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Eiertanz um den heißen Brei

Die Debatte um den Kulturbegriff in der Jungen Freiheit. Von Siegfried Jäger

Erschienen in: Helmut Kellershohn (Hg.) 1994: Das Plagiat. Der völkische Nationalismus der Jungen Freiheit. Duisburg, S. 153-180.

Einleitung

In der Septemberausgabe der JF des Jahres 1992 erscheint ein grundlegender Artikel von Andreas Molau, in der JF für die Sparte Kultur verantwortlich, mit dem Titel Kampf um einen neuen Kulturbegriff. Auf diesen Artikel reagiert Stefan Ulbrich (zu dieser Zeit Redakteur für das Ressort Politik) in der nächsten Ausgabe der JF, und zwar ziemlich heftig. Titel der Replik: Es entsteht eine neue Kultur, Dachzeile: Antwort auf Molaus Kampf um einen neuen Kulturbegriff (JF 9/92). Dieser Konfrontation war ein Jahre währendes Geplänkel vorangegangen, bei dem es um die Frage ging, ob ’neurechte‘ Ideen im Gefolge von Alain de Benoist, wie Stefan Ulbrich oder Marcus Bauer sie vertreten, in den Rahmen einer insgesamt die JF dominierenden jungkonservativen Option integrierbar oder vielleicht sogar wegweisend für eine politische Gesamt-Strategie der JF sein könnten. ((Zu Andreas Molau vgl. den Beitrag von Helmut Kellershohn 1994))

Ich möchte zunächst die beiden Hauptartikel vorstellen und etwas genauer analysieren, ehe ich anhand weiterer Artikel der Frage nachgehe, wie sich der Streit um den Kulturbegriff in der JF darstellt und zu welchem vorläufigen(?) Ende er gekommen ist. Dabei soll es mir nicht allein darum gehen, die Argumentationslinien der Debatte nachzuzeichnen und bezüglich ihrer Stringenz, ihrer vorausgesetzten Standpunkte etc. kritisch zu beleuchten. Zugleich richtet sich mein Augenmerk auch auf die Form der Präsentation und die propagandistisch-diskursiven Wirkungsmittel der hier zu beobachtenden „Ansprache“. ((In dieser Hinsicht hat mein Beitrag für dieses Buch exemplarischen Charakter. Er gibt ein Stück Einblick in die propagandistische Werkstatt der JF, ohne dass hier der Anspruch gestellt würde, dass dieser umfassend wäre. Er kann schon allein deshalb nur einen gewissen Ausschnitt bieten, weil Redaktion und Mitarbeiterstamm der JF überaus häufig wechseln. – Zu dem hier angewandten Konzept der Diskursanalyse vgl. Jäger 1993 und 1994))

Formzwang und Traditionalismus. Andreas Molaus Kampf um einen neuen Kulturbegriff (JF 9/92)

In diesen Artikel sind drei eingerahmte fett gesetzte Zwischenüberschriften plaziert:

Wenn man diese Überschriften gelesen und einen Blick auf die Fotos geworfen hat, ist die Frage, wie Molau sich den Kampf um einen neuen Kulturbegriff und dessen Inhalt vorstellt, schon in den wesentlichen Zügen beantwortet:

Wenn Erziehen nicht Verändern bedeutet, dann heißt dies: Man kann nur von einer natürlichen Ausstattung des Menschen ausgehen, die man formen, aber im Kern nicht verändern kann. Hier deutet sich an: Molau huldigt einem letztlich biologistischen Menschenbild.

Wenn Vermassung und Demokratisierung der Kultur kritisiert und damit der Niedergang der Kultur (Vermassung) mit Demokratisierung gleichgesetzt wird, tritt die anti-demokratische Einstellung Molaus bereits offen zu Tage.

Wenn eine konservative Rückkehr zu Formzwang und Traditionalismus eingefordert wird, ist die im Kern ‚altrechte‘ Position Molaus bereits markiert.

Doch schauen wir uns die Argumentation Molaus im einzelnen an. ((Den folgenden knappen Zusammenfassungen der einzelnen Abschnitte habe ich jeweils noch eine kursiv gesetzte „Überschrift“ vorangestellt.))

Inhaltsangaben zu den Abschnitten

1. Abschnitt: 3-29 ((Die „Abschnitte“ entsprechen den graphischen Hervorhebungen. Die Zahlen beziehen sich auf die jeweiligen Zeilen des Artikels.)): Eine neue, konservative Kulturvorstellung muß her. Das Beklagen des Verlustes der konservativen Kulturhoheit reicht nicht aus.

Kultur wird von den „Grundfunktionen und Bedürfnissen“ des Menschen unterschieden und als das charakterisiert, was unabhängig von diesen „das Zusammenleben der Menschen […] ausmacht“ (9-11). Molau betont, daß die Frage, was Kultur ist, gerade für diejenigen wichtig sei, die diesen Begriff nicht mit Leben füllen. Denn Kultur hänge vom Menschen und seiner Haltung ab, sie sei deshalb zeitbezogen und veränderbar (11-16). Das ist auf diejenigen Rechten gemünzt, die den Verlust der guten alten Zeit und der Hoheit über die Kultur beklagen, womit sie zwar auch recht hätten, da dieser Gedanke eine gute Grundsubstanz darstelle. Diese Klage allein reiche jedoch nicht und sei nicht sonderlich fruchtbar. Sie sei nur Ausdruck der Langeweile am (linken) Kulturbetrieb. Dies schaffe jedoch nicht die Grundlage für eine neue, konservative Kulturvorstellung.

2. Abschnitt: 30-58: Entscheidend ist das, was immer gilt.

Molau schlußfolgert: Von größter Bedeutung sei daher die Suche nach dem, „was immer gilt“. Und das hänge vom Menschen ab und von dem, „was er ist“. Linke und Liberale wollten formen und gestalten und nähmen nicht zur Kenntnis, was immer gilt. Es folgt ein Verweis auf Marcuse, der fordere, daß die Menschen vom falschen zum richtigen Bewußtsein finden müssen. Hier werde der Mensch als rationaler Koordinator gesehen, der seinesgleichen nach bestimmten Vorstellungen formen wolle. Das anerkenne zwar das Gegebensein und die Notwendigkeit von Autorität, ziele aber am Kern des Menschen vorbei, ebenso wie solche liberalen Haltungen, die den Menschen in einer einzigen Welt (One world) als frei, gleich und brüderlich ansähen. Das Ungeheuerliche daran sei die Vorstellung, der Mensch könne sich selbst bestimmen bzw. diejenigen Menschen könnten dies, die zu wissen vorgeben, was das Richtige sei.

Hier folgt dann die fette Zwischenüberschrift:

3./4. Abschnitt: 59-128: Grundlage des konservativen Kulturbegriffs ist Gehlens Menschenbild. Der Mensch ist unfertig, riskiert und muß die Kultur annehmen und sich deren Formzwang unterwerfen.

Was das Richtige sei, dies sei nicht Meinungssache: „was aber wahr ist, darüber kann es keine ‚Meinung’ geben, darüber muß Erkenntnis herrschen“ (61f.).

Als Kronzeuge für „Erkenntnis“ wird Arnold Gehlen zitiert: Was der Mensch sei, könne nur aus ihm selbst heraus beantwortet werden. Er sei aus der übrigen Schöpfung herausgehoben. Er sei ein unfertiges Wesen. Seine biologische Grundausstattung reiche nicht zum Überleben. Das Unfertigsein müsse logischerweise ausgeglichen werden. Das zu können, gehöre zum biologischen Programm des Menschen. Es müsse und könne „in Form gebracht werden“ (83), und zwar durch „Zucht“ (84). Das könne mißlingen, deshalb sei der Mensch das „riskierte Wesen“. Alle Mängel werden aber zugleich als Mittel der Existenz angesehen. In der Handlung gleiche der Mensch die organische Mängelhaftigkeit aus. Der Mensch stehe der Natur gegenüber, er sei nicht Naturmensch. Daraus leite Gehlen „einen arbeitsfähigen Kulturbegriff“ (sic!) ab, nämlich:

„Kultur soll uns sein: der Inbegriff der vom Menschen tätig, arbeitend bewältigten, veränderten und verwerteten Naturbedingung, einschließlich der bedingteren, entlasteten Fertigkeiten und Künste, die auf jener Basis erst möglich werden“(103-108). ((Dieses Zitat stammen aus Gehlen 1986a, S. 39. Molau zitiert ungenau. Bei Gehlen ist von „Naturbedingungen“ die Rede; daraus wird bei Molau „Naturbedingung“. Das ist nicht ganz unwichtig. Während Gehlen die Vielfalt der Naturbedingungen anspricht, gerinnen diese bei Molau im Singular zu einer Art Prinzip. Auch hebt Gehlen das Wort „entlasteten“ hervor, was Molau nicht tut. Entlastung ist aber bei Gehlen ein wichtiger Begriff; er steht der unmittelbar und naturhaft gegebenen „Belastung“ gegenüber, die zur Entlastung drängt. Wird diese Hervorhebung unterschlagen, wird die besondere Rückvermitteltheit der „Fertigkeiten und Künste“ an die Naturbedingungen, auf die Gehlen so großen Wert legt, zumindest abgemildert.)) ((Es sei die historisch erarbeitete Wirklichkeit, die zum Ordnungskriterium werde. Die brauche der Menschen, um seine Riskiertheit, seine Bio-Grundlage zu überwinden. – Das klingt möglicherweise auch für linkes Denken auf den ersten Blick interessant, denn die Elemente des Biologischen und Sozialen sind da – aber als Dualismus, uns nicht als dialektische Einheit.))

Das sei eine Ordnung. Sie müsse deshalb stattfinden, weil sich der Mensch einer Vielfalt von unspezifischen Sinneseindrücken gegenübersehe, die er auf ein aufnehmbares Maß reduzieren müsse. Der Mensch sei nämlich weltoffen. Das bedeute aber nicht Beliebigkeit in der Gestaltung des Kulturraumes, sondern verweise auf die unbedingte Notwendigkeit der Kultur für die menschliche Existenz und beschreibe zweitens den unbedingten Formzwang. Der Mensch brauche die Kultur/Ordnung und den Formzwang. Dies sei mehr als die Forderung, man solle zum Alten Schönen zurück. Andererseits verweise es darauf, daß der Mensch Kultur nicht allein für sich selbst (individuell – S.J.) definieren könne.

5. Abschnitt: 129-142: Kultur muß vermittelt werden. Sie ist nicht statisch, sondern wird durch Kunst verändert.

So verstandene Kultur müsse vermittelt werden. Das bedeute keinen statischen Kulturbegriff. Kunst sei Abweichung vom Gebräuchlichen: So sei Sprache ein Gebrauchsgegenstand, zu Dichtung geformt sei sie Kunst.

6. Abschnitt: 143-176: Gemeinsame Kultur ist heute in Individualisierung aufgelöst. Das Kulturelle Erbe wird nicht mehr vermittelt. Universalismus und Beliebigkeit treten als Multikultur an die Stelle der Kultur.

