdeten Produktionsprozeß einzuordnen? Wie das, das klingt ja nun wirklich direkt verfassungsfeindlich! Schluß jetzt, und merk dir: Kinder, die in Deutsch eine Fünf haben, bringen es zu nichts. Was meinst du denn, wozu es Sonderschulen gibt? Mach, daß du an deinen Platz kommst!

Der Mechanismus, den ich in diesem Monolog zu umreißen versucht habe, funktioniert. Nach 13 Jahren Anwendung sind die Betroffenen so weit, daß sie schweigen gelernt haben. Sie sitzen dann zuerst schweigend in den Seminaren, unterziehen sich schweigend den Torturen der Prüfungen, schweigen später nach bestandener Prüfung gegenüber der Obrigkeit und funktionieren autoritär in der Klasse, oft noch immer mit Stock und Maul¬schelle. Ohnmächtig, sprachlos geworden, reproduzieren sie schweigende Mehrheit. ((Vgl. auch Konrad Wünsche, Die Wirklichkeit des Hauptschülers. Köln 1972.))