„Unser Schutzschild ist das Buch!“

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Stimmen aus dem Studierendenkollektiv, Fakultät Politikwissenschaften, Universität Sapienza, Rom, Ende Oktober 2011. Das Gespräch führte Jörg Senf. Erschienen in DISS-Journal 22 (2011).

Die ursprüngliche Idee, einen Einzelnen als Sprecher der Studierendenbewegung zu interviewen, der bereits Ende 2010 während einer beliebten Talkshow massiv vom italienischen Verteidigungsminister angegriffen worden war, fand wenig Anklang. Dagegen brachte eine Gruppe engagierter Studierender sich gerne mit Stimmen ein, die hier in Interviewform zusammengefasst sind.

 

Vergangenes Jahr gab es in Rom zwei große studentische Demonstrationen, am 24.11. und am 22.12.2010. Worum ging es?

Vor einem Jahr ging es um die Bildungsreform der Berlusconi-Regierung, heute haben wir eine viel breitere Bewegung. Es ist der Ausdruck eines globalen Unbehagens. Am 15. Oktober 2011 sind Leute verschiedenster Herkunft in der ganzen Welt auf die Straße gegangen. Aber es stimmt schon: Letztes Jahr hat alles angefangen. Und seither hat es Proteste auf allen Ebenen gegeben. Nach der Studentenbewegung kam die für freies Trinkwasser, dann die großen Initiativen gegen die Hochgeschwindigkeitstrasse im Susa-Tal, die ja heute noch weiter gehen. Das soweit nur auf Landesebene. Heute haben wir aber auch tausende Bewegungen weltweit. Denken wir an Chile, die Proteste gegen die Regierung, an die verschiedenen Bewegungen gegen die Schul- und Universitäts-Reformen, an die Indignados in Spanien, an die großen Demos und Streiks in Athen, oder an die Bewegung in den USA, die wir ja auch versucht haben, nach Italien zu bringen mit der Besetzung der Italienischen Nationalbank.

Und der arabische Frühling? Seht ihr da Berührungspunkte?

Eine schwierige Frage, die Lage ist etwas konfus. Wenn wir an Lybien denken, da kommt ja jetzt nach Gaddafi sofort wieder das islamische Gesetz, die Scharia, auf. Aber es ist klar, dass der arabische Frühling Teil dieser Bewegung von Menschen ist, die etwas ändern wollen, die es nicht mehr hinnehmen, dass ein kleiner Prozentsatz der Weltbevölkerung den Großteil der Weltwirtschaft bestimmt.

In der Web-Zeitschrift ‚sconfinare’ (5.2.2011) kommentiert Barbara Peressoni die zwei Demos vom letzten Jahr und unterscheidet dabei zwischen „zwei Protest-Erfahrungen“: zwischen einer gewalttätigen und einer, die „mit Dialog bewaffnet ist“. Vielleicht hat sich das ja auch dieses Jahr bestätigt mit dem gewalttätigen Protest vom 15. Oktober und der Anti-TAV-Demo im Susa-Tal, die ja von allen Medien als „pazifistisch“ bezeichnet wurde.

Klar, diese Unterscheidung zwischen gewalttätig und friedlich gefällt den Medien. Aber innerhalb der Demonstrationen greift eine solche grobe Unterscheidung kaum. Es passiert durchaus, dass dieselben Leute auf der einen Seite radikal gegen Polizei-Absperrungen kämpfen, sich dann aber auch konstruktiv  engagieren. Autos oder Gebäude in Brand stecken? Nee, das ist nicht unser Ding. Die besetzen wir lieber. Die meisten von uns sind doch Leute, die mehr durch Dialog als durch Gewalt kämpfen. Der 22.12.2010 war da ein gutes Beispiel, da haben wir gezeigt, was die Bewegung ist: alle zusammen auf der Straße, alle zusammen gegen willkürliche Polizeieinsätze, und alles spontan und friedlich – was man nicht immer von der Demo am 15.10.2011 auf dem San-Giovanni-Platz sagen konnte.

Ein anderer Kommentar in ‚sconfinare’ (17.10.2011, von Gabriele Pieroni) kommt zu dem Schluss, die “postmoderne Straße” sei kein geigneter Platz mehr für wirksamen Protest. Was ist eurer Meinung nach wirksamer Protest, wo findet er statt?

