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Es geht um Öffentlichkeit

Darf man das? Seit der britische Verleger Peter McGee unter dem Titel “Zeitungszeugen” in Deutschland Reprints von Zeitungen aus der Zeit des Nationalsozialismus verkauft, ist eine neue Debatte über den Umgang mit NS-Quellen entbrannt. Nach einem knappen Jahr voller Auseinandersetzungen, mehreren Gerichtsprozessen, und über 40 veröffentlichten Ausgaben ist es Zeit für ein erstes Fazit. Der Dortmunder Medienwissenschaftler Prof. Dr. Horst Pöttker ist wissenschaftlicher Berater des Zeitungszeugen-Projekts. Im DISS-Journal spricht er über publizistische Verantwortung, über das Verhältnis von Wissenschaftlichkeit und Kommerz und über die Frage, ob man NS-Geschichte „erlebbar“ machen sollte.

Erschienen im DISS-Journal Nr. 18 (2009). Das Interview führte Rolf van Raden.

Herr Pöttker, Anfang Oktober hat das Oberlandesgericht München in zweiter Instanz entschieden: Die Zeitungszeugen dürfen weiter erscheinen. Der Freistaat Bayern hatte keinen Erfolg mit dem Versuch, die Herausgabe von Nazi-Faksimiles zu verbieten. Sind Sie zufrieden?

Das Oberlandesgericht hat genauso entschieden wie das Landgericht: Die Urheberrechte sind 70 Jahre nach dem Erscheinen erloschen. Dass wir auf der Grundlage der Urheberrechte der Herren Goebbels und Hitler darüber diskutieren, ob diese Zeitungen in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik präsent sein dürfen, das ist natürlich ein Scheingefecht. Die eigentliche Frage ist doch: Ist das öffentliche Interesse daran so groß, dass dieser ganze Urheberrechtskram gar nicht greift? Und das muss ein oberstes Bundesgericht entscheiden. Das betrifft im Übrigen nicht nur diese Zeitungen, sondern auch „Mein Kampf“ und andere Materialien.

Die Frage nach den Urheberrechten hat einen großen Teil der Diskussion dominiert. Es gab aber auch inhaltliche Kritik am Projekt. Mir ist zum Beispiel nicht klar: Welchen Mehrwert hat ein im A2-Format veröffentlichtes Hochglanz-NSDAP-Wahlplakat gegenüber verkleinerten und kommentierten Abbildungen?

Da sehe ich keinen besonders großen Mehrwert drin. Mir geht es um etwas anderes: Wenn wir diese Zeitungen vollständig nachdrucken, dann wird auch der Alltag dieser Zeit sichtbar. Außerdem können Sie zum Beispiel sehen, dass man schon am 28. Februar 1933 wissen konnte, dass Goebbels von der vollständigen Vernichtung der Gegner gesprochen hat. Die Brutalität der Pläne war für die Öffentlichkeit einsehbar.

Der Anspruch von „Zeitungszeugen“ ist es, Geschichte authentisch darzustellen und sie erlebbar zu machen. Was halten Sie von diesem Anspruch?

Wir sind ja leider nicht völlig authentisch gewesen. Es gab auch Fehler im Umgang mit Quellen, die mich als Wissenschaftler schmerzen. Zum Beispiel hat der Verleger aus Urheberrechtsgründen in der ersten Ausgabe des Völkischen Beobachters die Autorennamen getilgt. Das ist für so ein Projekt natürlich eine Katastrophe. Als ich meinen Beitrag für den Mantelteil geschrieben habe, lag mir ein Exemplar mit den Autorennamen vor. Nach dem Erscheinen habe ich dann Post bekommen: Man fragte mich, wie ich zu der Unterstellung komme, dass ein bestimmter Autor für den Völkischen Beobachter geschrieben habe. Das sei aus der Zeitung doch gar nicht ersichtlich. In meiner Version stand es aber drin. Es ging um jemanden, der nach 1945 als Lyriker eine gewisse Bedeutung gehabt hat, und von dem nicht bekannt war, dass er zuvor in der Nazi-Zeitung veröffentlicht hatte. Es war ein grober Fehler, die Namen unkenntlich zu machen – nicht nur wegen diesem Widerspruch zwischen Mantelkommentar und Faksimile. Denn wenn durch die Neuveröffentlichung auffällt, dass bestimmte Autoren in NS-Zeitungen geschrieben haben, dann erfüllt das Projekt einen wichtigen Zweck. Das ist die segensreiche Wirkung von Öffentlichkeit: Erst in dem Moment, wo die Dinge transparent werden, können sie diskutiert werden. Ich bin davon überzeugt, dass eine Gesellschaft Öffentlichkeit notwendig hat, damit sie sich selbst regulieren kann. Was nicht veröffentlicht wird, kann auch nicht verarbeitet werden.

