Möglichkeiten der Verbesserung der Bildungssituation…

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…von Sinti und Roma in Deutschland. Ein Artikel von Michael Lausberg, erschienen im DISS-Journal 25 (2013).

In Deutschland leben etwa 70.000 bis 140.000 Sinti und Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit. Hinzu kommen ca. 50.000 Flüchtlinge und eine kaum schätzbare Zahl von so genannten Arbeitsmigrant_innen. Seit 1998 sind Sinti und Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit neben den Dän_innen, Fries_innen und Sorb_innen als „nationale Minderheit“ anerkannt. Im Folgenden werden die aktuelle Bildungssituation der Sinti und Roma analysiert und Möglichkeiten und Voraussetzungen ihrer Verbesserung diskutiert.

Die im Nationalsozialismus durchgesetzten „Ausschulungen“ von Sinti und Roma und die damit verbundenen Bildungsabbrüche waren in den ersten Jahrzehnten nach 1945 für die desolate Bildungslage und die daraus resultierende wirtschaftliche Not der Minderheit verantwortlich. Erst im Zuge der Bürgerrechtsinitiativen und der Selbstorganisation der Sinti und Roma in der BRD in den 1970er und 1980er Jahren gab es erste bildungspolitische Ansätze. Kinder aus Sinti- und Roma-Familien wurden oft ohne Ansehen der wirklichen Leistungsfähigkeit in Sonderschulen abgeschoben; eine Praxis, die heute noch angewandt wird.

Ein Dokumentations- und Forschungsprojekt zur Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma, das von RomnoKher, Haus für Kultur, Bildung und Antiziganismusforschung in Mannheim initiiert wurde, belegt die desolate Bildungslage der Minderheit. ((Strauß, D. (Hg.): Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Dokumentation und Forschungsbericht, Marburg 2011.)) Das zwischen 2007 und 2011 durchgeführte Projekt ist die erste Bildungsstudie seit mehr als 30 Jahren. Dabei wurden Sinti und Roma aus drei Generationen vornehmlich in Westdeutschland zu ihrer Bildungssituation befragt. Dabei ging es im Wesentlichen um die Frage, ob für die deutschen Sinti und Roma ein gleichberechtigter Zugang zum Bildungssystem in der BRD, insbesondere im schulischen Bereich, besteht. Außerdem wurden die Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik sowie Diskriminierungserfahrungen und verschiedene andere Lebensbereiche dokumentiert und analysiert. ((Die Untersuchungen wurden sowohl mit einem Fragebogen zu qualifizierbaren Daten als auch mit selbständig formulierten Berichten zur eigenen Bildungsbiographie und sozialen Situation durchgeführt.))

Die Ergebnisse der Studie verweisen auf eine desolate Bildungslage der deutschen Sinti und Roma und ein „gravierendes Versagen des deutschen Bildungssystems“ im Allgemeinen. ((www.bpb.de/apuz/33303/zur-bildungssituation-von-deutschen-sinti-und-roma)) Nur 2,3% der Befragten besuchten ein Gymnasium, 11,5% die Realschule. 13% besuchten überhaupt keine Schule und mindestens 44% besitzen keinerlei Schulabschluss. 81,2% haben persönliche Diskriminierungen erfahren: In Bezug auf die Bildungseinrichtung Schule gab es offene, alltägliche Diskriminierungen in Form von antiziganistischen Anfeindungen seitens einzelner Schüler_innen. Antiziganistische Vorurteilsstrukturen waren aber auch bei Lehrer_innen festzustellen, die im Schulalltag offen artikuliert wurden. Diese Erfahrungen führten zu Ängsten und Misstrauen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und ihren Bildungsinstitutionen. ((Ebd.))

Einzelne Personen berichten von schwerwiegenden negativen Erfahrungen durch das Bekanntwerden ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Sinti und Roma. Dies führte dazu, dass sie sich außerhalb der Minderheit gar nicht mehr als Sinti und Roma zu erkennen gaben und selbst bei Nachfragen ihre Herkunft verleugneten und eine andere angaben. 20,7% der Befragten verleugneten in ihrem Berufsalltag ihre Zugehörigkeit zur Minderheit. 16,1% bekennen sich bei der Arbeitssuche aus Angst vor Ablehnung nicht als Sinti und Roma. ((Ebd.))

