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„Auf der Suche nach dem Subjekt, …

… den Möglichkeiten des Widerstands, ob nicht-diskursive Praktiken diskurstheoretisch begründet sind und der Alb der alten Geschlechter.“

Eine Rezension von Siegfried Jäger, erschienen im DISS-Journal 25 (2013).

Wie werden Menschen zu Subjekten?

Was ist ein Subjekt und welche Bedeutung haben die Diskurse für die Subjekt- und Objektbildung? Diese Fragen bestimmen eine wichtige Diskussion in der diskursanalytischen Theoriebildung. Die Antwort scheint einfach zu sein: Diskurse werden deshalb in unterschiedlicher Weise gelernt, weil Menschen in unterschiedlichen Umgebungen (Räumen) und Zeiten leben, unterschiedliche Sprachen und unterschiedliche Diskurse lernen und unterschiedliche Diskurse und deshalb unterschiedliche Objektivitäten und Subjektivitäten konstituieren.1Diese Unterschiedlichkeiten treffen in diskursiven Auseinandersetzungen und Kämpfen aufeinander. Es geht also darum, diese Unterschiede und jeweiligen Besonderheiten zu beschreiben. Das scheint so schwer nicht zu sein. Der Schriftsteller John Lanchester tut dies z.B. in seinem kürzlich erschienenen „Roman“ Kapital für die Zeit der Wirtschafts- und Finanzkrise (Zeit) in London (Raum), indem er eine bunte Galerie von höchst unterschiedlichen Menschen (Subjekten) entwirft und ihre Reaktionen, Prägungen und Veränderungen durch die gegebenen neoliberalen Chancen und Zumutungen zu skizzieren versucht.

Und die Subjekte leiden und lernen. Dieser diskontinuierliche Lernprozess ist offenbar sehr vielgestaltig und im Resultat durchwebt von Widersprüchen, Überlagerungen und Verschränkungen. Unsere Untersuchungen zu Rassismus, die wir in Gestalt der Analyse von Tiefen-Interviews in den neunziger Jahren bis in die Gegenwart durchgeführt haben, zeigen dies ebenfalls.2Widersprüche werden als solche nicht wahrgenommen und von den meisten Subjekten unhinterfragt nebeneinander gestellt. Das liegt einmal an den unterschiedlichen Lernzeiten und Lernräumen und findet nicht allein in institutionellen Lernumgebungen statt, sondern auch in Familie, Peergroup, Sport, durch Medienkonsum und durch Literatur. Das liegt aber auch daran, dass angesprochene Sachverhalte einfach nicht verstanden werden. So können manche Menschen Rassismus ablehnen, sich aber durchaus antisemitisch oder antiziganistisch positionieren, die Gleichberechtigung der Frauen fordern, aber sich gegen gleiche Löhne aussprechen. Aber es wird auch in den Diskursen vorhandenes Wissen verdreht, nach Maßgabe vorhandener Wissenskomplexe adaptiert oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

Wie kann man diesen Wirrwarr analysieren, z.B. einer zufriedenstellenden Diskursanalyse unterziehen?

Der Literat John Lanchester hatte es in dieser Hinsicht in seinem Roman Kapital (2012) ziemlich leicht. Er beschrieb Subjekte in einer kapitalistischen Gesellschaft, die sich in einer Krise befindet an einem bestimmten Ort: London in einer bestimmten Zeit. Es handelt sich um (fiktive) empirische Subjekte in ihren Umwelten und Beziehungen. Beispiel: der frustrierte Bankangestellte und seine konsumversessene, gierige Frau und ihr Leiden an zu niedrigen bzw. ausbleibenden Bonusausschüttungen und ihrer beidseitigen emotionalen Korruption. Oder der Künstler als versteckter Scharlatan, der die Angst, die die Menschen in der Krise verunsichert, dazu nutzt, jeden Dreck für teures Geld als Kunst zu verkaufen.

Prominente DiskursanalytikerInnen unterschiedlicher Herkünfte und – damit – akademischer Vorprägungen tun sich in dieser Hinsicht etwas schwerer, denn sie wollen nicht nur beschreiben, sondern bestimmte Sachverhalte ergründen, erklären oder gar kritisieren. Dieser (berechtigte) Wunsch konfrontiert sie jedoch mit einer Fülle von ungelösten Fragen, auch dann, wenn sie sich an den Arbeiten Michel Foucaults – oder erst recht? – orientieren.