Unabhängig von möglichen handwerklichen Fehlern: Ist es nicht so, dass das „Zeitungszeugen“-Projekt von Anfang an ein eigentlich uneinlösbares Versprechen der Authentizität formuliert hat? Im Mantelteil der Zeitungen und auf der Homepage wurde zum Beispiel mit Zitaten von Fernsehmoderatorinnen, Politikern und Sportlern geworben. Der Tenor: Deutsche Geschichte werde durch den Nachdruck der NS-Zeitungen „erlebbar“. Da wird zum Beispiel der Schauspieler und Sänger Björn Casapietra mit folgenden Worten zitiert, die sich zumindest in meinen Ohren in Bezug auf den Nationalsozialismus deplatziert anhören: „Geschichte ist wie Musik: Man muss sie erleben können, um sie zu begreifen. Zeitungszeugen macht deutsche Geschichte haut-nah nachvollziehbar.“

Mit diesem Anspruch habe ich kein Problem. Man darf auch nicht vergessen: Die „Zeitungszeugen“ sind kein volkspädagogisches Projekt, sondern ein kommerzielles. Der Verleger will damit Geld verdienen, und das muss sich keineswegs mit der publizistischen Leidenschaft beißen. Natürlich ist der Verleger an größtmöglichem Publikum interessiert, Publikum ist ja übrigens auch Bedingung für öffentliche Wirkung. Warum sollte nicht damit geworben werden, dass das Projekt Geschichte anschaulich und erlebbar macht?

Ein Zyniker würde vielleicht antworten: Wer den Nationalsozialismus wirklich hautnah nachvollziehen will, wie Björn Casapietra das in dem Zitat formuliert, müsste sich schon in Auschwitz durch Menschenversuche zu Tode quälen lassen. Aber auch ganz ohne Zynismus ausgedrückt: Ist die Behauptung, man würde die mörderische NS-Geschichte „erleben“, wenn man ein paar Reprints am Bahnhofskiosk kauft, nicht eine Verharmlosung der Zustände im Nationalsozialismus?

Meine Antwort darauf ist vielleicht provokativ, aber ich denke, sie ist notwendig: In der Bundesrepublik haben wir die NS-Vergangenheit immer nach einem Modell erzählt, das Nietzsche das kritische genannt hat: Gegenwart wird darin als der Kontrast zur Vergangenheit verstanden. Die beiden anderen Formen des historischen Erzählens sind die genetische und die analoge Geschichtsschreibung. Genetisch meint: Vergangenheit ist das, woraus die Gegenwart hervorgegangen ist. Das analoge Geschichtsmodell fragt nach den Ähnlichkeiten. Ich glaube, man darf sich der NS-Vergangenheit nicht ausschließlich mit dem kritischen Modell nähern. Wenn der Nationalsozialismus immer als das ganz andere verstanden wird, dann hat er nie was mit einem selbst zu tun. Dann geht es um diese bösen Nazis, die irgendwann mal vom Mars gekommen sind und den guten Deutschen alles aufgezwungen haben. Und 1945 sind die wieder verschwunden. So ist das natürlich nicht gewesen. Die „normalen“ Deutschen haben die Verbrechen zumindest zugelassen oder waren daran beteiligt. Das ist unsere Vergangenheit. Wir müssen mal endlich zulassen, dass der Nationalsozialismus etwas mit uns zu tun hat; dass jeder von uns auch etwas in sich hat, was solche Verbrechen ermöglicht, wenn bestimmte Rahmenbedingungen dazukommen. Es ist passiert, und es ist nicht ausgeschlossen, dass es wieder passiert. Wir dürfen den Nationalsozialismus nicht immer als das ganz Fremde und ganz Andere sehen. Deshalb finde ich den Ansatz, die NS-Vergangenheit nacherlebbar zu machen, auch nicht völlig verkehrt. Daran hat es bisher gemangelt.

Die Zeitungszeugen-Chefredakteurin Sandra Paweronschitz hat geschrieben: „Ab sofort verfügen Sie über die einmalige Gelegenheit nachzulesen, welche Informationen Ihren Eltern und Großeltern zur Verfügung standen.“ Diese Formulierung blendet aber doch gerade eine Perspektive aus: Nämlich die Möglichkeit, dass unsere Eltern und Großeltern mehr gewusst haben könnten, als in den Zeitungen steht – weil sie selbst Täter waren.