Zur Verbesserung der Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma schlägt Strauss mit Recht eine gesellschaftliche Verankerung „nachhaltiger Anerkennung- und Teilhabestrukturen“ vor, um erfolgreiche Bildungsprozesse in der Frühförderung, in den Schulen, in der Ausbildung sowie in der Weiter- und Erwachsenenbildung zu initiieren. ((Ebd.)) Strauss orientiert sich dabei an den Empfehlungen des Europarates an die Bundesrepublik, eine wirksame Förderung der vollen Gleichstellung der deutschen Sinti und Roma sicherzustellen. ((Vgl. dazu www.rrz.uni-hamburg.de/r23a035/beck.html))

Generationenübergreifend sollten alle Sinti und Roma Zugang zu einer gleichberechtigten qualitativ hochwertigen Bildung sowie zu beruflicher Ausbildung und einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Weiterhin fordert Strauss einen „Nationalen Aktionsplan“ für eine erfolgreiche Bildungsförderung der Sinti und Roma. Laut Strauss wäre eine Bildungskommission zur Konzipierung dieses Aktionsplanes zu gründen, in der Vertreter_innen von Bund, Ländern und Kommunen sowie gleichberechtigt Vertreter_innen der Sinti und Roma mitwirken sollten. Die Einbindung von Bildungsexpert_innen und gesellschaftlichen Akteuren wie Stiftungen, Forschungsinstituten oder interkulturellen Initiativen wäre empfehlenswert. Dieser „Nationale Aktionsplan“ sollte nach Strauss folgende Aufgaben umfassen: ((www.bpb.de/apuz/33303/zur-bildungssituation-von-deutschen-sinti-und-roma))

  • Aufbau struktureller Fördermaßnahmen auf Bundes-, Länder- und lokaler Ebene;
  • Entwicklung und Umsetzung von gezielten Fördermaßnahmen und Programmen zur tatsächlichen Gleichstellung von Sinti und Roma;
  • Engagement von Personen des öffentlichen Lebens zugunsten von Sinti und Roma;
  • Überzeugungsarbeit in der Minderheit für einen „Bildungsaufbruch“. Individuelle Bildungsförderung, die an die Lebenswelten, Sprache und kulturelle Identität der Sinti und Roma anknüpft und ihnen im deutschen Bildungssystem gleichberechtigte Bildungschancen sichert;
  • Erwachsenenbildungsprogramme für Sinti- und Roma-Familien, um unzureichendes Bildungskapital der Eltern auszugleichen und kompetente Bildungsentscheidungen von Eltern und Kindern zu ermöglichen;
  • Eine Kooperation von Erziehungswissenschaften und Fachinstitutionen mit Bildungseinrichtungen der Sinti und Roma.

In der Praxis bedeutet dies, dass das Bildungsangebot sich insbesondere darum bemühen muss, zwischen den Lebensorientierungen und Verhaltensmustern innerhalb der Minderheit und den in der Mehrheitsgesellschaft gültigen Maßstäben und praktischen Regeln zu vermitteln. Dies kann oft nur ein Kompromiss sein. Fast alle beschrittenen Lösungswege, den spezifischen Defiziten bei der schulischen Betreuung der Kinder aus Sinti und Roma-Familien zu begegnen, betonen die Notwendigkeit von Kontakten zu den Eltern bzw. Familien, z.B. durch zahlreiche und regelmäßige Elterngespräche. Wo persönliche Kontakte, Beziehungen und Betreuung in der Schule insbesondere zu Eltern und deren Wohnumfeld aufgebaut wurden, gab es größere Erfolge in der „Beschulung“. ((Schneider, N.: Bildung als Schlüsselkompetenz bei der Integration von Migranten, Berlin 2005, S. 46.)) Angebote außerschulischer Förderkurse als sozialpädagogische Begleitmaßnahmen wären wünschenswert.

Die Muttersprache der Sinti und Roma, das Romanes, sollte wenn möglich in der Schule berücksichtigt werden. Ein Unterrichtsangebot in der Muttersprache könnte nicht nur helfen, sprachliche Probleme zu überwinden. Es könnte auch ermöglichen, Inhalte aus der eigenen Kultur und familiären Umgebung in der Schule aufzugreifen und so die Kluft zwischen Familie und Schule zu reduzieren. Die Aufnahme eigener Inhalte könnte so als vertrauensbildende Maßnahme zwischen dem Elternhaus und der Schule verstanden werden. Es gibt aber auch den Ansatz, dass einige Roma-Vertreter die Gründung eigener Schulen bevorzugen, in denen der Unterricht in Romanes stattfindet und die in ihrer Organisation, ihren Inhalten und Methoden ganz an die Bedürfnisse der Minderheit orientiert sind. ((Schmitz, H.: Von Der Nationalen zur Internationalen Literatur: Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam 2009, S. 40f.))

Die Mehrheitsgesellschaft sollte ein Qualifikations- und Fortbildungsangebot von und für Sinti und Roma finanziell ermöglichen. Dabei sollte es eine gleichberechtigte Beteiligung von Sinti und Roma bei der Lehrplanarbeit geben. Um die Analphabetenzahl zu verringern, wären speziell eingeführte Kurse – nicht nur für Sinti und Roma – empfehlenswert. Diese sollten in möglichst kleinen Gruppen erfolgen, wobei das Angebot für Frauen mit einer Kinderbetreuung verbunden sein müsste. Weiterhin müssten von Sinti und Roma mitkonzipierte Ausbildungsprojekte für Jugendliche ohne Schulabschluss ermöglicht werden.

Außerdem sollten Zusatzqualifikationen für Lehrpersonen, die mit Kindern von Sinti und Roma arbeiten, angeboten werden. Wann immer möglich sollten Sinti und Roma selbst als Lehrkräfte ausgebildet und eingesetzt werden. Es gibt immer noch sehr wenige Unterrichtsmaterialien über Sinti und Roma. Eine Bestandsaufnahme und kritische Sichtung aller für den Unterricht vorgesehenen Materialien für den Einsatz in Deutsch, Sozialwissenschaft, Geschichte, Politik, Religion, Musik oder Kunst sowie ein fächerübergreifender Unterricht wären dringend geboten. Es müssten spezielle Materialien für Erstlese- und Schreibunterricht mit dem Ziel einer zweisprachig koordinierten Alphabetisierung entwickelt werden.

Diese Bildungsmaßnahmen müssen flankiert werden mit Maßnahmen zur Bekämpfung des Antiziganismus. Diverse Umfragen geben Aufschluss darüber, dass antiziganistische Ressentiments in weiten Kreisen der bundesrepublikanischen Gesellschaft fest verankert sind. Wie im von Strauß und anderen durchgeführten Forschungsprojekt beschrieben, ist anzunehmen, dass es bei Schüler_innen, Lehrer_innen aber auch Eltern, Sozialarbeiter_innen und Mitarbeiter_innen in kommunalen Einrichtungen usw. antiziganistische Vorurteile gibt. Selbstorganisationen der Sinti und Roma sowie Wissenschaftler wie Wolfgang Wippermann oder Marcus End haben immer wieder auf die Notwendigkeit von bildungspolitischen Maßnahmen gegen Antiziganismus hingewiesen. Dafür ist in erster Linie die Mehrheitsgesellschaft im gleichberechtigten Austausch mit Vertreter_innen der Sinti und Roma zuständig.

 

 

Literatur

Schmitz, H.: Von Der Nationalen zur Internationalen Literatur: Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam 2009.

Schneider, N.: Bildung als Schlüsselkompetenz bei der Integration von Migranten, Berlin 2005.

Strauß, D. (Hrsg.): Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Dokumentation und Forschungsbericht, Marburg 2011.

www.bpb.de/apuz/33303/zur-bildungssituation-von-deutschen-sinti-und-roma

www.rrz.uni-hamburg.de/r23a035/beck.html