Demokratie als Baustelle

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Jungkonservative und neoliberale Visionen von einem plebiszitären Präsidialsystem. Von Helmut Kellershohn. Erschienen in DISS-Journal 23 (2012), 26-28

In der FAZ vom 10.04.2012 erschien ein Beitrag des Verfassungs- und Steuerrechtlers Paul Kirchhof zur Wachstumsdebatte, in dem er für eine „entschiedene Familienpolitik“ plädierte, um „nachhaltiges Wachstum“ zu fördern. „Deutschland wächst mit seinen Kindern“, so der Titel seines Beitrages, der deutlich macht, was dem guten „Professor aus Heidelberg“ (Ex-Kanzler Schröder) am Herzen liegt. Man könnte den Artikel schnell beiseite legen, weil er bekannte Forderungen in handlicher Form zusammenfasst, wie z.B. das Familiensplitting im Steuerrrecht, die Bevorzugung weiblicher Erziehungsarbeit im Rentenrecht und ähnliches mehr, das dazu beitragen soll, dass mehr Kinder in Deutschland geboren werden.

Stutzig wird man jedoch, wenn sich Kirchhof, von 1987-1999 immerhin Bundesverfassungsrichter und 2005 als Finanzminister im Gespräch, dem Wahlrecht zuwendet. Erstaunt fragt sich der/die LeserIn, was denn das Wahlrecht mit dem „Kinderwachstum“ zu tun haben könnte. Kirchhof klärt auf:

„Das Wahlrecht […] steht allen Bürgern zu. Kinder sind Bürger. Deswegen ist es nicht ausgeschlossen, ihnen die Möglichkeit zu bieten, ihr Bürgerrecht so weit als möglich, das heißt bis zur Volljährigkeit, in Vertretung durch die Eltern auszuüben.“

Kirchhof schlägt vor, jedem Elternteil pro Kind eine halbe und einer alleinerziehenden Person eine volle Stimme zusätzlich zu der eigenen zukommen zu lassen.

Man könnte geneigt sein, diese Idee als abwegige Erfindung eines verrückten Professors abzutun, vergleichbar dem berühmten Bierdeckel des Herrn Merz. Dem ist aber nicht so, denn auch in diesem Bereich gibt es Plagiate. Damit sind wir beim Thema, das uns zunächst in die Endphase der Weimarer Republik führt. Auch damals gab es Think-Tanks und Sarrazinisten, die wie heute sich um die Zukunft Deutschlands Sorgen machten; allerdings war ihr Ton weitaus aggressiver und deutlicher hörbar – und sie ließen keinen Zweifel daran, was sie als das Grundübel aller Probleme ansahen: die Republik und die Demokratie.

Das jungkonservative Original

Zu den Totengräbern der Weimarer Republik gehörten zweifellos die konservativen Eliten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Einer der wichtigsten Braintrusts war damals der Deutsche Herrenklub, dem Geist des Weimarer Jungkonservatismus verpflichtet und die Hintergrundorganisation, die der Regierung Papen die entscheidenden Stichworte für die Idee des „Neuen Staates“ lieferte. Kern des Neuen Staates (vgl. Schotte 1932) sollte eine Reichs- und Verfassungsreform sein, die an die Stelle der Republik einen autoritären Staat setzen sollte (zum Ganzen vgl. Hörster-Philipps 1982, Ishida 1988). Zu den Vorschlägen, die diesen „Staatsumbau“ in die Wege leiten sollten, zählten die Stärkung der Autorität des Reichspräsidenten, die Errichtung eines Oberhauses („Erste Kammer“) und die Beschneidung der Kompetenzen des Reichstages, der Schutz der Wirtschaft vor staatlichen Eingriffen, z.B. dem staatlichen Schlichtungswesen, und nicht zuletzt – und damit kommen wir wieder zu Kirchhof – eine Veränderung des Wahlrechts.