Vielleicht besteht der wichtigste Hintergrund dieser Fragen darin, herauszufinden ob angesichts der (angeblichen) Determinismen der Diskurse (die so ja nicht von Foucault behauptet werden) Widerstand möglich ist und worin er bestehen kann. Diese Frage erweist sich jedoch als ziemlich unsinnig, weil sie von einer Art Homogenität aller Diskurse oder gar des Diskurses ausgeht, während die gesamtgesellschaftlichen Diskurse – wie gezeigt – realiter ein riesiges, vernetztes und sich überlagerndes Feld von Diskursen darstellen. Eine andere wichtige Frage besteht darin, diskursive Praktiken von nicht-diskursiven zu unterscheiden. Denn schließlich sind Subjekte ja auch immer Akteure; sie handeln, was nach dem Einbezug von Handlungstheorien schreit, die die Sozialwissenschaften ja massenhaft zur Verfügung stellen. Und dann die Macht: Haben die Subjekte Macht oder sind sie schlicht den Machtverhältnissen unterworfen?

Die folgende Aufsatzsammlung verspricht, auf diese Fragen einige Antworten zu geben:

Keller, Reiner/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.):
Diskurs – Macht – Subjekt.
Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung
Wiesbaden 2012, VS Verlag
266 Seiten, Euro 29.95

Die Einleitung der Herausgeber spricht von der „hohe(n) Polyvalenz“ der vorgelegten Artikel. Das dürfte nach diesen Eingangsüberlegungen auch nicht überraschend sein. Die diskursanalytischen Versuche der letzen Jahrzehnte bilden denn auch kein halbwegs abgeschlossenes Paradigma. Dies liegt aber, wie sich zeigen wird, nicht allein an dem vorherrschenden Pluralismus der jungen Disziplin der Soziawissenschaften, sondern daran, dass die – zugegeben schwierige Lektüre des Foucaultschen Werkes – keineswegs abgeschlossen ist. Es liegt auch daran, dass diese diskursiven Kämpfe unter dem Alb der alten Geschlechter stattfinden, denn die Rezeption Foucaults ist oft gleichsam kontaminiert durch die disziplinäre Herkunft und oft auch sogar durch die Forschungsschwerpunkte der Autoren, die sich mit Foucaultscher Diskurstheorie befassen. Auch das ist nicht verwunderlich. Im Feld der Diskursanalyse wird immer wieder Interdisziplinariät eingefordert3; und sieht man sich die verschiedenen Ansätze an, stellt sich heraus, dass trotz dieser Forderung die akademische Herkunft nahezu überall durchscheint und die Rezeption des Foucaultschen Ansatzes determiniert. Im Beispiel: „Als gegen Mitte der 1990 Jahre endlich auch die Geschichtsschreibung begann, den linguistic turn intensiv zu diskutieren, führte der Historiker Peter Schöttler die bis dahin gleichsam ängstlich erscheinende Zurückhaltung seiner Kollegen und Kolleginnen auf die ‚mangelnde intellektuelle Flexibilität von Berufswissenschaftlern’ zurück und bemerkte spitz, wer sich über Jahrzehnte damit befasst habe, Getreidesäcke zu zählen, könne sich nicht so plötzlich darauf umstellen, nach Bedeutungen, ihrer Produktion und ihren Effekten zu fragen.“4

Das Buch Diskurs – Macht – Subjekt dokumentiert diesen Sachverhalt zumindest in Teilen: Die AutorInnen kommen aus Soziologie, Philosophie, Wissenssoziologie, Literaturwissenschaft, Linguistik, Politikwissenschaft, Pädagogik und haben die unterschiedlichsten Forschungsschwerpunkte, und das führt oft zu „konträren Positionen“ (122). Zu konstatieren ist zudem, dass die Entwicklung des immer noch neuen Paradigmas unter Bedingungen schwerster diskursiver Kämpfe stattfindet, dass der Gegenstand der Überlegungen keineswegs fix ist, sondern möglicherweise im Kern weiterhin „im Fluss“ ist, und dass die Bedingungen an den wissenschaftlichen Institutionen kaum noch geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung zulassen.