Mitten in diesem Abschnitt findet sich die zweite Zwischenüberschrift:

Seit der Moderne gebe es aber für den Lebensraum Kultur erstens Vermassung (= Demokratisierung des Kulturbereichs) und zweitens die Ablehnung eines traditionellen Kulturbegriffs. In der Schule sei die Vermittlung des kulturellen Erbes nicht mehr erwünscht, weil dieses im Verdacht stehe, doktrinär zu sein. Man lege mehr Wert auf die Selbstfindung des Einzelnen. Ein einheitliches Bewußtsein, das durch die Tradition bestimmt werde, gebe es nicht mehr. Wenn überhaupt, dann gebe es ein universelles, multikulturelles Bewußtsein.

Im Grunde gehe es in die Richtung einer absoluten Individualisierung; dies komme einer gänzlichen Beliebigkeit für die Kultur gleich (169). Individualisierung sei aber nicht die wirkliche individuelle Ausprägung des Einzelnen. Diese sei nur scheinbar, Vorwand, „da der Einzelne als Individualität seinen Wert erst in der Massengesellschaft verliert“ (174-176).

7. Abschnitt: 177-191: Molau spricht sich gegen die Vorstellung der Gleichheit der Menschen aus; diese führe zur Vermassung, die wiederum zur Nivellierung führt, wodurch sich keine Eliten/Führer mehr herausbilden, der Einzelne sich aber individualistisch wertvoll und nicht als Teil der ererbten Kultur empfindet.

Gleichzeitig werde Gleichheit propagiert, wodurch dem Einzelnen seine ‚Wichtigkeit‘ dokumentiert werde. Fernau wird zitiert ((Joachim Fernau war SS-Kriegsberichterstatter und verfaßte noch gegen Ende des Krieges Durchhalteparolen. Vgl. dazu Köhler 1989, bes. S. 69)): Der billigste gesunde Menschenverstand sei heiliggesprochen worden. Vermassung aber bringe Nivellierung. Überragende Einzelpersönlichkeiten könnten sich da nicht herausheben. Zugleich werde alles als Kunst akzeptiert, sofern es sich von der Norm, „auch wenn es die gar nicht mehr gibt“ (190), abhebe.

8. Abschnitt: 192-213: In West-Deutschland ist absolute Beliebigkeit in der Kunst eingetreten, in der DDR knüpfte man am nationalen Erbe an, das aber sozialistisch verunstaltet worden ist.

Für West-Deutschland gelte, daß die schroffe Abkehr von einer traditionellen Kunstauffassung Produkt der Umerziehung sei. Die DDR dagegen habe sich in der Tradition der deutschen Nationalliteratur gesehen. Diese sei aber sozialistisch verunstaltet worden. Sie sei aber nicht so beliebig gewesen wie im Westen. Hier habe man sich von allen Traditionen lösen wollen. – Die Frage laute nun: „Was tun?“

9. Abschnitt: 214-238: Die Rechte muß sich der Kultur annehmen und diese nicht linken Spinnern überlassen, die allerdings zur Zeit alle wichtigen kulturellen Schlüsselpositionen besetzt haben.

Wichtig sei die Erkenntnis, daß sich die Rechte mit Kultur überhaupt beschäftigen müsse. Das sei insbesondere angesichts dessen, was sich bei den Rechten getan habe, keineswegs trivial. Man habe zunächst Prioritäten setzen müssen, und zwar im politisch-historischen Bereich. Kultur sei demgegenüber vernachlässigt worden; Gehlens Hinweise seien nicht beachtet worden. Kultur sei nur als Konsummittel, etwa wie ein guter Wein, angesehen worden. Man habe auch geglaubt, die Leute hätten kulturelle Identität einfach so, ohne daß sie verlorengegangen sein könnte (232). Also habe man diesen Bereich „linken Spinnern“ überlassen (233). Die hätten sich jedoch „gerecht“ (sic!), indem sie alle kulturellen Schlüsselpositionen besetzt hätten.

10. Abschnitt: 241-294: Kulturkampf von rechts tut not, geistige Freiräume sind zu schaffen. Diese müssen gefüllt werden mit einer Kultur, die auf die Menschen zugeht. Nur so ist dem Staat eine ideologische Hegemonie zu sichern.

Das Bewußtsein werde nicht allein durch politische Aussagen bestimmt, sondern durch die Art und Weise der Handhabung kultureller Macht (245).

Politische und kulturelle Auseinandersetzung seien offensiver zu führen, und mit guten Erfolgsaussichten. Denn die Linke sei in all ihren Aussagen gescheitert, auch in der Aussage, die Menschen könnten kulturell völlig bindungslos leben. Die Linke habe aber geistige Tabus aufgebaut, weil ihre Ideale zerbrochen seien. Sie schwebe im geistigen Siechtum. Diese Tabus müßten geknackt werden. Rohrmoser ((Günter Rohrmoser  gilt als christlich-konservativer Sozialphilosoph und beliebter Gesprächspartner insbesondere der ‚Neuen Rechten’ Vgl. dazu Gessenharter 1994, S. 133ff.)) habe beispielhaft gezeigt, wie geistige Freiräume zu schaffen seien, und daß ein Aufbrechen der Tabuzonen möglich sei. Verfahre man so, dann könne (rechte) Kulturpolitik wieder attraktiv werden. Das werde zwar als Populismus gewertet, bedeute aber in Wirklichkeit ein Zugehen auf die Menschen. Dies müsse in einer neuen Literatur und Kunst manifest werden. Ein neues Programm sei nötig, bei dem man sich auf ein Grundinventar kultureller Vorstellungen einigen müsse; dazu gehörten z.B. Formzwang und Traditionalismus. Nach (und mit) Gramsci müsse man davon ausgehen, daß sich der Staat nicht auf den politischen Apparat reduzieren lasse (285). Gramsci habe gesagt, daß der Kultur eine Schlüsselposition zukomme; diese sichere dem Staat eine ideologische Hegemonie, aus der wiederum eine spontane Zustimmung der Mehrheit zu einer bestimmten Auffasssung der Dinge resultiere. Dies würde eine bestimmte Werteskala konstituieren. Die Kultur solle demnach gleichsam Befehls- und Ausgabestelle für Ideen und Werte sein (286-295).

11. Abschnitt: 295-296: „Von wem die Ideen kommen, wird entschieden werden.“

Damit wird dazu aufgerufen, den Kulturkampf aufzunehmen und zu forcieren, denn die Chancen stünden für die Rechten nicht schlecht. Die Entscheidung stehe an. ((Das ist ein etwas kryptischer Satz: Man könnte lesen a. von dem wir entschieden werden? Oder b) wird sich entscheiden? Oder aber c. das wird in einem Kampf entschieden werden, das wird ausgetragen werden, muß ausgetragen werden. Als Appell dafür, den Kampf aufzunehmen! Ich neige zu letzterer Lesart. Das passt zum gesamten Artikel: Kampf um… Auch die Verwendung des Verbs entscheiden spricht dafür. In der Diktion von Carl Schmitt ist die Entscheidung in der Regel mit Kampf und Krieg assoziiert. Vgl. dazu auch den Artikel von Klaus Kriener in diesem Buch Kriener 1994))

Gestaltung und unmittelbares Ambiente des Artikels von Molau ((Ich verzichte hier auf eine Gesamtcharakterisierung des unmittelbaren sprachlichen und nichtsprachlichen Kontextes (= Gesamt-Darstellung dieser Ausgabe der Jungen Freiheit und Darstellung des Diskurses der rechten Szene im Rahmen des aktuellen politischen Gesamtdiskurses der BRD).))

Molaus ganzseitiger Artikel umrahmt zwei DIN A6-große, auf den ersten Blick sehr ähnliche Fotos, die ein Paar zeigen, das vor einem Kunstwerk der Documenta 1992 steht. Die gemeinsame Unterschrift zu diesen beiden Fotos bildet ein ironisiertes Zitat: „Geduldige Besucher auf der Documenta 1992. Ulrich Mieser: ‚Gummiband – In seiner Ovalform, in der er hing, hob er sich von der Wand als Gebilde von äußerster Zartheit ab’.“ Während auf dem oberen Foto ein lächelnder junger Mann mit Brille im Profil neben einer jungen Frau steht, die kleiner ist und die man nur von hinten sieht, und beide offenbar ruhig das an der Wand hängende Gummiband betrachten, neigt sich der Mann auf dem zweiten Foto stärker der Frau zu und zeigt mit gespreizten Fingern auf das „Oval“. Der Mann trägt Anzug mit Schlips, die Frau eine Jeans-Jacke mit einer irgendwie modern wirkenden, aber nicht zu entziffernden Aufschrift. Neben dem „Kunstwerk“ hängt ein beschrifteter Zettel lose an der Wand.

Die sexuelle Symbolik ist unverkennbar, zugleich die Dominanz des Mannes. Seine Fingergestik unmittelbar vor dem Gummi-Oval symbolisiert einen unmittelbar bevorstehenden Geschlechtsakt. Neben einem Verweis auf eine herrschende lockere Sexualmoral macht sich Molau über die sich hier zeigende Kunstauffassung lustig: Anything goes! Diesem Eindruck korrespondiert die im Text geforderte Rückkehr zu Formzwang und Traditionalismus. ((Auch Gehlen wandte sich gegen die „Blutlosen Flunkereien“ der abstrakten Malerei, vgl. dazu Habermas’ Besprechung von Gehlens Moral und Hypermoral, in Habermas 1987a, S. 106))

Die Haupt-Überschrift des Artikels ist zweizeilig gesetzt. Sie benutzt den Stabreim: „Kampf um […] Kulturbegriff“ und schlägt das Thema Kampf/Kultur Kultur/Kampf frontal an.

Komposition und Argumentationsweise

Der knapp 300 Zeilen lange Artikel ist graphisch in 11 Abschnitte unterteilt. Die Gliederung des Artikels läßt sich folgendermaßen rekonstruieren:

  1. Einleitung: 1. Abschnitt: Hinführung
    – Es wird die Frage aufgeworfen, was Kultur ist.
  2. 1. Hauptteil: 2.-5. Abschnitt: Begriffsklärung
    – Anthropologische Grundlegung als Hinführung zum Begriff von Kultur:
    – Explikation des Begriffs von Kultur nach Gehlen
    – Schlußfolgerung: Kultur muß vermittelt werden!
  3. 2. Hauptteil: 6.-8. Abschnitt: Kritik am herrschenden Kulturverständnis
    – Kritik am derzeitig dominanten Umgang mit Kultur
    – Die Folgen des derzeitigen Umgangs
    – Unterschiedliche Fehler in West und Ost: Liberalismus/Sozialismus
  4. IV. Schlußfolgerung: 9.-10. Abschnitt: Was tun?
    – Die Rechte muß den Kulturkampf aufnehmen.
    – Begründung dieser Forderung
  5. Schluß: 11. Abschnitt: Aufruf
    – Aufruf zum Kulturkampf

Dieser Aufbau wirkt durchaus stringent: Fragestellung – Begriffsklärung – (auf dieser Grundlage:) Kritik – Lösungsvorschläge – Aufruf. In dieser Grund-Form hat er durchaus den Charakter einer der üblichen wissenschaftlichen Abhandlungen. Dazu tragen auch die (allerdings nicht immer) kenntlich gemachten Zitate und Verweise auf wissenschaftliche Autoritäten bei. ((Dem Zeitungsstil wird dadurch Rechnung getragen, dass auf einen wisenschaftlichen Apparat allerdings verzichtet wird.))