Die damaligen jungkonservativen Vordenker und ihre Repräsentanten in der Regierung Papen empfahlen drei Manipulationen des Wahlrechts: Erstens die Ersetzung des Verhältniswahlrechts durch ein Mehrheitswahlrecht, bei dem nicht Parteien zur Wahl stehen, sondern parteiunabhängige „Persönlichkeiten“ in sog. „Einmannwahlkreisen“, ergänzt möglicherweise auch durch die Einführung der indirekten Wahl; zweitens die Heraufsetzung des Wahlalters von 20 auf 25 Jahre. Während der erste Vorschlag sich vor allem gegen die Parteien richtete, so der zweite gegen die rebellische Jugend in den Massenbewegungen. Der dritte Vorschlag ist nun genau der, der von Kirchhof kopiert wird. Gefordert wird die Einführung eines „Pluralwahlrechts“, das vorgibt, das Gewicht der Stimmen nach „Leistung“ und „Verantwortungsfähigkeit“ zu differenzieren, wobei hier, wie bei Kirchhof, an die „Sammlung der Stimmen aller Unmündigen bei den Versorgungsberechtigten und -verpflichteten“ (Schotte 1932, 61) gedacht wird. Ein solches Pluralwahlrecht, das damals vornehmlich den Vätern zugute gekommen wäre, würde, so schrieb Walter Schotte vom Deutschen Herrenklub, „eine ungeheure Festigung der Familie als der Keimzelle des Volkes zur Folge“ haben; und im völkischen Ton fortfahrend heißt es:

„Erst ‚das Wahlrecht des Babys’ kann die parlamentarische Demokratie (sic!) sinnvoll machen und in Beziehung setzen zum Volke, das kein Durchschnitt durch die Generation der über Zwanzigjährigen ist, sondern ein werdendes Ewiges (!), das im Fortgang der Generationen erst sich vollendet“ (ebd.).

Das ist schon eine wahrhaft gedankliche Leistung, den „Staatsumbau“ und speziell die Wahlrechtsmanipulation als Reformen zur Sinngebung der parlamentarischen Demokratie anzubieten. Kirchhof enthält sich in seinem Artikel solcher Verrenkungen, der völkische Ton wird bei ihm durch den neoliberalen Standortnationalismus ersetzt. Gleichwohl hat diese Verrenkung, die sich einer demokratischen Rhetorik bedient, Methode.

Die Regierung Papen jedenfalls scheiterte an dem Projekt des Neuen Staates, sie scheiterte an ihrem Versuch, den konservativen Eliten die Staatsmacht in die Hände zu geben und sie von den Zwängen und Legitimationsmustern der parlamentarischen Demokratie zu befreien. Wie man weiß, entschied sich der Herrenklub für ein Bündnis mit den Nationalsozialisten und ebnete damit den Weg zum „völkischen Staat“, der für solche Art ‚Reformen’ nur ein mitleidiges Lächeln haben sollte.

„Demokratie als Mogelpackung“

Kirchhof ist natürlich nicht der einzige, der heute auf jungkonservative Ideen der zwanziger Jahre rekurriert. Thomas Wagner gibt in seinem unlängst erschienenen Buch Demokratie als Mogelpackung (2011) einen guten Überblick über die ideologische und politische Gemengelage, innerhalb derer sich heute die Debatten um einen „Staatsumbau“ bewegen. Das Spektrum reicht von Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern, Verbandsvertretern über neoliberale Think-Tanks wie dem Konvent für Deutschland oder dem Frankfurter Zukunftsrat bis hin zum jungkonservativen Kampfblatt, der Jungen Freiheit. Selbst die NPD versucht hier anzudocken. Konzeptive Ideologen wie Hans-Olaf Henkel (Ex-Präsident des Bundes der Deutschen Industrie und Vorstandsvorsitzender des Konvents für Deutschland) oder der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim tauchen in all diesen Zusammenhängen auf und beklagen den Zustand der Republik. Im Mittelpunkt steht immer der „exzessive“ Parteienstaat, das „faktische Monopol der Parteien in der politischen Willensbildung“ (Konvent für Deutschland, Presseerklärung vom 23.07.2004), wodurch Reformbemühungen zum Scheitern verurteilt seien. Was mit Reformen gemeint ist, formuliert beispielsweise die Zivile Koalition (im Vorstand: Sven von Storch und Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg) wie folgt:

„Unser derzeitiges Steuersystem lähmt und knebelt unsere Wirtschaft. Wir brauchen ein Steuersystem, das ausreichend Anreize für die Wirtschaft bietet, in Deutschland zu investieren.“

„Wir fordern ein Verfassungsgebot, das die Aufnahme zusätzlicher Schulden verbietet. In allen Bereichen, die keine Investition in die Zukunft darstellen, müssen Einsparungen vorgenommen werden.“