Die Philosophin Petra Gehring bewegt sich: Abseits des Akteurs-Subjekts und untersucht Selbsttechniken, Ethik als politische Haltung und den Fall der freimütigen Rede. Sie meint, dass Foucault mit Subjekt etwas anderes meint als das empirische Subjekt, das er als „empirisch-transzendentale Dublette“ fasst (Foucault 1971, S. 384). Ihm sei der der Mensch ein changierendes Objekt. (23) Er weise das Subjekt als Grundlage aller rationalen Gewissheit zurück. Das sei ein Frontalangriff auf die bisherige Philosophie und das Cogito ergo sum. Diese Dublette sei Gegenstand der Humanwissenschaften und der Populations- oder Sozialstatistik geworden. Gehring befasst sich mit der schwierigen Problematik der Parrhesia. Der Parrhesiast setzt sich selbst aufs Spiel, indem er die „Wahrheit“ sagt, auch im Bewusstsein der Tatsache, dass es die (objektive) Wahrheit nicht gibt. Natürlich könne der Mensch sich ethisch formen, sein moralisches Verhalten entwickeln. Dies lasse sich aber nicht als Prozesse der Subjektivierung verstehen, auch wenn sie Verhaltensregeln etc. zur Grundlage haben.

Gehrings Fazit lautet mit Blick (nicht nur) auf die Sozialwissenschaften: „Subjekte finden sich allein in Texten, die subjektive Reflexionspositionen artikulieren; Menschen gibt es nicht; Existenzfragen stellen sich als Formfragen im geschichtlichen Maßstab – denn was als Sein gilt und was aktuelle Wirklichkeitsmacht besitzt, ist historisch relativ.“ Nutze man die Foucaultschen Werkzeugkisten, lasse sich Diskursforschung auf der Basis dieser klaren Theorie-Entscheidungen vielfältig einsetzen. Es herrsche allerdings ein Zwang zur Reflexivität. Und so werde es für alle Disziplinen schwierig, die gleichsam Originaltöne der Realität verarbeiten wollen: Akteure, Handlungen, Verhaltensweisen als Teil einer beobachtbaren Objektwelt, die sich szientistischen Methoden fraglos fügen würden – solche Bezugsgrößen lasse die Foucaultschen Analyse nicht zu. Disziplinäre Erwartungen diesen Typs hege beispielsweise – solange sie nicht unter der Hand zur historischen Textwissenschaft konvertieren möchte – die sozialwissenschaftliche Empirie. (Gehring S. 32)

Der Soziologe Joachim Renn meint, die Subjekte seien [n]icht Herr im eigenen Haus und doch nicht eines anderen Knecht und sucht nach dem Akteur im Diskurs, denn ihn als Soziologen interessieren offenbar vor allem nicht-diskursive Praktiken. Er befasst sich mit dem Subjekt aus der Sicht einer pragmatisierten Diskurstheorie, die an handlungstheoretische Motive des amerikanischen Pragmatismus anschließt. Er möchte, dass Foucaults Theorie der Macht in die Soziologie übersetzt werde. (S. 50)

Der Kulturwissenschaftler Jürgen Link sieht Subjektivitäten als (inter)diskursive Ereignisse. Seiner Ansicht nach lernen Kinder ihre Subjektivität als transsubjektive Subjektivität im Verlauf ihres Lebens. So erlerne man nicht nur die Sprache, sondern auch die Diskurse. Man wachse gleichsam in sie hinein. Diskurse lerne man nicht durch Aushandeln, sondern Aushandeln lerne man, indem man in die Diskurse hineinwachse. Seine Definition von Diskurs ähnelt stark derjenigen, auf die wir uns auch im DISS stützen: „Diskurse sind im Unterschied zu natürlichen Sprachen historisch-kulturell sehr viel stärker variabel und legen (sprachübergreifend) jeweils spezifische Sagbarkeits- und Wissensräume sowie deren Grenzen fest. Es sind institutionalisierte, geregelte Redensweisen als Räume möglicher Aussagen, die an Handlungen gekoppelt sind. Dazu gehört insbesondere die Konstitution von spezifischen historischen Objektivitäten und Subjektivitäten: Objektivitäten im Sinne sozialer Gegenstände und Themen, Begriffe, Klassifikationen und Argumente; Subjektivitäten im Sinne von legitimen Sprecherpositionen sowie Gender- und anderen Sprecher- und Rezipientinnenrollen einschließlich spezifischer körperlicher Prägungen (Habitus). Aus der Eingrenzung von Sag- und Wissbarkeit, der Sprechersubjektivität sowie den Kopplungsflächen zur Handlung generiert sich der Machteffekt der Diskurse.“5 (57 f.) Das Verhältnis von Diskurs und Subjekt illustriert Link anhand der Kollektivsymbolik von Organismus und Maschine in unterschiedlichen historischen Kontexten. Zentral ist bei Link die historisch kulturelle Variabilität der Subjektpositionen.