Molau fragt danach, was den Menschen im Kern ausmache. Seine Sonderstellung gegenüber den Tieren wird betont: Hier werden ihm viele LeserInnen folgen. Der Mensch, das sieht doch jede(r), ist anders als die Tiere: er ist unfertig und besonders schutzlos und nackt, wenn er sich keine Hosen anzieht. Damit ist die Frage, wie er denn leben kann – so ohne Programm von Innen, bereits im Kern beantwortet. Mit Gehlen wird auf das Erbe – die Hose Kultur – verwiesen.

Als gesamte Fragestellung des Artikels läßt sich rekonstruieren: Was ist der Mensch, weshalb ist er auf die Übernahme des kulturellen Erbes angewiesen und was ist zu tun, damit dies gelingt? Die Antwort lautet: Bei Strafe seines Zugrundegehens muß er sich die Kultur „antun“. Und „wir“ (die Rechten) müssen ihm sagen, was das ist.

Kollektivsymbolik ((Kollektivsymbole sind sprachliche und nichtsprachliche Bilder, die unmittelbar als sinnvoll erscheinen. Sie vernetzen und verfestigen Diskurse, insbesondere der Medien (aber auch im Alltag), ebnen Widersprüche ein und sind deshalb als rhetorisch wirkungsvolles Mittel der Überredung und der Verfestigung vorgetragener ideologischer Positionen anzusehen. Durch das verinnerlichte System der vorhandenen Kollektivsymbolik wird andererseits die Wahrnehmung von Wirklichkeit strukturiert. Vgl. dazu Link 1982 und Jäger 1993, S. 157ff.))

Die in diesem Artikel verwendete, nur quantitativ reichhaltige Kollektivsymbolik beschränkt sich auf Raum, Zeit, (geistige und körperliche) Krankheit und Kampf. ((räumlich: Mitte 6, gute Grundsubstanz 23, Grundlage 28, Kern (des menschen) 49, tiefe Hintergrund 52f., im Raum stehen 55, Kern (von Kultur 64, Kulturraum 11f., Lebensraum Kultur 143, Nivellierung 186, überragende Einzelpersönlichkeiten 186, Bereich 222, Spielwiese (der Vergnüglichkeiten) 224, Schlüsselpositionen 236, Raum 242, zeitlich: bindungslose Moderne 19f., Verlust der guten alten Zeit 20, unglückbringende Traditionen 209, Kultur ist zeitbezogen und damit veränderbar 15f., verlorene Vergangenheit 31, Zustand der Gegenwart 32, was immer (ewig) gilt 34, zum Alten, Schönen zurückkehren 125, Moderne 143, Entwicklung 167,200, Tradition 202, Traditionalismus 279, physische oder psychische Gesundheit/Krankheit: Kampf 1. mit Leben füllen 14, Verlust (der guten alten Zeit) 20, Verlust (der kulturelle Hoheit) 21, Vermassung 144, Umerziehung 195,deutsche Gründlichkeit 196f., verunstalten 202, unglückbringende (Traditionen) 209, vor Augen 249, geistiges Siechtum 250, ausufernde Sperrzone geistiger Tabus 251ff., Ideale zerbrochen 254, Modernisierungsschock 260, Schmerz über die verlorene Vergangenheit 30, das Ungeheuerlichkeit 54, (kulturell) völlig bindungslos 257, linke Spinner 233, Kampf: nicht einmal die Spiru einer Gegenwehr 264, Befehls- und Ausgabestelle (von Ideen) 294f., „Kulturkampf“ 280.)) Dies verweist auf die Allgemeinheit des Artikels, in dem es um existentielle Grundfragen des Menschen geht, der, in Raum und Zeit geworfen, ein riskiertes Wesen ist, das kämpfen muß. Die Enge des Molauschen Denkens bzw. seines Bildes der Welt drückt sich so bereits in der von ihm verwendeten Bildlichkeit aus.

Die Fülle der Kollektivsymbole verweist andererseits auf Molaus rhetorisches Bemühen. Nimmt man beide Beobachtungen zusammen, kann geschlußfolgert werden, daß er bei Leuten, die zu einem ähnlich schlichten Weltbild tendieren wie er, durchaus dazu beitragen kann, daß sich dieses verfestigt. Es ist zu befürchten, daß dies für die meisten Leser der JF und viele Jugendliche und junge Erwachsene darüber hinaus heute zutrifft.

Anspielungen

Anspielungen haben eine ähnliche Funktion wie die Kollektivsymbolik (vgl. Januschek 1986). Sie sind in diesem Artikel zwar selten, jedoch von einigem Gewicht. So spielt „Was tun?“ (211) auf das bekannte Werk Lenins an, in dem dieser grundsätzliche Fragen von Strategie und Taktik des proletarischen Kampfes diskutierte. Hier leuchtet der Anspruch einer riesigen Allgemeingültigkeit der Molauschen Aussagen auf, der angesichts der Abstraktheit der folgenden Lösungskonzepte („Schaffung geistiger Freiräume und Aufbrechen von Tabuzonen“, „neue Literatur oder Kunst“, verordnete Wertvorstellungen etc.) nur noch komisch wirkt.

Eine weitere gewichtige Anspielung findet sich in der Passage: „Für die Bedeutung eines neuen ‚Kulturkampfes’ ist nicht zuletzt der italienische Kommunist Antonio Gramsci heranzuziehen“ (280 ff.). Hier wird auf den Kampf des preußischen Staates (Bismarck) gegen die katholische Kirche (1871-1878) angespielt. Es wird deutlich, daß Molau sich – im Gegensatz zu Gramsci, auf den er sich völlig verfälschend bezieht, denn dieser wollte eine Kulturrevolution von unten, – einen staatlichen Kampf, einen Kampf von oben vorstellt, bei dem es nicht um Demokratie geht, sondern um das Ziel der Loyalität seiner Untertanen ihm selbst und den von ihm verordneten Tugenden und Werten gegenüber. Das ist einerseits entlarvend, da es die Forderung nach einem autoritären Staat impliziert, andererseits aber auch ein wenig lächerlich. Mit der Anspielung auf Gramsci will Molau deutlich machen, daß er auf der Höhe der Diskussion auch der ‚Neuen Rechten‘ insgesamt ist. Die Rezeption Gramscis zeigt aber, daß dies entweder bloße Angeberei ist oder boshafte Entstellung (s. weiter unten).

Die Verwendung des Verbs „entscheiden“ schließlich in der Zeile „Von wem die Ideen kommen, wird entschieden werden.“ (295f) spielt auf Carl Schmitts politische Theorie an. Der etwas kryptische Schlußsatz des Artikels läßt sich erst mit Schmitts Verständnis von Entscheidung enträtseln. Entscheidungen stehen nach Schmitt unter bestimmten Bedingungen der Zuspitzung der Auseinandersetzung an, wenn sich zeigt, wer Freund und Feind ist, bzw. wenn eine Gruppe sich entscheidet, in der anderen den Feind zu sehen (Schmitt 1991a, S. 26-28). Diese Zuspitzung sieht Molau kommen. Die Zeit der Entscheidung naht, der Punkt also, an dem sich zeigt, welche Ideen zu Bestandteilen der ideologischen Hegemonie werden können. Und da fühlt Molau sich als Junger Gelehrter der rechten Elite auf der Seite der Ideengeber.

Darstellung der Gegner

Insgesamt geht Molau relativ selten auf die politischen Gegner ein. Bei deren Darstellung richtet Molau sich schärfer gegen die Linke als gegen die Liberalen. Das verweist darauf, daß es Molau hier um die interne Strategiediskussion geht. Es geht um Klärungen im eigenen Lager. Der Adressat sind primär die eigenen Leute („wir“), die Rechte. Trotzdem zeigt sich ein klarer Feind, und dieser Feind wird erheblich abgewertet. ((Genannt werden: linke Utopien 48, liberale Utopien 49f., sozialistisch verunstalten 203, hoher Grad an Beliebigkeit (liberal) 205, die Linke bewegt sich im geistigen Siechtum 250, sie hat geistige Tabus aufgebaut 252, sie ist in ihren Aussagen gescheitert 255, Aufklärung hat den Menschen zuviel zugemutete 262, sie leistet keine Spur von Gegenwehr 264, Gramsci wird gegen Marx gehetzt und vereinnehmt 282.))

Sprache und Argumentation: Logische Brüche und Fehler

Die an sich relativ stringente Argumentation und der insgesamt anspruchsvolle Stil des Artikels ist auf der Mikroebene zugleich mit erstaunlich vielen Argumentationsbrüchen und sprachlichen Fehlern belastet. ((Vgl. die folgenden Stellen: Wie etwa eine Frage angetan sein kann, ganze Regalmeter zu füllen, bleibt Molaus Geheimnis (vgl. 3-6); ähnliche Schwachstellen und formale Ungenauigkeiten finden sich in den Zeilen 16, 26f., 33, 76, 100, 109-123, 130, 141f., 173-176, 198, 211ff., 214ff., 226, 227, 236, 246, 270ff., 284, 295f.))

Akteure

Das Personal Molaus ist relativ überschaubar. Es geht vor allem um das rechte (Gehlensche) allgemeine Menschenbild. Direkt oder indirekt ist sehr oft die Rede von dem Menschen, von seinem Kern. Das wird unterstrichen durch die 8malige Nennung Gehlens. Die Rechte taucht in Gestalt von Substantiven selten auf, seltener als die Linken („Spinner“). Das unterstreicht, daß der Autor besonders mit sich und seiner Fraktion zu tun hat, die er belehren will. ((Über 50mal werden die Akteure passivisch oder indirekt angesprochen; der Mensch, die Menschen werden 21mal genannt, zusätzlich 6mal als Wesen, riskiertes Wesen etc., der Einzelne 4mal. Rechte tauchen 2mal auf (s. Pronomina), Linke, Linke Fraktion: 5mal; das gemeine Volk, Deutschland als agierend je einmal, die Mehrheit 1mal, der Staat 2mal, 1mal als pol. Apparat; die Kultur 2mal, Liberale werden nur indirekt angesprochen. Angeführte Namen: Gehlen 8mal, je einmal Marcuse, Nietzsche, Fernau, Rohrmoser, Gramsci und Marx)) – Ein (verdrehter) Gramsci wird positiv hervorgehoben gegenüber Marx (vgl. dazu weiter unten).