„Die Bürokratie hemmt die freie Entfaltung der Bürger und Unternehmen, entreißt ihnen ihre Eigenverantwortlichkeit und lähmt ihre Leistungsbereitschaft. Deshalb [müssen] Gesetze, die in die wirtschaftliche und persönliche Freiheit eingreifen, regelmäßig überprüft werden und der Staat auf seine Kernkompetenzen zurückgeführt werden.“

„Die Ehe zwischen Mann und Frau muß als Institution für den Staat Vorrang haben vor anderen Lebensgemeinschaften. Die Lebensform Ehe bedarf des staatlichen Schutzes und dieser Schutz muß aus praktischen Gründen ein Staatsziel bleiben. […] Eine Steigerung der Geburtenrate sollte im ideellen wie finanziellen Sinne Unterstützung erfahren.“

„Bildung ist eines der zentralen Themen der Zukunft. Heute unterlassene Bildungsreformen wirken sich doppelt aus: In Form von entgangenem Wohlstand und in hohen Sozialleistungen für die Chancenlosen. Deutschland muß sich dringend von der Ideologie der Gleichmacherei um jeden Preis verabschieden.“

Um diese Mischung aus neoliberalen und konservativen Forderungen (Steuersenkungen, Schuldenbremse, schlanker Staat, Familien- und Geburtenförderung, stärker hierarchisiertes Bildungssystem) durchzusetzen, empfiehlt die Zivile Koalition eine Veränderung des Wahlsystems. Wie in den Zwanziger Jahren wird hier das (gemischte) Verhältniswahlrecht auf den Prüfstand gestellt, das die „Entwicklung hin zum Parteienstaat“ begünstigt habe. Der Vorschlag zielt auf die Etablierung einer Persönlichkeitswahl, entweder durch die Einführung flexibler, offener Listen, deren Zusammensetzung vom Wähler mitbestimmt werden kann, oder durch die Ersetzung des Verhältniswahlrechts durch ein direktes Mehrheitswahlrecht. Andere sind schon ein Schritt weiter und möchten ein Pluralwahlrecht zu Gunsten der sog. Leistungsträger einführen, so etwa 2008 der damalige RCDS-Vorsitzende Gottfried Ludewig (Wagner 2011, 23ff.).

Andere Vorschläge richten sich auf die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene (Konvent für Deutschland), die Direktwahl der Ministerpräsidenten, die Beschneidung der Kompetenzen des Bundesrates usw. Weiterreichende Vorstellungen orientieren sich an der Rolle des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik und propagieren ein plebiszitäres Präsidialsystem, in dem dem Präsidenten aufgrund der Direktwahl eine höhere Autorität zukommt als etwa dem Kanzler, der eben ‚nur’ vom Parlament gewählt wird. Zudem müsse natürlich, wie Hans Herbert von Armin betont, der Kompetenzbereich des Bundespräsidenten ausgeweitet werden, indem ihm z. B. die „Rekrutierung der Richter, der Beamten etc.“ (Arnim 2008, zit. nach Wagner 2011, 44) überantwortet werde.

In der Jungen Freiheit hört man solche Vorstellungen gerne. JF-Vielschreiber Thorsten Hinz beispielsweise brandmarkt in seinem Büchlein Zurüstung zum Bürgerkrieg das „staatsideologische Defizit“ (Hinz 2008, 29) des westdeutschen Nachkriegsstaates. Dem habe es – Hinz greift hier auf den Carl Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff zurück– an überzeugender und effektiver Staatlichkeit gemangelt, anders ausgedrückt: an staatlicher Autorität und Integrationskraft. Vielmehr „wurden Zusammenhalt und Stabilität durch die Sozialsysteme und durch die soziale Ausgeglichenheit, die sie möglich machten, garantiert“ (29f.). Mit der Folge, dass der „Staat […] zum Adressaten von individuellen Ansprüchen und zur Wohlfahrtsagentur“ (30) degeneriert sei. „Forsthoff hielt es“, so Hinz, „für ein ‚ehernes Gesetz’, daß die Staatlichkeit in dem Maße abgebaut wird, in dem sie sich in Sozialstaatlichkeit verwandelt“ (30). Hinz trifft damit den Kern all der sog. ‚Reform’-Projekte, die sich mit demokratischer Rhetorik und heuchlerischer Kritik an der politischen Klasse, der man selbst angehört oder angehören möchte, präsentieren und die im Wesentlichen die Wirtschaft und die Leistungseliten vor sozialstaatlichen Zumutungen bewahren wollen. Dazu bedarf es in der Tat eines – um mit Carl Schmitt zu sprechen – „qualitativ totalen Staates“, der vorgeblich kein Beuteobjekt gesellschaftlicher Interessen und in der Lage ist, von sich aus festzulegen und zu bestimmen, in welche gesellschaftlichen Bereiche er nicht intervenieren bzw. welche er der ‚Eigenverantwortung’ überlassen will.