Ich würde erstmal sagen, es war öffentlich, dass Goebbels gesagt hat: Wir werden unsere Gegner brutal vernichten. Das bedeutet, man konnte das wissen. Viele behaupten noch heute, dass sie nichts gewusst haben. Und genau das ist zumindest in Bezug auf die Dinge nicht mehr möglich, die man jetzt in den Reprints nachlesen kann.

Aber liegt dem Versprechen der Nacherlebbarkeit nicht ein naives Medienverständnis zugrunde? Ein Reprint 70 Jahre später steht doch in völlig anderen diskursiven Zusammenhängen. Kann ich dann wirklich so tun, als ob das das gleiche wäre wie vor 70 Jahren? Kann das überhaupt eine authentische NS-Erfahrung sein, alleine schon deswegen, weil Geschichte niemals etwas authentisches ist, sondern eine von gesellschaftlichen Deutungsmustern geprägte Konstruktion von Vergangenheit?

Vollständige Authentizität können wir natürlich nicht erreichen. Aber Zitate, die Sie in den Schulbüchern finden, sind doch noch mehr aus dem Kontext gerissen. Wir drucken ja auch nicht nur die NS-Zeitungen nach, sondern auch die oppositionelle Presse, so lange es sie gab. Sie finden bei uns auch Reprints der Exilpresse und der jüdischen Presse. Wir bemühen uns also, ein Optimum an Kontext herzustellen. Vielleicht kann man auch die Plakate, die Sie am Anfang angesprochen haben, in diesem Zusammenhang sehen. Und wenn ich Kontext sage, meine ich nicht nur die nackten Informationen und das rationale Verarbeiten. Nacherleben heißt, dass man begreift, warum unsere Eltern und Großeltern dem gefolgt sind oder zumindest nichts dagegen getan haben. Man muss das begreifen, wenn man verhindern will, dass Ähnliches wieder passiert. Und dazu muss man auch die emotionale Seite nachvollziehen – natürlich ohne, dass es in Zustimmung zur NS-Propaganda umschlägt.

Dass das nicht passiert, dazu soll ja auch der Mantelteil mit den wissenschaftlichen Kommentaren beitragen. Mir kommt es allerdings so vor, als ob der wissenschaftliche Anspruch und die Umsetzung ein Stück weit auseinander fallen. Konkret: Vier Mantelseiten, die um 30 Zeitungsseiten herumgefaltet sind, wobei die Zeitungsseiten zum Teil sogar noch deutlich größer sind als die Mantelseiten – von einem historisch-kritischen Apparat kann man da ja nun wirklich nicht sprechen.

Mit diesem Verhältnis habe ich nicht so ein Problem, vor allem wenn Sie bedenken, dass es sich nur bei einem Teil der 30 Seiten um NS-Presse handelt. Klar ist aber, dass die Qualität unserer Beiträge stimmen muss, sonst ist Kritik berechtigt. Insgesamt glauben wir aber, dass man heutigen Lesern zutrauen kann, dass sie kritisch genug mit diesem Material umgehen – vielleicht sogar, wenn es gar nicht erklärt würde.

Wenn Sie ein solches publizistisches Projekt selbst entwickeln könnten, wie würde das dann aussehen?

Ich wäre zum Beispiel froh, wenn der Verleger nicht ein Engländer wäre, sondern ein Deutscher – und wenn die Chefredakteurin nicht eine Österreicherin wäre, sondern auch eine Deutsche. Ich glaube, wenn man in dieser Gesellschaft sozialisiert worden ist, dann hat man eine andere Sensibilität für diese Themen. Das ist allerdings nicht als Kritik an dem Verleger gemeint. Abgesehen von einem Projekt Anfang der 1970er Jahre haben sich Deutsche einfach nicht dran getraut.

Halten Sie die „Zeitungszeugen“ für wissenschaftlich genug?

Also zunächst einmal handelt es sich um ein publizistisches Projekt. Es geht darum, Dinge öffentlich zu machen. Wir trauen der deutschen Öffentlichkeit zu, dass sie damit angemessen umgeht. Es gibt sicherlich immer einzelne, die das nicht können, ich rede von der Öffentlichkeit insgesamt. Dieses Zutrauen ist natürlich auch eine Zumutung, denn so schön ist es ja auch nicht, sich mit dieser eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Über diesen publizistischen Ansatz hinaus kann man sich natürlich auch als Wissenschaftler mit dem Thema beschäftigen – dann aber nicht so sehr in dem Sinne, dass man der Öffentlichkeit etwas erklären muss, sondern im Sinne von Forschung: Man möchte wissen, wie es tatsächlich gewesen ist.

Sie firmieren als wissenschaftlicher Berater der Zeitungszeugen. Abgesehen von ihren Beiträgen im Mantelteil, wie sind Sie in das Projekt eingebunden? Hatten Sie auch ein Wort bei der Konzeption mitzureden?

Ja, ich bin zum Beispiel in die Entscheidung über den Titel eingebunden gewesen. Außerdem war ich an der Auswertung einer qualitativen Studie im Vorfeld beteiligt. Mit der wollte der Verleger herausfinden, ob es auf dem deutschen Markt Interesse für das Projekt gibt. Ein interessantes Ergebnis war übrigens, dass das Interesse in den jüngeren Altersgruppen größer war als in den älteren. Da haben viele junge Menschen gesagt: Wir wollen so eine Zeitung auch mal selbst in die Hand nehmen und das nicht immer nur von anderen erklärt bekommen. Bei Jugendlichen gibt es einen gewissen Überdruss, erklärt wurde denen in der Schule schon genug.

Stehen die „Zeitungszeugen“ für einen Umgang mit Geschichte, den Sie sich auch in Bezug auf andere Medien wünschen?

Es gibt ja auch noch die so genannten Verbotsfilme, die von den Alliierten nach 1945 nicht für die Aufführung freigegeben worden sind. Wir haben einen merkwürdigen Umgang mit diesem Material. Wir sehen einen großen Teil der NS-Unterhaltungsfilmproduktion Sonntag nachmittags im Fernsehen. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft macht Schnittauflagen, die Hakenkreuze sind rausgeschnitten. Das halte ich für einen ganz verqueren und problematischen Umgang. Wenn man diese Filme schon zeigt, dann muss man sie doch mit Hakenkreuzen zeigen. Wenn wir die Hakenkreuze rausschneiden und nur Herrn Rühmann beim Witze-Machen zusehen, dann ist das eine Auslöschung von Geschichte.

Das erste Jahr „Zeitungszeugen“ nähert sich seinem Ende. Wie wünschen Sie sich die Fortsetzung des Projekts und haben Sie vielleicht schon Ideen für Folgeprojekte?

Ich könnte mir vorstellen, dass man in dieser Form auch andere Epochen wieder präsent machen kann, zum Beispiel die 1920er Jahre, die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, oder auch das Leben in der DDR. Aber erstmal geht es ja noch ein zweites Jahr mit diesem Projekt weiter. Ein bisschen schade ist, dass es zu Anfang so schnell gegangen ist. Bei den Jahren 1933 bis 1935 waren die Sprünge zu groß, so dass wir jetzt im zweiten Jahr sehr viele Kriegsereignisse lesen werden. Das halte ich für die etwas weniger interessante Seite. Über den Verlauf des zweiten Weltkriegs gibt es nun wirklich genug Literatur. Wir müssen den Krieg hier nicht noch mal gewinnen wollen.

Haben Sie den Eindruck, dass es eine solche Tendenz gibt?

Ich bin in den 1950er Jahren in die Schule gegangen, und ich hatte einen Lehrer, der war vorher Panzeroffizier. Da fing die Stunde dann mit Caesar und dem gallischen Krieg an, und am Ende waren wir dann irgendwie doch wieder vor Stalingrad. Die 50er Jahre, das war die Zeit, in der viele noch den Krieg wieder gewinnen wollten – ich übrigens auch. Ich gehöre auch zu denen, die als 13- oder 14jährige Landserhefte und Fliegergeschichten gelesen haben. Zum Glück hat es dann in der Bundesrepublik Stufen der Verarbeitung gegeben, die einem geholfen haben, davon weg zu kommen. Ich wünsche mir, dass es im zweiten „Zeitungszeugen“-Jahr nicht hauptsächlich um die großen Schlachten und Kriegsereignisse geht, sondern vielmehr um die Frage: Wie war das eigentlich möglich? Ich will, dass wir begreifen, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Deutsche bis zum letzten Moment, bis in den eigenen Tod, dem allem gefolgt sind – und zwar freiwillig, nicht gezwungen.

Haben Sie dem Verleger oder der Chefredaktion denn schon konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht?

Ja, durchaus. Zum Beispiel brauchen wir in der gedruckten Ausgabe eine Korrekturspalte, in der wir auf eigene Fehler hinweisen. Ich würde mir da mehr offene Diskussionen wünschen. Aber das sind Detailkritiken. Insgesamt stehe ich hinter dem Projekt, weil ich denke, dass es sinnvoll und wichtig ist. Vor allem wünsche ich mir jetzt aber, dass abschließend juristisch geklärt wird, ob das öffentliche Interesse an dem Material nicht so groß ist, dass die ganzen Urheberrechtsfragen irrelevant sind.