Pronominalstruktur

Daß sich der Text vornehmlich an Gesinnungsgenossen richtet, zeigt auch die Analyse der Pronominalstruktur: 13mal sind die Rechten gemeint, nur 3mal finden sich Bezüge auf Linke. Daß Molau im Plural Majestatis spricht – das „ich“ kommt nicht vor – verweist darauf, daß er sich als eine Art Chef-Propagandist empfindet bzw. als Sprachrohr einer bestimmten weltanschaulichen Gruppe. ((Im Text kommen wenig personale Pronomina überhaupt vor. Der Stil ist sehr indirekt und passivisch, wir im Sinne von ich 6, 52, 65, im Sinne von ich (Molau) und ihr Leser 99, 159, i.S. von ich (Gehlen) und ihr Leser 103, i.S. von wir Deutsche 195, i.S. von wir Rechte 215; die, diejenigen, sie als Rechte 13, 248, als Linke 57, 235; man, sich als Rechte 19, 21, 208 (aber auch alle), 220, 228, 232, 277; alle 124; er, seiner als Menschen 36, 95, 112, und 7 weitere, die für ‚Gehlen’ stehen.))

Die Linie Molau

Molau bezieht sein Menschenbild aus Arnold Gehlens philosophischer Anthropologie ((Gehlens politische Ansichten und Haltungen interessieren hier nur am Rande, auch wenn sie darauf verweisen, dass seine Theorie offentsichtlich nicht gegen krasse Fehleinschätzungen immunisiert. So sympathisierte er mit den Nazis, deren Herrschaft er als mit Kultur verbunden einschätzte, so begrüßte er den Einmarsch der Sowjetunion in die ÇSSR; vgl. dazu das Nachwort Schnädelbach zu Gehlen 1986b, S. 268)), auf dessen Werk „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“ er sich ausdrücklich beruft. ((Auf welche der beiden Ausgaben, verrät Molau nicht. Die Ausgabe von 1940 zeugte von einigem Bemühen, sich der nationalsozialistischen Weltanschauung anzunähern. Dieses Bemühen wurde in der Überarbeitung von 1950 gestrichen (nach Merten 1984, S. 43). In der Ausgabe von Der Mensch von 1940 war die Integration der Gesellschaft für Gehlen nur noch über das „Gesinnungsmäßige“ erreichbar. Merten Formuliert: „Es bedürfe, so Gehlen, einer  von oben her institutionalisierten ‚Weltanschauung’, ‚oberster Führungssysteme’, ‚ein Ausdrucks’, wie er betonte, ‚der dem des von Alfred Rosenberg gebrauchten des ‚Zuchtbildes’ sehr nahesteht.“ (Gehlen 1940, S. 448) Unter der nationalsozialistischen Herrschaft sei gesichert, daß ein derartiges (auf Transzendenz verzichtendes) ‚immanentes Zuchtbild’ … ‚imstande sei, tragende Grundsätze des Handelns aufzustellen und durchzuführen, eine feste Organisation des Wachstums und der Leistung des Volkes aufzustellen sowie notwendige, gemeinsame Aufgaben nachzuweisen und zu realisieren.’ (Gehlen 1940, S. 465)“ (Merten 1984, S. 43).))Mit Gehlen will Molau, daß den Menschen wieder Werte nahegebracht werden. Diese Werte seien aus dem Erbe, der Kultur als historisch Überlieferte zu ziehen. Zugleich habe die Kunst die Aufgabe, für Veränderungen zu sorgen, denn absoluten Stillstand will Molau ja auch nicht, bzw. er will dem Vorwurf entgehen, nicht fortschrittlich zu sein. Eine solche Duftmarke setzt auch der Bezug zu Gramsci, worauf noch genauer einzugehen sein wird.

Die Werte hängen nach Molau (und Gehlen) von dem ab, was der Mensch ist! Was sein Kern ist. Was wahr ist! Was immer gilt. ((Molaus Denken ist fest verankert im Schrifttum des Konservatismus (vgl. hierzu Greiffenhagen 1977, S. 45ff.) Greiffenhagen zitiert Labrecht Erich Günther (nach Armin Mohler, vgl. ders. 19879, S. 116) mit dem Satz: „das Konservative ist ‚nicht … ein Hängen an dem, was gestern war, sondern … ein Lebens aus dem, was immer gilt.’“ (S.45). A.E. Günther war Mitherausgeber der Zeitschrift Deutsches Volkstum und zusammen mit Wilhelm Stapel Herausgeber eines Sammelbandes mit dem Titel Was wir vom NS erwarten (Heilbronn 1932).)). Was der Mensch sei, könne nur aus ihm selbst beantwortet werden. Das ist nach Molaus Ansicht objektiv möglich und wahr. Der Mensch aber sei unfertig, riskiert. Deshalb müsse er erzogen werden. Dazu könne er erzogen werden, weil diese Möglichkeit zu seiner Natur, also zu seinem genetischen Programm gehöre.

Die Werte liegen nun in dem, was die Menschen als Kultur erarbeitet haben. Diese Handlungs-Resultate seien per Zucht zu vermitteln. ((Zum Konzept der ‚Zucht’ bei Gehlen vgl. Haug 1986, S. 55ff. Dieser bezieht sich auf die Ausgabe von Der Mensch von 1940 und bezeichnet Gehlen als einen originellen konzeptiven Ideologen des SS-Staats. „Züchtung, Züchtigung und Erziehung lasse nsich in der ‚Zucht’ verdichten“ (ebd., S. 55). Gehlen verknüpft Zucht mit Herrschaft, Führung, Wille und Leistung. Das Konzept der Entartung bilde den Negativpol zur Zucht, es definiere das Abfallen von ihr und den Abfall. Es grundiere den angestrebten Typus geführter Normalität mit der Verfallsdrohung, die unter den Zeitumständen unmissverständlich die Vernichtungsdrohung gewesen sei; vgl. ebd., S. 56.)) Die Mängel des Menschen liegen in seinem Programm. Die Bewältigung dieser Mängel sei der Maßstab dafür, wie jeder Einzelne seine Mängel zu kompensieren habe. Dazu gehören die Fertigkeiten und Künste, besonders aber der Inbegriff der vom Menschen tätig, arbeitend bewältigten, veränderten und verwerteten Naturbedingungen. Das sei eine vorgefundene Ordnung, ohne die der Mensch nicht auskomme. Denn sonst versinke er, konfrontiert mit seinen Miriaden von Sinneseindrücken, im Chaos.

Molau bzw. Gehlen argumentiert nicht naturalisierend, sondern kulturalistisch. Der Mensch ist riskiert, instinktarm etc. Kultur wird als zweite Natur verstanden. Sie produziert eine Art Ersatz-Umwelt. Diese Argumentationsweise impliziert einen anti-aufklärerischen Zug, der aber erst dann wirklich deutlich wird, wenn man seine idealistische Anthropologie auf dem Hintergrund seiner Überlegungen darüber liest, wie das den Menschen ständig bedrohende Chaos vermieden werden kann.

In der ersten Auflage von Der Mensch von 1940 leitete Gehlen „oberste Führungssysteme“ unmittelbar aus der geschilderten Lebensproblematik des Menschen ab. In seiner Überarbeitung von 1950 treten an ihre Stelle „die Institutionen“, die jedoch die Funktion der „obersten Führungssysteme “ voll erfüllen. Institutionen übernehmen durch ihre normative und objektive Geltung Motivbildung und Handlungsgestaltung gegenüber den Handelnden. Sie entlasten den Menschen, stellen aber zugleich verpflichtende, die individuellen Spielräume eng begrenzenden Verhaltensregeln auf bzw. dar. Gehlen gibt zwar zu, daß Institutionen irrational sind und einen Geltungsbonus brauchen über die Frage ihrer Funktionalität hinaus, dennoch bedürfen sie für ihn keiner Rechtfertigung. Sie sind sakrosankt. Daher gilt ihm Kritik an Institutionen auch als zersetzend. Denn ohne Institutionen droht nach Gehlen der Absturz ins Chaos. Die Freiheit des Menschen besteht ausschließlich in der Freiheit, sich zu unterwerfen. So wird das Mängelwesen Mensch zum Gängelwesen.

Molau nimmt diese extrem ordnungspolitischen Vorstellungen ((Rehberg u.a. kritisieren Gehlens „a-historischen und institutionalistischen Kurzschluß“ wie folgt: „Mögen auch Kontinuitätslinien aus archaischen Heiuligungsprozessen und magischen Ritualen bis zu den Institutionalisierungen moderner Säkulargesellschaften führen […], mag es auch die Anwesenheit des Zaubers noch in einer scheinbar ‚entzauberten’ Welt geben, so unterliegen archaischen ‚urmenschliche’ und moderne/’spätkulturelle’ Institutionen doch nicht einfach derselben institutionellen ’Logik’“ (Rehberg u.a. 1993b, S. 1). Sie bezeichnen Gehlen als einen „Extremisten der Ordnung“ (ebd., S. 2).)) in seinem Artikel auf, indem er fordert, daß der Staat seine Hegemonie durch Vermittlung ererbter kultureller Errungenschaften bzw. eines Grundinventars kultureller Vorstellungen stärke (Formzwang oder Traditionalismus). „Die Kultur soll […] Befehls- und Ausgabestelle für Ideen und Werte sein“, schließt er.

Wenn man sich der nicht ungeschickt vorgetragenen und durch die Autorität (Nietzsches und vor allem) Gehlens abgesicherten Axiomatik unterwirft, wird man die hier vorgetragene Argumentation akzeptieren. Daher kommt es darauf an, diese Axiomatik näher in Augenschein zu nehmen. Der Gehlen-Herausgeber Rehberg (Rehberg u.a. 1991) verweist auf dessen „normativen Ontologismus“. Diesem liege „das sozialtheoretische Axiom zugrunde, daß die Menschen nur lebensfähig seien, wenn sie sich in Ordnungen einfügen, die, obgleich von Menschen gemacht, ihrem Änderungswillen, ihrem Zugriff, ja sogar jeder Kritik entzogen werden müssen“ (ebd. 1991, S. 5f.). Der Bezug auf diese Axiomatik macht einerseits die Schwäche dieser Vorgehensweise deutlich, andererseits aber auch deren Stärke. Denn Molau knüpft (mit Gehlen) geschickt an herrschende und verbreitete Vorstellungen über den Menschen und die (schreckliche Post-) Moderne an. ((Dieser pessimistische Grundtenor prägt auch das spätere Werk Gehlens. „Am Ende schließlich“, so Rehberg, „erscheint das existenzielle Grundmotiv seines (Gehlens – S.J.) Werkes in ‚entfremdeter’ Form: resignativ, skeptisch, zynisch gewendet (Rehberg 1994b).))

Die Berufung auf Gramsci: eine Fälschung

Molau beruft sich bei seiner Begründung der Notwendigkeit eines „neuen ‚Kulturkampfes’“ auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci. ((Das ist in der heutigen Rechten geradezu modern geworden. Besonders die Ideologie der ‚Neuen Rechten’ im Gefolge von Alain de Benoists, so etwa das Thule-Seminuar, bezieht sich formal auf Gramsci und sucht ihn für ihre Zwecke umzuinterpretieren.))

Dieser wird mit der Angabe referiert, daß er im Gegensatz zu Marx der Ansicht gewesen sei, daß sich der Staat nicht auf den politischen Apparat reduzieren lasse. Für das Funktionieren des Staates komme der Kultur eine Schlüsselstellung zu. Sie könne dem Staat eine ideologische Hegemonie sichern, aus der wiederum eine spontane Zustimmung der Mehrheit zu einer bestimmten Auffassung der Dinge resultiere.

Molau bezieht sich hier auf mehr als merkwürdige Weise auf Gramsci. Diesem ging es ja darum, daß das Proletariat die kulturelle Hegemonie erringe, sich bilde etc. So schrieb Gramsci etwa: „Für die Philosophie der Praxis sind die Ideologien alles andere als willkürlich; sie sind realgeschichtliche Tatsachen, die wegen ihrer Natur als Herrschaftsinstrumente zu bekämpfen und bloßzustellen sind, […] um die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig zu machen, um eine Hegemonie zu zerstören und eine andere zu schaffen […]“ (Gramsci 1967, S. 279). Dazu müsse der Bildungsstand der Massen gehoben werden, wozu ein kultureller Kampf geführt werden müsse.

Gramsci warnte ausdrücklich vor einer „passiven Revolution“ durch die Herrschenden, wenn er schrieb: „Die bürgerliche Klasse setzt sich selbst als einen Organismus in ständiger Bewegung, fähig, die ganze Gesellschaft aufzusaugen, indem jene diese ihrem kulturellen und ”konomischen Niveau anpaßt: die ganze Funktion des Staates ist verändert; der Staat wird ‚Erzieher’ […]“ (Gramsci 1975, S. 937).

Molau jedoch schiebt Gramsci diese kritische Analyse der „passiven Revolution“ als dessen authentische Strategie unter. Es handelt sich also um eine schlichte Fälschung. Weshalb Molau, der ja eher einer biedermeierlichen Rechten zuzuordnen ist, diese Gramsci-Mode der ‚Neuen Rechten‘ mitmacht, bleibt allerdings ein wenig verwunderlich.

Die Gegenposition:
Stefan Ulbrichs Es entsteht eine neue Kultur (JF 10/1992)

Die Dachzeile zu Ulbrichs ((Stefan Ulbrich, Jg. 1963, nach Abitur und Wehrdienst, Studium des technischen Umweltschutzes, Abschluß als Dipl.Ing. (FH), tätig seit 1989 als Verleger (Arun-Verlag) und Betreiber eines DTP-Studios (JF 6/91, S. 13); stellt sich selbst in JF 11/92 so vor: „sudetendeutscher Bayer, Publizist, Verleger und Honorardozent […] Familie (mit 3 Kindern)“ (S. 10). Politische Karriere: Ehemals Mitglied der Wiking-Jugend bis 1984 (Horstführer lt. blick nach rechts 5/1993, S.7); dann vermutlich (vgl. de Temple 1990, S. 21) Mitglied der Nationalrevolutionären Basisgruppe München (März 1986 von der Nationalistischen Front abgespalten, dann 1987/88 in der Politischen Offensive, ehemals NRKA), aus der heraus dann solche Organisationen wie „Pyramid Media“ (lt. Gilbhard/Goblirsch 1989 freilich eine Tarnorganisation der Wiking-Jugend) und „Forum Europa“ gegründet wurden. Ulbrich war JF-Redakteur im Ressort Politik von 5/91 – 11/93.)) Artikel lautet: „Antwort auf Molaus ‚Kampf um einen neuen Kulturbegriff’ (JF 9/92)“. Diese Überschriften enthalten bereits die zentrale Gegenthese gegen Molau. Während Molau um einen angeblich neuen Kulturbegriff kämpfen will, behauptet Ulbrich, daß eine neue Kultur im Begriff sei zu entstehen. Molau geht es darum, theoretisch zu fassen, was Kultur sei, Ulbrich bemüht sich darum, Kultur als etwas Dynamisches zu fassen, etwas, das in ständiger Bewegung ist. Molau will etwas statisch Gegebenes nur auf den richtigen Begriff bringen und daraus Strategien ableiten. Dagegen will Ulbrich etwas, das als Diskurs zu begreifen ist, beschreiben, was dann für ihn gleichwohl auch zur Grundlage strategischer Überlegungen wird.

Interessant ist, daß Ulbrich sich außer in der Dachzeile nicht direkt auf Molau bezieht, sondern Molaus Konzept insgesamt als altbacken und traditionalistisch, wenn nicht gar reaktionär verurteilt.

Inhaltsangaben zu den Abschnitten

1. Abschnitt: 3-9: Die ‚Neue Rechte‘ braucht ein wesentlich erweitertes Verständnis von Kultur.

Wie die Marxisten im Gefolge von Gramsci, der Kultur nicht als enzyklopädisches Wissen verstanden sehen möchte, brauche auch die ‚Neue Rechte‘ ein wesentlich erweitertes Verständnis von Kultur.

2. Abschnitt: 10-27: Definition von Kultur und kultureller Identität unter Berufung auf Gramsci.

Kultur sei ein Netz von Verhaltensmustern, das der Mensch brauche, um sich in der Welt zu orientieren und diese zu gestalten. Kulturelle Identität beinhalte Verhaltensmaßregeln und Ziele gemeinsamen Lebens. Identität sei deshalb die Verwurzelung des eigenen bewußten Ich in einer Kultur. Das sei das schwer zu beschreibende Gefühl des bei-sich-Seins, des Ein- und Mitklangs an gemeinsamen Überlieferungen und Werten. Nach Gramsci sei „die kulturelle Identität die Disziplinierung der eigenen Person und damit ‚Inbesitznahme der eigenen Persönlichkeit’“. ((Selbstverständlich spricht Gramsci nicht von „kultureller Identität“. Hier wird aus einer Definition des Begriffs Kultur zitiert. Das vollständige Zitat lautet: Kultur ist die „Organisation, die Disziplin des eigenen Ich, ist die Inbesitznahme der eigenen Persönlichkeit, die Eroberung eines höheren Bewußtseins, durch das man erst den eigenen historischen Wert, die eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten verstehen kann“ (Gramsci 1958, S. 24). Aus Disziplin wird bei Ulbrich Disziplinierung (!), aus dem eigenen Ich die eigene Person.))

3. Abschnitt: 28-44: Kultur (und Identität) sind auf individueller und gesellschaftlicher Ebene dynamisch.

Der ehemalige Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann wird mit seinem Verständnis von Kultur zitiert: Kultur sei mehr als ein System von Werten und Normen, sie sei immer auch Gestaltung von Wirklichkeit. Kultur sei ein wertbesetztes System des Handelns.- Daraus werde klar, so Ulbrich, daß Kultur und Identität nicht statisch seien, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, ferner: Produkt der individuellen Entscheidung (!) und Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Realität.

4. Abschnitt: 45-53: Kultur und Identität müssen nicht erhalten, sondern geschaffen werden.

Wem es um Kultur und Identität gehe, der müsse Möglichkeiten schaffen, in denen sie sich entfalten könnten.

5. Abschnitt: 54-71: Die deutsche Kultur verändert sich durch den Einfluß fremder Kulturen.

Noch einmal bezieht Ulbrich sich auf Hoffmann: Es gebe zur Zeit erhebliche Einflüsse auf die eigene traditionelle Kultur durch die umgebenden fremden Kulturen.

6. Abschnitt: 72-81: So oder so wird etwas Neues entstehen, dem man sich nicht einfach verweigern kann und darf.

Dem Neuen dürfe man sich nicht verweigern, das wäre dekadent.

7. Abschnitt: 82-88: Kritik am konservativen Kulturbegriff.

Für den reaktionären Geist sei Kultur als Kunst Konsumgut und Objekt passiven Genusses – edel, schön und wahr.

8. Abschnitt: 89-107: Wie die Erweiterung des neuen Kulturbegriffs aussieht.

Mit Gramsci und Beuys sollten wir einen erweiterten Kulturbegriff akzeptieren. Dieser beziehe sich neben überlieferter und neuer Kunst auch auf biologischen Landbau, Gestaltung des Arbeitslebens, Umweltschutz, Ausgestaltung des Fremden- und Asylrechts usw. ((Ulbrich stützt sich hier wörtlich auf Lutz Götze u. Gabriele Pommerin. Vgl. Dies.: Ein kulturtheoretisches Konzept für Interkulturelle Erziehung, in: Michele Borelli (Hg.): Interkulturelle Pädagogik, Baltmannsweiler 1986, S. 100-141; das ergibt sich aus Ulbrich(Hg.) 1991, S. 345, Anm. 17. Doch auch hier fehlen genauere bibliographische Angaben.))

9. Abschnitt: 108-121: Es gibt einen Pluralismus von Kulturen in jeder Gesellschaft, und es findet ein Kampf dieser Kulturen untereinander statt.

In jeder Gesellschaft gebe es eine Vielzahl unterschiedlichster Kulturen. Es folgt eine Aufzählung von „Moslems“ bis „Hafenstraße“. Diese stünden nicht selten in heftigem Widerspruch zueinander bis hin zu Feindseligkeit und Rassenhaß.

Hier folgen nun zunächst 6 Thesen mit Begründung, wobei jede These einen Abschnitt ausmacht und die Begründungen z.T. aus mehreren Abschnitten bestehen.

10. Abschnitt: 123-125 / These 1: „Das Kennzeichen der Kultur ist ihr den gesamten menschlichen Wirkungsbereich umfassendes Wesen.“

11. Abschnitt: 126-139

Kultur heute könne nur zum geringsten Teil geerbt werden. Unterschiede seien toll. Sie könnten hinterfragt und „faustisch“ überwunden werden. (Zitat: „Laßt uns schwärmen von den Unterschieden, die hinterfragt und faustisch überwunden werden können. Die wahren Unterschiede sind die, die im Kampf behauptet werden können.“) Europa sei in dieser Hinsicht immer schon Experimentierlabor gewesen.

12. Abschnitt: 140-142 / These 2: „Das Kennzeichen der Kultur des 21. Jahrhunderts ist nicht ihre Homogenität, sondern ihre Vielgestaltigkeit.“

13. Abschnitt: 143-154: Bewahrung und Veränderung spielen sich dynamisch ab.

Kultur entwickele sich. Bewahrung und Veränderung seien sich ergänzende Komponenten einer lebendigen Kultur. Gegen „je älter desto besser.“ „Wider die Breker-Manie.“

14. Abschnitt: 155-171: Weil sich alles so schnell ändert, ist unsere Vision der Zukunft der Maßstab für unser gegenwärtiges Tun.

Heute veränderten sich Gesellschaften sehr schnell und gründlich. Deshalb stelle sich die Frage, was heute für morgen getan werden müsse, sehr intensiv. Das lasse sich nicht mehr allein aus der Vergangenheit heraus beantworten. Die Zukunft sei daher der visionäre Maßstab für die Gegenwart.

15. Abschnitt: 172-183: Die Zukunft ist offen

Wahrheiten von gestern seien relativ geworden.

16. Abschnitt: 184-186 / These 3: „Das Kennzeichen der Kultur ist nicht ihre statische Ruhe, sondern ihre historische und dynamische Veränderung.“

17. Abschnitt: 187-200: Jede Kultur besteht aus Eigenem und Fremdem.

Jede moderne Kultur sei ein Konglomerat aus eigenen und fremden Bestandteilen, das nach persönlichem Empfinden gestaltet werde. Beispiele für Fremdes: Kartoffel etc.