Postdemokratie und softbonapartistischer Staatsumbau

Die jungkonservative Idee eines plebiszitären Präsidialsystems unter weitgehender Ausschaltung der Parteien ist eine Zielperspektive, die über das hinausgeht, was Colin Crouch als Postdemokratie bezeichnet. Es handelt sich Crouch zufolge um einen eigenartigen Zustand, in dem sich die westlichen Demokratien heute befinden. Die zentralen Institutionen der Demokratie sind weitgehend intakt. Formal gesehen funktionieren sie wie eh und je, es gibt eine Parteienkonkurrenz, Wahlen werden abgehalten, Regierungen werden abgelöst und auch die Gewaltenteiltung scheint weiterhin vorhanden zu sein. Tatsächlich aber sind die demokratischen Institutionen „entkernt“ (Marie-Christine Kajewski). Am Beispiel der Wahlkämpfe schreibt Crouch, dass

„konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte […] so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ (Crouch 2008, 11)

Das geht über klassischen Lobbyismus hinaus, wie Crouch an anderer Stelle betont. Die Vertreter der großen global operierenden Unternehmen säßen „längst nicht mehr in der Lobby, also vor den Kabinettsälen der Regierungen. Sie sind direkt an politischen Entscheidungen beteiligt“ (Crouch 2011, 186) und instrumentalisieren die Staatsapparate für ihre Zwecke. Dadurch aber entstehen Legitimitätslücken, da nicht mehr ersichtlich ist, welcher Zusammenhang zwischen bürgerschaftlichem Engagement und politischer Entscheidungsfindung besteht. Zumal in den letzten Jahren immer deutlicher ins öffentliche Bewusstsein tritt, welche Zumutungen die ominösen Finanzmärkte der Politik servieren, die diese allerdings, das darf nicht vergessen werden, mitzuverantworten hat; und es wird immer deutlicher, wie die faktische Entscheidungsgewalt immer weiter auf internationale Gremien verlagert wird, die im landläufigen Sinne nicht demokratisch legitimiert sind, sondern quasi als eine Art Notstandsregime die Geschicke Europas bestimmen.

In gewisser Weise profitieren die oben skizzierten ‚Reform’-Projekte genau von diesen Legitimitätslücken, die neoliberale Politik produziert hat. Ihr Plädoyer für mehr direkte Demokratie ist der Versuch, Zustimmung bei all denen zu organisieren, die sich von der bestehenden Parteienlandschaft verabschiedet haben. Es ist die Zustimmung für ein autoritär-staatliches Projekt. Thomas Wagner betont, dass sich hier „Vertreter wirtschaftsliberaler Elitekonzepte aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft und die heutigen [jungkonservativen – H.K.] Erben der sogenannten Konservativen Revolution“ treffen.

„Gewollt ist ein Durchregieren von starker Hand. […] Sie verfolgen eine plebiszitäre Strategie der Systenveränderung, die der italienische Philosoph Domenico Losurdo als softbonapartistische Propaganda kenntlich gemacht hat. Ihr politisches Ziel ist die Auflösung der Gesellschaft in vereinzelte Individuen, die in einem direktem Verhältnis zu ihren Führern stehen. Die unteren Klassen sollen über keine schlagkräftigen Parteien, Gewerkschaften oder andere kollektive Möglichkeiten mehr verfügen, mit denen sie den organisierten Interessen des Kapitals wirklich entgegen treten könnten.“ (Wagner 2011, 125f.)

Literatur

Crouch, Colin 2008: Postdemokratie, Frankfurt/M.

Crouch, Colin 2011: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin

Hinz, Thorsten 2008: Zurüstung zum Bürgerkrieg, Schnellroda

Hörster-Philipps, Ulrike 1982: Konservative Politik in der Endphase der Weimarer Republik. Die Regierung Franz von Papen, Köln

Ishida, Yuji 1988: Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933, Frankfurt/M.

Schotte, Walther 1932: Der neue Staat, Berlin

Wagner, Thomas 2011: Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln.