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Vexierbild

Anmerkungen zu Jürgen Links Roman „Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung“ Von Marianne Schuller. Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)

In einem wahrscheinlich 1928 geschriebenen Essay hat Ernst Bloch die alltägliche, gleichwohl rätselhafte Figur des ‚Déjà-vu’ in den Horizont seines Denkens der Utopie gerückt ((Ernst Bloch, .Bilder des déjà-vu.., in: Gesamtausgabe in 16 Bdn. Bd. 9, 232-242.)). Im Déjà-vu sieht Bloch nicht die Wiederkehr von etwas Gewesenem, sondern ganz im Gegenteil: die ‚Begegnung’ mit etwas Nicht-Gewordenem: als Figurierung ungewordener Erlebnisse. Es sind „solche zwischen Lippe und Kelchesrand“. Nach diesem ebenso fragilen wie haarscharfen Bild eines Zwischen – zwischen Lippe und Kelchesrand, zwischen eben noch und noch nicht – erscheint das Déjà-vu als Gegenwärtigkeit eines Ungewordenen, als Erfahrung eines nie Erfahrenen ((Während das „uneigentliche des Déjà-vu allemal selber halb ist, indem es lediglich auf frühere Halb[…]erlebnisse zurückführt, und das nicht bestürzend, sondern hell, verstehend, lösend.“ Ebenda, 232/33.)). Blochs utopisches Denken ist nicht auf die Ausrichtung auf ein fixiertes Ziel, sondern auf die Öffnung eines beweglichen Raumes des Zwischen – zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht – gerichtet.

Warum diese Erinnerung? Weil die Lektüre des großen Romans von Jürgen Link über revolutionäre Prozesse im Ruhr-Gebiet zurzeit und im Umfeld der Studentenbewegung sowie deren einstweilige Zerstreuung ((Jürgen Link, Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung, Oberhausen: Asso-Verlag 2008. (ISBN 978-3-938834-29-9, 924 S., 29,90 €) )) bei aller literarischen Avanciertheit und aller enormen Denkkraft ein Déjà-vu in Permanenz auslöst ((Ich spiele auf eine Beobachtung, die Adorno einmal bezogen auf Kafka geäußert hat Theodor W. Adorno, „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10/1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1977, 254-287.)): Immer wieder stellt sich die Reaktion eines ‚So ist es’ ein. Dabei handelt es sich nicht um eine beruhigte Feststellung, vielmehr erzwingt diese rätselhafte Reaktion unverzüglich Fragen: Kenne ich das? Woher kenne ich das? Wieso sage ich zu etwas, was ich nicht kenne .So ist es.? Wie also konstituiert sich diese Leseerfahrung des Déjà-vu, in der sich Wissen und Unwissen verschränken? Was für ein .Wissen. tut sich da auf und wie verhält es sich zum revolutionären Projekt dieses Romans? Schauplatz der verzweigten Geschichte ist das Ruhrgebiet im Zeichen des politischen Datums 1968. Es geht um die Zeit der Formierung linker, von Kollegen und Kolleginnen aus den Betrieben sowie von Studenten getragener Gruppierungen und Parteien wie es um deren Auflösung und Zerbröselung geht. Aber wie wird hier erzählt? Der Erzähler ist nicht der einsame, alles wissende Schöpfer, sondern eine sich pluralisierende, verschiedene Stimmen aufnehmende und empfangende Instanz. Dieses Erzähler-Subjekt behandelt die Sprache, in der es sich mitteilt, nicht als Besitz, vielmehr als das, was es mit anderen teilt. In dieser an Hölderlins Wechsel der Töne rührenden Vielstimmigkeit kommen Vorstellungen, Affekte, Reflexionen, Wünsche, Erfahrungen, die Not des Lebens zu Worte, die eine assoziale kollektive Textur bilden, in der gleichwohl das subjektiv Eigene spürbar nachklingt und vibriert. Die eingeflochtenen Stimmen und Diskurse, obwohl geradezu platzend von Wissen und Analyselust, bringen sich weniger konstativ als Wissen zur Sprache – zum Beispiel ein Wissen vom richtigen Weg zum Marxismus –, sondern als Diskurse, die das Ereignis, von dem sie sprechen, zugleich hervorbringen. Der Roman ist also nicht bloß eine Geschichte über die vergangenen revolutionären Bewegungen im Zeichen von 68, sondern das Ereignis eines Aufbruchs, der insofern nicht nur vergangen ist, sondern zugleich aussteht. Genau deswegen lässt einen dieser Text nicht in Ruhe, genau deswegen entlockt er einem mit seinen artistischen Simulationen und Fiktionen das ‚So ist es’: das Déjà-vu als Auftauchen des Ungewordenen, des Ausstehenden, des vielleicht Kommenden.

Von hier aus erschließt sich auch die rätselhafte Gattungsangabe „Vorerinnerung“. Die „Vorerinnerung“ scheint zunächst etwas zu sein, das ‚vor’ der Gegenwart einer Erinnerung liegt. Im kunstvollen Spiel von Simulationen und Fiktionen, also in einem Spiel des „als ob“, wird dieses ‚Vor’ der Erinnerung gleichsam vorgebracht und den realistischen Szenarien als Momente der Realität eingefügt. Damit nimmt der Roman die Züge eines Vexierbildes an: Das Vexierbild als ein Modus von Déjà-vu nämlich meint nicht ein Bild ‚hinter’ oder ‚unter’ dem manifesten Bild (wie es im metaphysischen Paradigma der Fall ist), sondern es ist im Bild, im Text, in dessen Oberfläche, nirgendwo sonst. Weder Abgesang noch Wiederauflage, sondern nachträgliche Öffnung auf ein Vor, welches das Nicht-Gewesene im Gewesenen der revolutionären Prozesse fingiert, entwirft die Vorerinnerung des Romans von Jürgen zugleich realistische Bilder von Zukünften. Wir wollen diese Vexierbilder lesen, lesen lernen.