18. Abschnitt: 201-212: Kritik reaktionärer Kulturauffassung.

Kritik des reaktionären Gemüts: es denke „mono“, sei erstarrt. Ahnen, Wurzeln, Vision werde fremd.

19. Abschnitt: 213-222: Das Eindeutige zu fordern führt angesichts der Vielfalt des geistigen Lebens zur Verhinderung eigner Identität.

Das geistige Leben einer modernen Gesellschaft, auch ohne sog. Überfremdung, sei ein amorphes Durcheinander und liege dialektisch übers Kreuz. Das Eindeutige zu fordern komme einer kulturellen Verarmung gleich und zeuge von individueller Schwäche bei der Schaffung einer eigenen Identität.

20. Abschnitt: 223-224 / These 4: „Das Kennzeichen einer Kultur ist ihr spezifisches Mischungsverhältnis.“

21. Abschnitt: 225-244

Entfremdung (bei Ulbrich = sich vom Überlieferten entfernen) ist unabdingbar.

Entfremdung sei nötig und Triebfeder der Geschichte. Man müsse immer über sich hinausgehen, mit Konrad Lorenz: etwas riskieren, um so mehr, je höher man hinaus wolle.

22. Abschnitt: 245-262: Die Gefahr droht nicht vom Anderen, sondern vom Pessimismus.

Kultur sei postevolutionär. Es gebe immer viele Differenzierungspfade zur Schaffung neuer Werte und Normen. Nicht die Veränderung bedrohe uns, sondern die Angst vor der Veränderung. Die Gefahr drohe nicht vom Anderen, sondern vom Pessimismus.

23. Abschnitt: 263-265 / These 5: „Das Kennzeichen der Kultur ist die ständige neue Suche nach dem anderen Denken.“

24. Abschnitt: 266- 275: Es geht um immer gültige Urfragen.

Es gehe um die Kernfragen des menschlichen Lebens. Sie seien aus dem Bestreben geboren, „ständig über sich hinauszugelangen“.

25. Abschnitt: 275-290: Rückgriff auf die Inhalte ist Voraussetzung dazu, Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft geben zu können.

Die Antworten seien verschieden, weil sie abhängig seien vom unterschiedlichen „Mutterboden“. Der Rückgriff auf wirkliche Inhalte (nicht Äußerlichkeiten) diene dazu, neue Werte und Aristokratien des Geistes zu formen, um für die Zukunft Antworten geben zu können.

26 Abschnitt: 290-294: Man muß sich mit den Werten der Mitmenschen auseinandersetzen.

Kultur sei nicht statisches Verharren in konfliktfreien Räumen, sondern permanente Auseinandersetzung der eigenen Werte mit denen der Mitmenschen.

27. Abschnitt: 295-298 / These 6: „Kultur ist somit nicht nur Frieden, sondern vor allem eine geregelte Form des zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Krieges.“

28. Abschnitt: 299-316: Mythische Dimension des Kulturkampfes.

Kolakowsky wird zitiert, der die wahrhaft mythische Dimension dieses Kulturkampfes erfaßt habe. Synthese sei nicht möglich, sie wäre der Tod der Kultur, aber ebenso sei der Verzicht darauf möglich, die Synthese zu wollen.

Ende der Thesen

29. Abschnitt: 317-331: Das Fazit: Die ‚Neue Rechte‘ muß sich auf den realen Diskurs wirklich einlassen, wenn sie werden soll, was sie immer schon gewollt hat: Neue Kultur!

Hier beruft Ulbrich sich auf de Benoists Ausspruch: „Ich glaube nicht, daß es wirklich rechte und linke Ideen gibt. Ich meine, daß es eine rechte und linke Art gibt, sich diese Ideen zu eigen zu machen und sie zu vertreten.“ Dieser Hinweis sollte nach Ulbrich auf fruchtbaren Boden fallen, denn nur dann werde es die ‚Neue Rechte‘ schaffen, ‚Neue Kultur‘ ((Der Begriff ‚Neue Kultur‘ taucht in der JF erstmals im Zusammenhang mit einem Seminar der „Pyramid Media“ (vgl. Anm. 26) auf, an dem als Hauptreferent Pierre Krebs vom Thule-Seminar teilnahm und zum Seminarthema „Antonio Gramsci und die Theorie der Metapolitik“ vortrug (vgl. JF 3-4/88, S. 6). In diesem Zusammenhang fand im April 1989 eine Veranstaltung mit Pierre Krebs im Salvatorkeller in München statt (vgl. Gilbhard/Goblirsch 1989). – Jürgen Hatzenbichler gebraucht den Begriff in seiner Replik auf Werner Olles‘ Kritik der ‚Neuen Rechten‘ (vgl. JF 6/90, S. 2).)) zu werden.

Komposition

  1. Teil: Explikation und Begründung der 1. Grundthese
    – 1. Abschnitt: 1. Grundthese: Die ‚Neue Rechte‘ braucht ein neues Verständnis von Kultur. Unser Kulturverständnis muß erweitert werden.
    – 2.-.8. Abschnitt: Begründung der im der Einleitung (1. Abschnitt) aufgestellten Grundthese: Ulbrichs Begriff von Kultur/kultureller Identität.
  2. Teil: Explikation und Begründung der 2. Grundthese
    – 9. Abschnitt: 2. Grundthese: Es gibt in jeder Gesellschaft eine Vielzahl unterschiedlichster Kulturen, die in Widerstreit zueinander liegen.
    – 10.-28. Abschnitt: Die 2. Grundthese wird kleinschrittig durch 6 Unterthesen expliziert und begründet.
  3. Teil: Fazit
    – 29. Abschnitt: Die ‚Neue Rechte‘ braucht eine ‚Neue Kultur‘.

Der Aufbau des Artikels wirkt formal heterogen. Die erste Grundthese wird frei formulierend, die zweite Hauptthese durch mehrere Unterthesen begründet, die dann jeweils wieder begründet werden. Dadurch zerfällt der Artikel in zwei Teile, denen ein gemeinsames Fazit folgt.

Im Fazit wird die erste Grundthese mit der zweiten Grundthese verknüpft: (1) Wir brauchen eine neue Kultur und (2) wir müssen uns in den Krieg der Kulturen hineinbegeben, um zu werden, was wir wollen: ‚Neue Rechte‘.

Diese formale Heterogenität ist darauf zurückzuführen, daß Ulbrich hier eine stark verkürzte und überarbeitete Fassung seiner „Thesen“ aus dem von ihm herausgegebenen Buch Multikutopia (MK) anbietet (Ulbrich 1991). Der erste Teil stellt eine nahezu wörtliche Übernahme dar, während die Thesen im zweiten Teil etwas umgestellt und ihre Begründungen neu formuliert sind. ((So entspricht etwa die 6. These des Artikels in der JF einem Satz aus MK von S. 342, ebenso die Begründung und die Berufung auf Kolakowsky.)) Dabei werden Passagen aus dem zweiten Teil des MK-Textes wörtlich übernommen. ((Beispiele: Abschnitt 18 des JF-Artikels und eine Textpassage aus MK S. 328. Oder: Z. 228 des JF-Artikels und S. 333 f. der Thesen aus MK.)) Offensichtlich ist also die JF-Fassung aus Versatzstücken des Buchbeitrags zusammengestückelt worden. ((In den Thesen aus MK folgen noch über 30 Seiten Begründungen, aus denen Ulbrich hier nur einige Ausschnitte auswählt.)) Die Unter-Thesen werden verknappt und journalistisch zugespitzt. In der Rhetorik des JF-Artikels wird der Gegensatz zur ‚Alten Rechten‘ einerseits gemildert, andererseits wird die Diktion apodiktischer. ((Man kann behaupten wird zu ich behaupte, s. auch Rhetorik.))

Auch die Abfolge der Thesen unterscheidet sich. Die Thesen des JF-Artikels finden sich in der MK-Fassung in der Reihenfolge 2, 3, 1. Die sehr zugespitzte 4. These – „Das Kennzeichen der Kultur ist die prinzipielle Gleichwertigkeit ihrer unterschiedlichen Varianten“ (MK S. 308) – fehlt in der JF.

Die Entschärfung der Kritik an der ‚Alten Rechten‘

In den Thesen des Buch-Artikels formuliert Ulbrich radikal: „die Multikulturalität ist der Sturm, der die ausgebrannten und blutleeren Kulturen und Traditionen hinwegfegt, um Platz für die Stärkeren zu machen“ (MK S. 327). Solche radikalen Passagen fehlen in der Artikelfassung der JF, möglicherweise weil Ulbrich sie der doch eher altbackenen Mehrheitslinie der Redaktion nicht zumuten wollte.

Dafür spricht auch die Tatsache, daß Ulbrich im Buch teilweise sehr viel kritischer gegen die ‚Alte Rechte‘ polemisiert. So heißt es etwa im MK-Text: „Die Alte Rechte ist rassistisch“ (MK S. 331). Oder: „Neue Rechte, das heißt in letzter Konsequenz nur gut leben mit der Gewißheit einer allzeit möglichen Götterdämmerung. Alte Rechte, das heißt in letzter Konsequenz zu entscheiden, doch lieber glücklich und selbstzufrieden weiterzuleben. Es ist nicht die Empfindungswelt der Neuen Rechten, in dieser, rein auf das Materielle fixierten Denkungsart und der letztendlich völligen Sinnlosigkeit des bürgerlichen Daseins, einen zu bewahrenden Wert zu sehen. Die Katastrophe, der Zusammenbruch ist zu jeder Zeit der dürren Banalität des Wohlstands vorzuziehen. Der kriegerischen Haltung der Neuen Rechten kommt die Herausforderung der multikulturellen Gesellschaft daher gerade recht“ (MK S. 342 f.). Hier folgt dann regelrechte Todesschwärmerei: „Tod und Untergang dürfen nichts Klägliches an sich haben. Der Tod ist keine ‚winzige Arglist der Natur’, sondern zu gehen heißt, ‚… auf jenem Gipfel einen Tod zu sterben wie weißer Schnee’.“ ((Hier zitiert Ulbrich Yukio Mishima: Unter dem Sturmgott, München 1988))

Ein anderes Beispiel ist etwa: „Die Rechten sind die größten Chaoten. Diejenigen, die den Law-and-Order Demagogen des Rechtspopulismus ihre Stimme geben, sehnen sich die Zeiten herbei, wo’s endlich losgeht, wo man aus den selbstgebauten Mauern seiner Obrigkeitshörigkeit, seiner eschatologischen Hoffnung auf Ruhe und Wohlstand und Bürgerlichkeit (Amen) ausbrechen kann. Flucht aus der eigenen inneren Nervenklinik“ (MK S. 326). Oder wenn er den altrechten Militanten vorwirft: Sie „flüchten sich in die scheinbar befreiende Vision des Bürgerkrieges, des Krieges aller gegen alle“ (326).

Insgesamt ist der MK-Artikel sehr viel radikaler ’neurechts‘ im Sinne de Benoists als der JF-Artikel; man kann sagen, daß hier Zugeständnisse an die ‚altrechte‘ Hauptlinie der JF auszumachen sind.

Rhetorik des „Ich“

Im MK-Artikel taucht vielfach die Wendung auf: Die Alte Rechte behauptet…, dagegen kann man behaupten, …. In der JF wird „kann man behaupten“ immer durch „ich behaupte“ ersetzt. Das deutet darauf hin, daß Ulbrich hier klarer als „Ich“, als Rhetor auftreten möchte, der für eine Sache (die neurechte) agitiert. Dies geschieht 5mal in den 6 Thesen, nur die 6. beginnt anders, nämlich mit der Einleitung zu einem Kolakowsky-Zitat. 1mal taucht diese Formulierung in der Einleitung als These auf: „Ich behaupte, auch die ‚Neue Rechte‘ benötigt ein wesentlich erweitertes Verständnis von Kultur.“ Damit kündigt Ulbrich sein Hauptanliegen an, das ist sein Auftakt, mit dem er sich auch direkt gegen Molau wendet, ohne ihn beim Namen zu nennen. Das zweite „Ich“ außerhalb der Klein-Thesen bildet den Beginn des ersten Abschnitts vor den Thesen, und der folgende Satz stellt seine Kernaussage über den Zustand der Gesellschaften dar (seine Grundthese): In jeder Gesellschaft gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Kulturen, die sich bekämpfen etc.

Der Stil erinnert teilweise an das Bramarbasieren von Pierre Krebs, wie es aus der von ihm herausgegeben Zeitschrift elemente bekannt ist (vgl. Jäger 1988). Er ist gelegentlich schwärmerisch und kämpferisch: „Laßt uns schwärmen von den Unterschieden, die flexibel sind, die hinterfragt und faustisch überwunden werden können“ (128ff.). Zugleich ist der Stil salopper: „das reaktionäre Gemüt denkt mono“ (201). Im Buch heißt es: „Die Alte Rechte denkt monotheistisch, monokausal und monokulturell“ (MK S. 328). Das geht wieder mit einer gewissen Abmilderung einher.

Konfrontation der Akteure

Der JF-Artikel von Ulbrich ist reich bevölkert. Gramsci, die Marxisten, Beuys, Imfeld ((Gemeint ist Al Imfeld, der in U. Schmidt (Hg.) 1987 einen Artikel veröffentlicht hat, dessen Titel auch in MK nicht genannt ist.)), Breker(manie), Lorenz, Hoffmann, Kolakowsky, de Benoist: Dies sind die Autoritäten, auf die sich Ulbrich (positiv oder in Abgrenzung) stützt. Den Auftakt bildet Gramsci, das krönende Ende de Benoist, der sich ja ebenfalls auf Gramsci stützt. Im Grunde ist der Artikel Ulbrichs eine Variante von de Benoist Grundthese: „Die Alte Rechte ist tot. Sie hat es wohl verdient“ (Benoist 1985, S. 13).

‚Neue Rechte‘ und ‚Alte Rechte‘ (Reaktionäre) stehen sich in gleicher Anzahl gegenüber. Dies markiert die eigentliche Konfrontationslinie, die Ulbrich auszieht. Insgesamt ordnet Ulbrich Molau der reaktionären Rechten zu. Hier zeigt sich doch eine tiefe Kluft.

Fazit

Ulbrich beantwortet die Frage, wie eine ‚Neue Kultur‘ für eine ‚Neue Rechte‘ aussehen und wie sie agieren muß: Sie muß sich kämpferisch auf die dynamische Vielgestaltigkeit der Kultur(en) beziehen und darf nicht am einmal Gültig-Gestrigen kleben, schon gar nicht an erstarrten Formen und einmal festgelegten Werten, denn diese verändern sich, lassen sich verändern. Darauf muß sich die Rechte einlassen. Nur so kann sie sich behaupten und die Zukunft (mit-)gestalten.

Multikulturelle Gesellschaft ist für Ulbrich das Schlachtfeld, auf dem „das neue Germanien entstehen kann“, wie er in seinem Buchartikel offen formuliert (MK S. 327). Dies geht an die Adresse der ‚Alten Rechten‘, die an lineare Verläufe glaube. Doch die multikulturelle Gesellschaft ist für Ulbrich nur Mittel zum Zweck. Er glaubt an und hofft auf gewaltige Auseinandersetzungen, in denen sich das Bessere bewährt und durchsetzt. Das ist auch sozial-darwinistisch, aber nicht von der Vorstellung begleitet, dies geschähe von selbst, indem man nur an den alten Werten festhalte. Er will den Kampf, in dem sich ‚das Starke‘ bewährt.

Die Trennungslinien zwischen Molau und Ulbrich treten deutlich hervor. Molau vertritt einen eher (volks-)tümelnden rechten Ansatz in der jungkonservativen Traditionslinie der Konservativen Revolution. Ulbrich vertritt einen genuin ’neurechten‘ Ansatz, den er offensichtlich über die JF tiefer im rechten Lager verankern m”chte. Um dies zu erreichen, ist er auch zu gewissen Zugeständnissen bereit. Doch in der JF bläst ihm trotzdem der Wind ins Gesicht.

Ulbrich propagiert eine völlig andere Strategie als Molau. Ihm geht es um Kernideen der ‚Neuen Rechten‘ (s. de Benoist). Molau setzt viel „metaphysischer“ an, bei den ewigen Werten, die im Menschen liegen, bei ihm als von Natur aus riskiertem Wesen (Gehlen, Lorenz). Ulbrich ist viel realistischer, weniger klagend; er geht von dem aus, was ist. Im Grunde ist er zunächst einmal Positivist, indem er sich realistisch auf die gegebenen Verläufe bezieht und dann in Schmittscher Manier den Kampf akzeptiert und sich bzw. die ‚Neue Rechte‘, die dadurch erst werden könne, was sie immer schon sein wollte, munter in die Auseinandersetzung schicken möchte. Bei Molau ist aber auch auf den „Kampf“, die Entscheidung zu achten. Bei ihm sollen jedoch die alten Werte siegen, die ewigen Werte, die Ideen, die er auf seiner Seite als die einzig Richtigen ansieht.

Während Molau auf dem etatistischen Diskurspfad der Konservativen Revolution zu verorten ist, indem er sich auf Gehlen und Schmitt bezieht, metaphysisch mit anthropologischen Konstanten (der Mensch, ewige Werte) operiert, bewegt Ulbrich sich auf dem Pfad der ‚Neuen Rechten‘ im Gefolge von de Benoist und lehnt die ‚Alte Rechte‘ scharf ab. ((Ich verweise noch einmal auf seine ausführliche Darstellung in MK, S. 299-346. Dort schreibt er u.a.: „daß der Kulturbegriff, den ich unter dem Begriff Neue Rechte verortet habe, nicht das geringste mit den bekannten (alt)rechten Positionen zu tun hat, sondern diesem vielmehr revolutionär gegenübersteht“ (ebd. S. 301.).)) Er bezeichnet sie als „ideologischer Leichnam bei bester Gesundheit“ (MK S. 303). Zugleich ist Ulbrich elitär. Im Kampf ergibt sich eine Hierarchie. So stützt er sich in seinen Thesen in MK auf de Benoists Worte: „Es bedeutet …, daß mit diesen Verantwortlichkeiten entsprechende Rechte einhergehen und daraus eine Hierarchie resultiert, die auf dem Prinzip beruht: suum cuique.“ ((Zitiert aus de Benoists Kulturrevolution von Rechts (o.S., bei Ulbrich 1991, S. 301). Ulbrich zitiert meist ohne Seitenangaben, auch in MK. Er übernimmt in JF Textstellen anderer Autoren, ohne auf diese zu verweisen (s. die Thesen in MK, Anm. 17 und Abschnitt 8 des JF -Artikels).- „Suum cuique“ = „Jedem das Seine!“ stand an KZ-Toren! Diese Anspielung wirkt hier mehr als zynisch und dürfte verdeutlichen, wohin Ulbrichs elitäres Denken führen kann.))

Der Streit um Multikultopia. Kampf zweier Linien?

In der JF vom Sept. 1991 hatte Markus Zehme Ulbrichs „Multikultopia“ bereits heftig kritisiert: Bauer und Ulbrich hätten versucht, das Multi-Kulti-Konzept ethnopluralistisch einzugemeinden. ((Zum Ethnopluralismus der ‚Neuen Rechten‘ vgl. Reinfeldt/Schwarz 1994, sowie Jost Müller 1992.)) Zehme merkt an, daß die Schwäche dieses Versuchs in der utopischen Annahme bestünde, daß die „Asylanten“ lauter „Kulturmenschen“ seien!

In der nächsten Ausgabe (JF 10/91) bezieht sich Molau in einem Artikel – Diskussion um ein ‚rechtes’ Verständnis der multikulturellen Gesellschaft. Die Verwirrung ist da – auf diese Besprechung. Molau kritisiert hier zunächst besonders den MK-Artikel von Marcus Bauer. ((„Vielfalt gestalten“ in Ulbrich 1991, S. 137-157. Bauer (geb. 1966 in München) ist als Autor und Redakteur in der nationalrevolutionären Zeitschrift Wir selbst bekannt. Sein ‚Hausblatt‘ ist freilich Europa vorn. Bauer kommt vermutlich auch aus der Nationalrevolutionären Basisgruppe München (vgl. Anm. 26), gab dann für die Politische Offensive die ehemalige NRKA-Zeitschrift Aufbruch heraus. JF-Redakteur 1990/91 im Ressort Politik (wenige Artikel!). Zeitweise bei den Republikanern (Junge Republikaner NRW, Hrsg. der Fliegenden Blätter; 1989 in einer Kölner Bezirksvertretung).)) Bauer vertritt dort einen ’neurechten‘ Ethnopluralismus und wendet sich gegen „biedere Brauchtumspflege“; zugleich spricht er sich für ein „revolutionäres Prinzip“ aus und für „ein kämpferisches Bekenntnis zu Formenreichtum und Vielgestaltigkeit, gegen ästhetische Verödung und globalen Formenschwund; für einen aus dem Reichtum des vielfältigen menschlichen Kulturerbes sich nährenden, aktiven Gestaltungswillen“ sowie gegen die Vorstellung einer Einheitszivilisation (MK S. 138). Die wahre Front verlaufe zwischen oben und unten.

