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Diskurse in Bewegung(en)

Jens Zimmermann über ein Discussion Paper von Britta Baumgarten und Peter Ullrich. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012) 57-58

Vor allem an Michel Foucault orientierte diskurstheoretische Ansätze finden in den letzten Jahren langsam ihren Weg in die Protest- und Bewegungsforschung (vgl. u.a. Haunss 2004, Ullrich 2008). Fast alle soziologischen Theorien der letzten sechzig Jahre haben sich zu Protest und Revolution als sozialen Phänomenen geäußert oder wurden theoretisch integriert in spezifische Fragestellungen und Arbeitsfelder der Bewegungsforschung. Umso erstaunlicher ist es daher, dass der Bezug auf das Foucaultsche Werk bei der Analyse sozialer Bewegungen und Proteste im Vergleich zu anderen Bereichen der Soziologie (u.a. Migrationsforschung etc.) eher lose stattfindet.

Mit ihrem paper stellen Britta Baumgarten und Peter Ullrich nun Foucaults Diskurstheorie und gouvernementalitätstheoretische Überlegungen hinsichtlich der Bewegungsforschung auf den Prüfstand. Als äußerst ambitioniert erweist sich dabei die Überlegung, dass mit einer an Foucault angelegten Perspektive die analytische Unterscheidung zwischen sozialer Makro-, Meso- und Mikro-Ebene angesprochen werden kann (2). Soziale Bewegungen greifen aus dieser Perspektive nicht nur in gesellschaftliche Diskurse ein und versuchen sie zu verändern, sondern sind durch diese auch in ihren Deutungsmustern und Wissensstrukturen präformiert – „they are the product of discourse, too.“ (2) Soziale Bewegungen sind demnach als Akteure auf der Makro-Eben selbst Teil der diskursiven Kämpfe und produzieren in diesen Diskursen eigene Wissensstrukturen, die sie als je spezifische diskursive Gemeinschaft (Schwab-Trapp) konstituieren. Analytisch wird dieser Prozess mit dem Begriff der discursive opportunity structure (4) reflektiert. Angelehnt an political opportunity structures (vgl. Meyer / Minkoff 2004), welche die institutionellen Gegebenheiten und die einer Protestbewegung zur Verfügung stehenden Ressourcen beschreiben, fasst das Konzept der discursive opportunity structures das Ensemble der Formationsregeln des Diskurses (Foucault 1974, 61-103) und erweitert diese um Überlegungen der politischen Kulturforschung ((Diskursive Gelegenheitsstrukturen seien also die kulturellen (ideationalen, diskursiven, normativen) Kontextbedingungen für einen themenspezifischen Diskurs. Sie bestehen aus dem Gesamt der in einer Kultur vorhandenen auf das Thema beziehbaren Denk-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsmuster, kollektiv geteilten Annahmen, Weltbilder, Ideologien, Werte, Überzeugungen, deren innere Regelstruktur und den diese konstituierenden diskursiven Praxen (das System des Sagbaren und Unsagbaren und der wichtigen Erzählungen) und die diese fundierenden kulturellen Konflikte.“ (Ullrich 2008, 37) )). Durch die diskurstheoretische Fundierung der Gelegenheitsstrukturen lassen sich Sagbarkeitsfelder, legitime und illegitime Sprecher_innenpositionen sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in sozialen Bewegungen (7) sowie hegemoniale Deutungsmuster als Bedingungen für das Aufkommen bzw. Ausbleiben und die Transformationen von sozialen Bewegungen verstehen. Mit Hilfe der discursive opportunity structure werden Prozesse beschreibbar, welche die Resonanz zwischen gesamtgesellschaftlichen Diskurs und erfolgreichem oder erfolglosem agenda-setting von sozialen Bewegungen aufnehmen (7).

Mit Baumgarten/ Ullrich lässt sich nicht nur die Relation von gesamtgesellschaftlichem Diskurs und diskursiver Ausrichtung sozialer Bewegungen als vermachteter Raum denken, der sowohl produktiv als auch formierend ist. Vielmehr werden soziale Bewegungen selbst als diskursive Arenen analysierbar, in denen um Deutungen und legitime Sprecherpositionen gerungen wird. Aus dieser Perspektive lassen sich Forderungen sozialer Bewegungen selbst als dynamische Prozesse verstehen, die umstritten sein können und deren Hegemonie immer wieder hergestellt werden muss. Bewegungsinterne Konflikte und Spaltungen sind dann nicht allein als emotionale, rationale oder strategische Auseinandersetzungen zu verstehen. Vielmehr lassen sich interne Deutungskämpfe als diskursiv vermittelte Praxis darstellen. Zwar spielen emotionale, rationale oder strategische Motive zweifelsfrei eine Rolle in politischen Auseinandersetzungen, sie stoßen aber in der Möglichkeit ihrer Artikulation an diskursive Grenzen – an die Grenzen des Sagbaren.