Der Soziologe Reiner Keller untersucht den menschlichen Faktor6 und denkt nach über Akteur(inn)en, Subjektpositionen, Subjektivierungsweisen in der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA). Diskutiert werden drei Lesarten des Verhältnisses von Diskurs und Subjekt im Anschluss an Foucault: Diskurs macht Subjekt, Diskurs Machtsubjekt, Diskursmacht Subjekt. Alle drei hätten Mängel, und Keller macht sich auf, diese zu beheben.

Keller bezieht sich nicht auf einen eigenen Diskurs-Begriff. Er lehnt die „Gesellschaftliche (diskursive) Determination menschlicher Handlungsweisen, Selbst- und Weltverhältnisse ab.“ (87) Er verteidigt zwar Foucaults Position der Absage an das autonome Subjekt. Er ringt aber um die Rolle von Akteurinnen, Sprecherinnen, um Subjektpositionen und Subjektisierungsweisen in der WDA. Er schließt an soziologische Analysetraditionen an, die sich bereits von philosophischen Positionen der Subjektbestimmung ab- und der gesellschaftlichen Konstitution der Subjekte zuwandten. Mit dem menschlichen Faktor ist so etwas gemeint wie Eigensinn, Abstand gegenüber diskursiv determinierten Konzepten, etwas unausgesprochen die Möglichkeit von Widerstand und Protest. Vermisst er vielleicht doch ein wenig das autonome Subjekt?

Die Politikwissenschaftler(innen) Martin Nonhoff und Jennifer Gronau diskutieren die Freiheit des Subjekts im Diskurs. Es geht um die Gleichursprünglichkeit von Diskurs und Subjekt sowie um die Freiheit des Subjekts. Sie untersuchen einführende Werke zur Politikwissenschaft und Foucaults Verständnis vom Subjekt. Insgesamt scheint das Subjekt in den politikwissenschaftlichen Einführungen unterbelichtet – auch wenn es einige Berührungen gebe, z.B. wenn das Subjekt als Akteur auftrete. Empfohlen wird, beide Hüte aufsetzen zu können, den „Akteurshut“ und den „Subjekthut“. Hier sind Suchbewegungen zu beobachten, die irritieren sowie auch der Alb der alten disziplinären Geschlechter. Ein ziemlich typischer Satz lautet: „Menschliche Individuen sind damit in vieler Hinsicht nicht anders als andere diskursive Elemente.“ (123)

Der Soziologe Ulrich Bröckling hört den Ruf des Polizisten und befasst sich mit der Regierung des Selbst und ihre(n) Widerstände(n). Das unternehmerische Selbst sei nicht real, sondern diene als eine Art Vorbild, an dem sich alle orientieren sollen, sich dem aber auch verweigern können. Dies resultiere in den unterschiedlichen Typen der Auflehnung, dem Enthusiasten, dem Ironiker und dem Melancholiker. Alternativen dazu beruhten auf der Frage, wie man anders anders sein könne. Dies könne darin bestehen, auf dem Weg zum unternehmerischen Selbst den Ruf einfach zu überhören oder indem man Kritik als Verkehrsstörung betreibe.

Die Soziologin Andrea D. Bührmann beschäftigt sich mit dem unternehmerischen Selbst und diskutiert die Frage des Unterschieds und des Zusammenspiels von Subjektformierung und Subjektivierungsweise. Es habe ein Wandel moderner Subjektivierung stattgefunden hin zum unternehmerischen Selbst, das sich selbst und andere als Unternehmen betrachte. Aber sie fragt auch, ob es sich dabei „nur“ um einen Wandel der Subjektformierung handele, sondern auch um einen Wandel der Subjektivierungsweise? „Subjektivierungsweise bezeichnet dabei hier „die Art und Weise, wie Menschen sich selbst und andere auf einer empirisch faktischen Ebene wahrnehmen, erleben und deuten“ (Bührmann 2007, 642) „Demgegenüber zielt der Begriff der Subjektformierung darauf, wie Menschen auf einer normativ programmatischen Ebene über bestimmte Praktiken oder Programme lernen sollen, sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erleben und zu deuten.“ (146)

Es geht ihr also mit der Unterscheidung von Subjektivierungsform und Subjektivierungsweise darum, zu erfassen, wie Menschen ganz allgemein zu Subjekten werden und um den Anteil der Formung von Subjekten durch Programme, Ratgeber, Schulen etc. Sie fragt dann, ob sich in der Moderne nicht neben der Subjektformierung auch die Subjektivierungsweise hin zum unternehmerischen Selbst gewandelt habe. Hat sich nicht nur der Außeneinfluss geändert, sondern auch der Inneneinfluss? Dabei will sie folgendermaßen vorgehen:

Bührmann greift auf ihre Überlegungen zum Dispositiv zurück7, weil ihr dies die Unterscheidung zwischen Subjektivierungsweise und Subjektivierungsform ermögliche. Die Subjektformierung erfolge im Zuge nicht-diskursiver Praktiken. Sie kommt zu dem Schluss, dass möglicherweise auch ein Wandel der Subjektivierungsweise ansteht. Dabei scheint mir das Verhältnis diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken weiter diskutiert werden zu können.

Der französische Linguist Dominique Maingueneau befasst sich mit Äußerungsszene und Subjektivität. Ihm geht es darum, Veränderungen und Verständnisse von Subjekt im Diskurs erkennbar zu machen, z.B. an der Kleidung.

Der Politik- und Gesellschaftswissenschaftler Willy Viehöver widmet sich einem sehr konkreten aktuellen Thema: Narrative Diskurse und die ästhetisch-plastische Chirurgie. Seine zentrale Frage lautet: Wie funktionieren nicht-diskursive Praktiken? Es wird doch geschnitten, entfernt, verkleinert etc. Was haben sie mit diskursiven Praktiken zu tun? Er konstatiert: Nicht-diskursive Praktiken finden immer in diskursiven Kontexten statt und werden durch sie beeinflusst, was ihn aber nicht zufriedenstellt.

Viehöver stützt sich dann auf Paul Ricœurs Erzähltheorie und sein Verständnis narrativer Diskurse. Er ringt um de Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken und sieht in Ricœur einen Ausweg aus dem Dilemma, dass es neben sprachlichen Diskursen offensichtlich nichtsprachliche geben muss, z.B. das in-den-Körper-Schneiden. Ricœur setzt an bei „Texten“ (Fabeln, Geschichten, Tagebüchern, Literatur, Ratgebern etc.), die einen Produzenten und einen Rezipienten haben. Darin hofft er etwas über die Subjekte zu erfahren. Das findet mit Hilfe von Greimas´ struktureller Semantik statt und in Auseinandersetzung mit der Ratgeberliteratur zur Schönheitschirurgie. Hingewiesen wird auch auf die gesellschaftliche Funktion und den ökonomischen Wert der Schönheit und Auswirkungen auf das „unternehmerische Selbst“. Sein Artikel ist ein weiteres Beispiel für die komplexen Suchbewegungen auf dem Feld der soziologischen Diskursanalyse.

Der Pädagoge und Lerntheoretiker Daniel Wrana möchte: Den Diskurs lernen – Lesarten bilden und Die Differenz von Produktion und Konsumption in diskursiven Praktiken auffinden.

Ja, Diskurse werden gelernt. Und dies zu behaupten, ist sicherlich ein Fortschritt. Wrana zielt auf ein analytisches Instrumentarium, mit dem Lernprozesse empirisch beobachtet werden können. Quantitativ, an den Wahrheitstheorien des kritischen Rationalismus orientiert, und an der kognitiven pädagogischen Psychologie, an ethnographischen Arbeiten,, an diskursiver Psychologie, einer semiotischen Lerntheorie (Umberto Eco) sowie an einer diskurslinguistischen Lerntheorie, diskursanalytisch als Praktiken des Bildens von Lesarten in ihrer Gebundenheit in Machtverhältnissen reformuliert.

Er konstatiert m. E. völlig richtig, dass Menschen Texte etc. oft unterschiedlich verstehen, infolge verschiedener Alter, Herkünfte, Lernmöglichkeiten. Trotzdem entstehen trotz aller Polysemie sehr ähnliche bis gleiche Lesarten und damit ähnliche Wissenskomplexe bei unterschiedlichen Subjekten. Wrana bewegt sich zunächst auf der Ebene der Äußerungen und nicht auf der der Aussagen, die trotz der Komplexität und Vielfältigkeit der Äußerungen nicht oder kaum polysem sind. Hinzu kommt, dass durch die ständige Wiederholung der Aussagen diese eine enorme Festigkeit erlangen.

Wrana kommt allerdings auch auf die Aussagen zu sprechen. Er spricht aber von einer pragmatischen Wende gegenüber der Archäologie des Wissens und gibt den diskursiven Praktiken mehr Gewicht. Unter Verweis auf Stuart Hall (1980) hält er fest, dass die Hegemonie nie völlig fest ist, sondern brüchig und mit Widerständen befrachtet. Hegemonie und ihr Wissen seien nie endgültig sondern immer vorläufig und letztlich nie objektiv. Wrana sieht, dass diskursive Kämpfe stattfinden, aber oppositionelle Lesarten seien doch eher schwach, sonst könnte der Hegemon ja nicht regieren. Wrana möchte, dass man das genauer untersucht.

Abschließend werden zwei Projekte vorgestellt: Die Untersuchung von Höhne/Kunz zu Schulbüchern. Diese seien von weiteren Texten umstellt, die eine bestimmte Lesart nahelegen, was darauf verweise, dass dies offenbar nötig sei (Lehrpläne), wenn man die eine Lesart durchsetzen wolle. Das zweite ist ein eigenes Projekt: es zeige sich, dass Kontexte vorhanden seien, die bestimmte Lesarten festigen. Hier sind es darüber hinaus bestimmte Subjektivierungen, Lernberatungen, und nicht nur die Texte selbst, die eine Lesart implizieren.

Diese Überlegungen sind politisch hoch interessant, auch wenn sie nahezu ausschließlich auf Schule bezogen sind, sich aber auf andere Lebensbereiche leicht übertragen und anwenden lassen, wenn sie von dem teilweise unnötigen akademischen Ballast befreit werden.

Der Soziologe Hubert Knoblauch beschäftigt sich mit dem Topos der Spiritualität und diskutiert das Verhältnis von Kommunikation, Diskurs, und Subjektivität am Beispiel der Religion. Einleitend betont der Autor die tragende Rolle der Kommunikation für die Herausbildung von Diskursen und definiert: „Die institutionalisierten Formen kommunikativen Handelns nun möchte ich als Diskurs bezeichnen, dessen konstruierte Faktizität natürlich immer einen Machtaspekt aufweist.“ (249) Topoi sind ihm soziale Phänomene, inhaltliche Verfestigungen von Kommunikation. Als Beispiel wählt er „Spiritualität“, weil dieser Begriff systematisch mit der Subjektivität verknüpft sei. Dieser nicht wissenschaftliche Begriff (Topos), wie er sagt, sei Ausdruck einer grundlegenden Veränderung des religiösen Feldes. (253) Spiritualität sei die gegenwärtige Form einer subjektivistischen Religiosität. Es handle sich um einen Ersatzbegriff, der den der Religiosität kontrastiere. Die Rede sei sogar von populärer Spirualität, z.B. im Bereich Wellness. Insgesamt verweise der Begriff auf eine „subjektive Erfahrungsdimension“. Diese werde subjektiv kommuniziert, aber beruhe auf angeblich eigener Erfahrung. Es finde eine doppelte Subjektivierung statt: es gebe einen aktiven Ansprechpartner, der die eigene Erfahrung als öffentliches Thema entfalte und damit die Grenzen öffentlich und privat sprenge. Abschließend kommt Knoblauch auf die Kommunikation zurück: Kommunikation und Macht. Die Darstellung von Bröckling zur Kritik am neoliberalen Kapitalismus sei zwar wichtig, aber die Entwicklung der Spiritualität habe weitere Gründe: der Generationswechsel (Verweiblichung, Übergang von Hand- zu Wissensarbeit, Transformation der Kommunikationsstruktur, vermischt mit anderen Formen), Veränderung der Machtverhältnisse, die direkt mit der Veränderung der Kommunikationsverhältnisse einhergehe. Eine neue Kommunikationsstruktur „mache“ die Art der Subjektivierung, die als Spiritualität beschrieben werde. Und diese werde von den Subjekten mit vollzogen. Es sei die Struktur einer Kommunikation, die das Subjekt zum zentralen Bezugspunkt und Adressaten hat, die Subjektivierung erzeugt. „Wie alles Soziale ist auch diese auf das Subjekt bezogene Kommunikation für das Subjekt transzendent… bei dieser subjektivierten Kommunikation (wird) das Kollektiv gleichsam invisibilisiert. Es ist nur noch Transzendenz – eben >Spiritualität<. “ (S. 262)

Etwas erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass der der Begriff der politischen Spiritualität, der bei Foucault recht häufig vorzufinden ist, nicht angesprochen wird. Foucault meint damit den absolut überzeugten Einsatz für z.B. Gerechtigkeit und Menschenwürde, und bezeichnet diese auch als politische Spiritualität.8

Insgesamt: Das hiermit vorgelegte Buch ist kein Lehrbuch, und das ist auch gut so. Wie vielfach andernorts auch verweisen die Artikel dieses Bandes darauf, dass es eine ganze Reihe noch nicht beantworteter Frage zum Thema Diskursanalyse und Diskurstheorie gibt. Das macht den eigentlichen Wert dieses Buches aus. Allerdings scheinen mir auch manche Fragen längst und viele anders beantwortet. Es zeigt sich, dass das begriffliche Netz der soziologischen und kulturwissenschaftlichen Diskursanalyse noch recht locker geknüpft ist, und damit auch, dass dieses Netz in seiner jetzigen Form deutlich der weiteren Diskussion auszusetzen ist. Immerhin haben die Beiträge eine Fülle von Denkanstößen gegeben: z.B. zu den folgenden Fragen9:

Literatur

Bührmann, Andrea D. 2007: Subjektivierungsweise, in: Fuchs-Heinritz et al. (Hg.), 642.

Bührmann, Andra D. / Schneider, Werner 2008: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bilefeld, transcript.

Fuchs-Heinritz, Werner et al. (Hg.) 2007: Lexikon zur Soziologie, 4., grundl. überarb. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag.

Jäger, Margret 1996: Fatale Effekte. Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs, Duisburg, DISS.

Jäger, Margarete / Jäger, Siegfried 2007: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden, VS Verlag.

Jäger, Siegfried 1992: BrandSätze. Rassismus im Alltag, Duisburg, DISS (digit: www.diss-duisburg.de).

Jäger, Siegfried 2012: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 6. vollständig überarbeitete Auflage, Münster: Edition DISS Band 3 im Unrast-Verlag,.

Jäger, Siegfried (Hg.) 2008: Wie Kritisch ist die Kritische Diskursanalyse? Ansätze zu einer Wende kritischer Wissenschaft, Münster: Edition Diss Band 20 im Unrast-Verlag.

Jäger, Siegfried / Zimmermann, Jens, in Zusammenarbeit mit der Diskurswerkstatt im DISS (Hg.) 2010: Lexikon Kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste, Münster: Edition DISS Band 26 im Unrast-Verlag.

Kammler, Clemens / Parr, Rolf / Schneider, Ulrich Johannes (Hg.) 2008: Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler.

Schöttler, Peter 1997: Wer hat Angst vor dem >linguistic turn<? In: Geschichte und Gesellschaft 23, 134-151.

1 Vgl. dazu etwas genauer M. Jäger/S. Jäger 2007, 21-24 und S. Jäger /Zimmermann 2010, 50f. und 116.

2 S. dazu Jäger 1992, M. Jäger 1996 sowie weitere Interviewstaffeln.

3 In der Reihe Interdisziplinäre Diskursforschung ist soeben der Band „Diskurs-Sprache-Wissen“ erschienen, hg. von Willy Viehöver, Reiner Keller und Werner Schneider, Wiesbaden, VS Verlag.

4 Schöttler 1997, 147, zit. Nach Kammler / Parr / Schneider 2008, 320.

5 Vgl. dazu S. Jäger 2012, S. 38-49.

6 Das ist der Titel eines Agentenfilms von Otto Preminger aus dem Jahr 1979.

7 Vgl. Bührmann/Schneider 2008.

8 Vgl. dazu den Eintrag in Jäger/Zimmermann (Hg.) 2010, 113.

9 Weitere Anregungen dazu enthält S. Jäger (Hg.) 2008.