Molau bezeichnet das von Ulbrich herausgegebene Buch herablassend als „Diskussionsbeitrag“. Richtig giftig meint er, die multikulturelle Gesellschaft sei endgültig out. Sie sollte auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden. Das ist der Auftakt zu einem Frontalangriff gegen die ‚Neue Rechte‘, von der ebensowenig wie von den schlaffen bürgerlichen Politikern irgendwelche konstruktiven Ideen kämen. Stefan Ulbrich wird regelrecht vorgeführt: „So hat Stefan Ulbrich mit seinem Diskussionsbeitrag ‚Multikultopia‘ (vgl. JF 9/91) letztlich nur den Befürwortern der multikulturellen Kultur einen Bärendienst erwiesen, wenn er etwa Marcus Bauer den hirnlosen Satz der deutschen Linken ‚Ausländer, laßt uns mit diesen Deutschen nicht allein’ zuläßt.“ Danach kommen die sattsam bekannten „Begründungen“, etwa: „Ist es human, Menschen aller Herren Länder ein gesichertes Auskommen in unserem Land anbieten zu wollen und allen Bewohnern desselben die Lebensgrundlage zu entziehen?“

Jutta Winckler (= Heinz-Theo Homann) greift mit ihrem Artikel Gegen die politische Verbiedermeierung (JF 3/91) in die Debatte ein. Sie plädiert gegen einen „gefühlig-moralisierende(n) Anti-Nord-Amerikanismus von de Benoist und Venohr (JF 1-2/91)“, der „leider auch typisch für einen großen Teil der jungen Rechten“ sei. Die Amis, so Wincklers Argument, hätten doch gesiegt, sie seien doch die Stärkeren! Ihr scheint die ganze Kulturdebatte auf den Nerv zu gehen: „Wer von Kultur redet, soll von Politik, gar von Hegemonie, schweigen.“ Sie richtet sich gegen die Kulturyuppies von der ‚Neuen Rechten‘, aber auch gegen zu gefühlige, zu wenig rationale Jungs wie Molau; sie gibt sich realpolitisch und kokettiert provokant mit einem ‚pro‘-amerikanischen Gestus.

Molau findet das wohl zu zynisch und wehrt sich (in seinem Artikel Das Andere der Vernunft in JF 4/91) gegen den Vorwurf der „Verbiedermeierung“ und des „Larmoyante[n] Selbstmitleid[s]“ durch Jutta Winckler. Er bezeichnet sie als puren Rationalisten mit einer gehörigen Portion Nihilismus. Leidenschaft und Gefühl würden verdrängt. Aber Gefühlspolitik sei wichtig. Gefühl sei eben das Andere der (kalten) Vernunft der Aufklärung. ((Molau intoniert sein „Bewahren“ in einer Vielzahl von Artikeln immer wieder aufs Neue, etwa in Leere Häuser, gefrustete Konsumenten. Oper am Ende? (JF 7-8/93, S. 16) oder in Schulmonopol in der Diskussion. Was uns Bildung wert ist (JF 5/94). Er wendet sich gegen die Vielfalt, denn „eine Gesellschaft konstituiert sich geradezu aus dem Anspruch, Gemeinsamkeiten zu haben, Normen auszubilden“.))

Doch auch andere Autoren mischen sich ein: So Michael Hageböck in Retortenkultur und totale Entwurzelung der Sprache. Traum vom attraktiveren Ich (JF 3/93, S. 12)). Er bezieht sich direkt und unter Namensnennung auf den Artikel zur Kultur von Ulbrich. Er kritisiert Ulbrich scharf, weil dieser auf das Eigene verzichte. Die „neue Kultur“ sei „nichts anderes als des Kaisers neue Kleider“. Zentrales Argument ist für Hageböck die Homogenität der Sprache, wobei er klassischen Sprachidealismus produziert: Sprache (als solche) forme die Sicht der Wirklichkeit: „Übertragen wir die Erkenntnisse der Sprachwissenschaft auf alle Bereiche der Kultur, scheint es mit der Kompatibilität von Kulturen nicht weit her zu sein.“ Kultureme seien jeder Kultur eigen, man habe sie instinktmäßig verinnerlicht. Deshalb könne man sie auch nicht lernen. Genannt werden bestimmte Sitten und Gebräuche bei Tisch. ((Was die Kultureme mit Sprache zu tun haben, wird nicht herausgearbeitet. Insofern ist der Artikel auch inhaltlich brüchig.))

Bös polemisiert Hageböck gegen Ulbrich: „neurechte Franzosen sind keine Wikinger.“ Und: „Den Protagonisten von Multikulti oder der Neuen Kultur schwebt freilich etwas anderes vor. Während die erste Spezies an die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit glaubt, artikuliert die zweite ein nekromantisches Sehnen nach der Zeit der Regentänze. Mit zwangsläufiger Oberflächlichkeit wird Gemeinschaft im herkömmlichen Sinne zerstört – doch statt des Paradieses macht sich im monokulturellen Vakuum der Liberalismus breit. Als Indikator dient die Sprache […]. Als Rettung vor dem finalen Realitätsverlust sucht der freizeitgestreßte Neue Konsument seine Neue Identität in diffusen Hobbygemeinschaften. – Die Auguren von Multikult und Neuer Rechten erwarten die Niederkunft eines Neuen Menschen. Der ‚Übermensch’, die Inkarnation des Kaspar Hauser, ist Symbolgestalt der totalen Entwurzelung.“

Aktuell: Eine neue Wendung?

Eine neue Wendung nimmt die Debatte um den Kulturbegriff mit einem Artikel von Hartmut Lange ((Hartmut Lange ist Schriftsteller aus Berlin, arbeitete u.a. als Dramaturg und Regisseur am Schiller- und Schloßpark-Theater (nach JF).)): Kritik an dem Versuch einer ‚neurechten’ Sinnsuche. Resultat der Entortung (JF 5/94, S. 12).

Das ist die zweite Ausgabe der JF als Wochenzeitung. Ulbrich ist aus der Redaktion ausgeschieden, neben einer Reihe anderer exponierter ’neurech­ter‘ Autoren. Lange, den Molau bereits 1992 interviewt hatte, wendet sich gegen die ’neurechten‘ Ideen à la de Benoist und Ulbrich. Er kritisiert Hans-Dietrich Sanders Streitschrift Die Auflösung aller Dinge, weil dieser sich nicht auf Heideggers Existenzialphilosophie bezogen habe. Er kritisiert somit zugleich die ‚Alte Rechte‘ und versucht, eine sich auf Heidegger berufende andere (neue?) Rechte zu initiieren. Seine Ziele sind zwar durchaus mit denen der ‚Alten Rechten‘ vergleichbar. Er will aber darauf aufmerksam machen, daß „wir“ diese Ziele nur erreichen können, wenn wir akzeptieren, daß wir in einer existentiell absolut bedrohlichen und krisenhaften Zeit des Unheils leben.

Lange zitiert und kommentiert Heidegger zunächst folgendermaßen: „Die Moderne ist nicht nur ein Produkt der Aufklärung, sie ist ein Produkt der Selbsterkenntnis des Menschen … Es ist eine existenzielle Krise im Selbstbewußtsein des 20. Jahrhunderts, die wir, wie andere Völker auch, an unserer Existenz erkannt haben. Diese Geworfenheit ist grundlos und eben diese Grundlosigkeit haben wir als Grund selbst zu übernehmen.“ Und weiter: „’Dasein heißt – Hineingehaltenheit in das Nichts’ – vor diesem Satz besteht keine Religion mehr, aber auch keine Sehnsucht nach einer verlorengegangenen völkischen Identität. ‚In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglich mit sich selbst zusammen’ – vor diesem Satz besteht kein Rassegedanken mehr, auch kein Versprechen einer kollektiven, möglichst staatspolitisch definierten Geborgenheit.“ Es folgt ein Verweis auf Heideggers Definition des Menschen als „unbehaust“, belastet mit der Grundbefindlichkeit der Angst. Dann folgt die wichtige Passage:

„Eine ‚Neue Rechte‘, die sich irritationslos auf altbackene, überkommene, völkische, eben auf Prämissen der Blut- und Bodenromantik bezieht, kann auf die Dauer keine neuen Ufer und damit keinen Einfluß gewinnen. Sie würde der falschen Gewißheit der Neuen Linken, daß der Welt, die aus den Fugen geraten ist, nur mit den Mitteln eines rigorosen Rationalismus geholfen werden kann, lediglich eine andere, ebenso falsche Gewißheit entgegensetzen, nämlich, daß die Welt am rigorosen Rationalismus ihrer Gegner aus den Fugen geraten ist und es also lediglich darauf ankommt, diese Gegner und ihren Rationalismus zu bekämpfen. Beide Positionen vergrößern das Übel. Sie führen zu jenem anschwellenden wechselnden Bocksgesang, den Botho Strauß unlängst den Deutschen diagnostiziert hat, und eine falsche Gewißheit, so oder so determiniert, verhindert immer wieder, daß wir uns auf Möglichkeiten, die im Ungewissen verborgen sind, besinnen. Die Idee einer Volksgemeinschaft, einer Nationalkultur, das Bedürfnis nach Familie, Heimat, Kameradschaft, meinetwegen auch staatspolitischer Geborgenheit, werden um so kostbarer, je eindringlicher wir wissen, daß dies alles gegen unsere grundlos geworfene Existenz errungen werden muß und nicht gegen einen rassischen oder sozialpolitischen Feind, den wir nur allzu gern und allzu rasch auf die andere Seite der Barrikade setzen.“

Es muß „gegen unsere grundlos geworfene Existenz errungen werden“. Was das konkret heißt, verschweigt Lange.

Es blüht im Walde tiefdrinnen die blaue Blume fein

Deutlich aber dürfte mit diesem letzten Artikel geworden sein (und durch die personellen Umstrukturierungen in der Redaktion), daß die JF den ’neurechten‘ Kulturkurs, für den Ulbrich stand, nicht einschlagen möchte. Schwer kaut sie am Erbe der ‚Alten Rechten‘, mit dem sie sich eigentlich identifizieren möchte, dies aber nicht kann, einmal, weil deren Schatten trotz aller Dementis zu tief in die Zeit des Faschismus in Deutschland hineinragt; zum anderen aber, weil ihre Vertreter keinen Ausweg bieten, wie die Probleme moderner Gesellschaften glaubhaft zu lösen wären.

Die Junge Freiheit bemüht sich krampfhaft, die rechts-blaue Blume einer dritten Position zu finden, ohne daß ihr dies bisher gelungen wäre. Der Grund besteht darin: Es gibt sie nicht, diese blaue Blume, nach der Romantiker aller Zeiten immer schon vergebens gesucht haben. So bleibt die Kulturdebatte in der JF wohl auch in Zukunft ein Eiertanz um den heißen Brei einer ‚altrechten Orientierung‘, der erst recht nicht durch Hinzufügung der bitter-pessimistischen Ingredienzien Heideggerscher Existenzphilosophie genießbarer wird.

Richtig ist, daß sich diese komplexe moderne Gesellschaft in einer Krise befindet. Mit dem Gedankenbrei, den die Junge Freiheit in den letzten Jahren geboten hat – und nicht nur sie, sondern alle konservative und rechte Demokratiekritik -, läßt sie sich nicht lösen. Was dagegen nottut ist eine Kritik an dieser Gesellschaft, deren Krise darin besteht, zu wenig Demokratie zu wollen und durchzusetzen. Ich denke, Hauke Brunkhorst hat recht, wenn er sagt: „Es gibt eine Zukunft radikaler Demokratie ohne Metaphysik, höhere Wahrheit und Tugendwächter, oder es gibt keine Demokratie. Tertium non dabitur“ (Brunkhorst 1994).

Zitierte Literatur

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