Das ist keine Frage wirksamer Aktionen. Eigentlich ist es die Art, Politik zu machen. Da kann eine Vollversammlung der Fakultät genau so wichtig sein wie ein flash mob, eine Blitzaktion genauso wichtig wie ein friedlicher Protestmarsch, eine landesweite Demo, ein Protest im Susa-Tal. Und nicht weniger wichtig ist das, was wir hier bei Politikwissenschaften machen, unsere eigene, selbstbestimmte (Weiter)Bildung – eine Sache, an die wir glauben. Das ist eine wirksame Aktion, die wir täglich durch unser Studium als politisch bewusste junge Menschen vorantreiben. Es ist nicht unbedingt die Strasse, auf der wir dann ankommen.

Würdet ihr euch zu den Indignati, den Empörten, zählen?

Ja, aus dem Bauch heraus ist das natürlich ein Gefühl, das wir gemeinsam haben. Aber auch diese Definition ist eher denen nützlich, die über uns reden. Wenn uns diese Frage gestellt wird, antworten wir gern: Es ist eher Wut als Empörung! Besonders Italien ist ja momentan in der schlimmen Lage, dass die Europäische Zentralbank es sich heraus nimmt, die Reformen zu bestimmen, die das Land durchzuführen habe. Dabei hat niemand von uns je die EZB als die Regierung des Landes gewählt. Wir sind tödlich in die Zange genommen: auf der eine Seite die Regierung im Dienst der EZB und neofaschistischer Parteien wie der Lega Nord, auf der anderen die EZB selbst, die über ganz Europa bestimmt.

Gehen wir mal noch weiter zurück, zur Studentenbewegung der 1970er Jahre. Lassen sich da Vergleiche ziehen?

Nein, wir sind anders. Anders als die Bewegungen der 70er, der 60er und auch der Ende-90er-Jahre. Wir sind im dritten Jahrtausend. Wenn wir einen Vergleich ziehen sollten, dann noch am ehesten die No-global-Bewegung von Genua 2001. Eine enorne Bewegung, die wirklich das System in Frage gestellt hat. Wir gehören einer globalen Bewegung an, in der ein großer Teil der Weltbevölkerung für seine Rechte kämpft. Klar, diese Kämpfe müssen jetzt noch besser synchronisiert gebracht werden. Aber die weltweiten Straßenproteste am 15. Oktober gegen die globale Wirtschaft und die EZB waren schon ein großer und grundlegender Schritt.

Auf euren Spruchbändern sehe ich Wörter wie „Kollektiv“, „Vollversammlung“, „Spaß“. Einige Kernbegriffe sind demnach doch gleich geblieben?

Na ja, „Vollversammlung“ ist fundamental. Sicher bleiben bestimmte Begriffe dieselben, sind universale Grundbegriffe, das ist klar. Aber unser Kampf ist anders. Da gibt es schon Diskontinuität. In den 70ern war die Politik stärker präsent, weniger moralisch verfallen – da war der politische Boden für Protest fruchtbarer. Heute protestieren wir, weil wir eine Leere empfinden. Und dabei verfällt z.B. auch der Begriff des bewaffneten Kampfes. Unser Schutzschild heute ist das Buch! Ja, unser „Book Bloc“ ist eine Symbolik, die auch in den USA aufgegriffen wurde, und in Holland, in London, in Griechenland! Und das freut uns natürlich, dass das hier bei uns, bei den Politikwissenschaften, erfunden wurde.

Wie steht es mit euren Slogans? Wo kommen die her? Wer entscheidet, welche genommen werden?

Die Sprechchöre entstehen meistens aus Spaß. Und sie sind ein wichtiges Kommunikationsmittel, wenn wir auf die Straße gehen. Nee, die werden nicht in einer Versammlung beschlossen. Wem eine Idee kommt, der singt los, und wenn das dann gut ankommt, geht es während der Demo von alleine weiter. Das läuft alles sehr spontan.

Slogans, die euch besonders gefallen?

„WIR bezahlen die Krise nicht“ („Noi la crisi non la paghiamo“). Von diesem Slogan ist ja alles ausgegangen. Noch andere? Hm, in solchen Sachen sind wir manchmal schüchtern, die kommen auch auf der Strasse besser.

Würdet Ihr heute wieder in eine Talk-Show gehen?

Sicher, eine Konfrontation auch auf dieser Ebene ist immer interessant. Im Grunde werden wir ja über die Medien nur wenig, oder besser gesagt schlecht sichtbar.