Auch auf der Mikro-Ebene lässt sich das Foucaultsche Theorieinventar für die Erforschung sozialer Bewegungen gewinnbringend in Stellung bringen. Zwar werden diskursiv vermittelte Subjektivierungspraxen und -formen nicht explizit von Baumgarten / Ulrich angesprochen, doch lässt sich im Anschluss an die bisherige Theorieentfaltung in Bezug auf Foucault konstatieren, dass innerhalb von sozialen Bewegungen Subjektapplikationen produziert werden, die von den einzelnen Individuen angenommen werden können. Exemplarisch kann hier die Entwicklung einer feministisch-antifaschistischen Sprecherinposition („Fantifa“) und Subjektapplikation angeführt werden, die sich Ende der 1980er Jahre bzw. zu Beginn der 1990er in Antifa-Diskursen etablierte und als Effekt einer Verschränkung von antifaschistischen und feministischen Diskurssträngen begriffen werden kann (Herausgeber_innenkollektiv 2012). Mit der Foucaultschen Begrifflichkeit lässt sich in Anschluss an Baumgarten / Ullrich zeigen, dass gesamtgesellschaftliche Diskurse (Makro) sowohl auf Meso- als auch Mikro-Ebenen wirken. In Bezug auf das Fantifa-Beispiel wird Sexismus nicht nur im hegemonialen Diskurs kritisiert, sondern auch in der Antifa-Bewegung selbst, was einerseits zu Konflikten führte, aber auch zu neuen Subjekt- und Sprecher_innenpositionen.

Zu den diskurstheoretisch fundierten Überlegungen greifen Baumgarten/ Ullrich auch auf den zweiten großen Forschungsstrang des Foucaultschen Werkes zurück: die Gouvernementalität (9). Gerade die These der Selbstregierung im Kontext moderner bzw. neoliberaler Gouvernementalität wird als eine mögliche Erklärung des Auftretens oder Ausbleibens von Protest in gegenwärtigen Gesellschaftsformationen bemüht (13). Im Anschluss an neuere Analysen der Selbstregierung (u.a. von Stephan Lessenich und Ulrich Bröckling) formulieren Baumgarten / Ullrich drei Perspektiven, die aus einer gouvernementalitätstheoretischen Betrachtung sozialer Bewegungen und Proteste formuliert werden können. Neoliberale Gouvernementalität und die damit einhergehenden Techniken der Selbstregierung führen zu einer Verlagerung der Kritik, welche nicht mehr an Institutionen oder Akteure in Politik und Gesellschaft gerichtet wird, sondern vielmehr gegen das „Selbst“ (13). Gründe für das Ausbleiben des „Glücksversprechens“ werden nicht mehr in gesellschaftlichen Herrschaftszuständen gesucht, sondern im „Selbst“ – „was habe ich falsch gemacht“ (ebd.). Als zweiten Punkt führen sie an, dass aufgrund der aktivierten, beschleunigten Subjektform, die die Individuen bis in ihren Alltag hinein prägt, Protestaktivitäten nun eher auf der Ebene alltäglicher Kämpfe stattfinden, die sich mit den Begriffen von sozialer Bewegung oder kollektiven Protestbewegungen nur schwer fassen lassen. Vielmehr sind es die „kleinen Verweigerungen“ (14), die sich im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität entfalten. Als letzte und durchaus provokanteste These führen Baumgarten / Ullrich an, dass soziale und Protestbewegungen mit ihren Forderungen und Erfolgen selbst Teil neoliberaler Gouvernementalität werden können (14f.), wenn zum Beispiel die Kritik an entfremdeten Arbeitsregimen (Fabrik etc.) durch die neoliberale Gouvernementalität aufgenommen und als Legitimation für die Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse genutzt wird.

Die Überlegungen von Baumgarten/ Ullrich machen überzeugend klar, dass sowohl eine an Foucault angelehnte Diskurstheorie als auch gouvernementalitätstheoretische Befunde einen gewichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest leisten können. Vor allem eine vergleichende Protest- und Bewegungsforschung kann von diskurstheoretischen Überlegungen profitieren (s. Ullrich 2008). Darüber hinaus lässt sich durch den Rückgriff auf diskurstheoretische Überlegungen auch eine erweiterte Perspektive auf das Verhältnis von Protestbewegungen und den „counterparts“ aufmachen. Auf diskursiver Ebene lassen sie sich als Akteure in einem sozio-kulturell präformierten Diskursraum denken, der Möglichkeiten der Artikulation produziert und so auch Akteure auf diskursiver Ebene. In diesem Diskursraum finden die Kämpfe um Hegemonie und Transformation von diskursiven Formationen statt. Diese multi-relationale Perspektive und die darin implizierte Machtanalytik lässt eine erweiterte Betrachtungsweise zu, welche soziale Bewegungen und Protest auch in ihrer kulturell-diskursiven Logik verstehbar macht.

Literatur

Foucault, Michel 1974: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Haunss, Sebastian 2004: Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Herausgeber_innenkollektiv 2012: Fantifa. Feministische Perspektiven antifaschistischer Politiken, Münster: edition assemblage (i. E.).

Meyer, David / Minkoff, Debra 2004: Conceptualizing Political Opportunity, in: Social Forces, Jg. 82, Nr. 4, 1457-1492.

Ullrich, Peter 2008: Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland, Berlin: dietz.

Britta Baumgarten / Peter Ullrich
Discourse, Power and Governmentality
Social Movement Research with and beyond Foucault
Discussion Paper SP-IV 2012-401
Social Science Research Center Berlin 2012
Online unter: http://www.wzb.eu/sites/default/files/u13/fsiv2012-401_zeng_ullrich-baumgarten.pdf