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Amok-Diskurse: Veranlagung, Verbrechen, psychische Krankheit?

Deutungshoheit über das Unerklärbare. Von Rolf van Raden. Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)

„Familien gegen Killerspiele“ – unter diesem Motto wollte das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden im Oktober 2009 Computerspiele einsammeln und anschließend vernichten. Das Angebot wurde zwar kaum angenommen, sicherte jedoch bundesweite Aufmerksamkeit für das Anliegen der Elterninitiative: Die gesellschaftliche Ächtung von so genannten Killerspielen. Das Verbot von Spielen, die das Töten von Menschen realitätsnah simulieren, ist ebenfalls eine von 83 Empfehlungen des vom Land Baden-Württemberg eingesetzten Expertenkreises Amok – und wahrscheinlich die in der Öffentlichkeit am meisten diskutierte. Welche politisch-sozialen Konsequenzen nach einer Gewalttat gefordert werden, das ist die eine Sache. Die andere ist, wer sich aus welcher Position heraus zum Thema äußert. Geht es um eine Bewertung der längerfristigen gesellschaftlichen Folgen von Amok-Debatten, sollte beides im Blickfeld stehen.

Der Expertenkreis Amok erhielt von der Landesregierung den Auftrag, die notwendigen Konsequenzen zu benennen, welche Politik, Justiz und Gesellschaft aus dem School Shooting von Winnenden ziehen sollten. In seinem Abschlussbericht empfiehlt das Gremium unter anderem die Installation von Amok-Alarmknöpfen in den Klassenzimmern, eine doppelte PIN-Sicherung von Sportwaffen, weniger Datenschutz für SchülerInnen und eine Ausdehnung der geplanten Internet-Sperren auf „absolut unzulässige“ Gewaltdarstellungen. Nach Meinung der Kommission soll außerdem das Schulgesetz um eine pädagogische Sanktionsmaßnahme erweitert werden – um die „Verpflichtung zu sozialen Diensten für die Gemeinschaft“.

Wie die Gemeinschaft vor gefährlichen Individuen geschützt werden kann, das ist eine Frage, die nicht erst seit dem Amoklauf von Winnenden im Zentrum politischer Auseinandersetzungen steht. Analysen historischer Diskursformationen, wie sie Michel Foucault etwa in seinen Vorlesungen zu den Anormalen ((Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974.1975), Frankfurt/Main 2003.)) vorgenommen hat, zeigen: Es ist seit jeher ein umkämpftes Feld, wer zu einer bestimmten Zeit akzeptierte und plausible Antworten auf diese Frage formulieren kann. Die Analyse dessen, wer jeweils eine Gesellschaft vor ihren inneren Gefahren schützen soll, sagt einiges über die herrschenden Machtverhältnisse aus. In Bezug auf die baden-württembergische Kommission könnte man es sich einfach machen: Die relative Mehrheit in dem 13köpfigen Gremium bildeten sechs JuristInnen, flankiert von drei Politikern, einem Psychiater, einem Psychotherapeuten, einem Pädagogen und der Vorsitzenden des Landesschulbeirats. Als nicht-ständige Mitglieder nahmen VertreterInnen der Opfereltern teil. Der Kommission zur Seite gestellt wurden sieben BeraterInnen aus den Landesministerien – von denen mindestens fünf ebenfalls studierte JuristInnen sind. Amok ist also ein Thema, bei dem die Baden-Württembergische Landesregierung offensichtlich am meisten dem Votum von JuristInnen vertraut. Es gibt jedoch auch Stimmen, die in der Tat nicht in erster Linie das juristisch aufzuarbeitende Verbrechen, sondern vielmehr die Folge einer Krankheit sehen: Der Täter Tim K. habe unter einer masochistischen Persönlichkeitsstörung gelitten, erklärte der renommierte Kinderpsychiater Reinmar du Bois in dem offiziellen psychiatrischen Gutachten. Er begründete das unter anderem mit sado-masochistischen Bondage-Fotos, die auf dem Computer des 17jährigen gefunden wurden. Der Täter habe mithilfe von Informationen aus dem Internet bei sich selbst eine bipolaraffektive Störung und manisch-depressive Stimmungsschwankungen diagnostiziert, berichteten die Medien im September, als das Gutachten bekannt wurde. Einzelne Gespr äche mit einer Psychotherapeutin sollen der Selbstdiagnose gefolgt sein, eine Therapie nicht. Weite Teile der Presse-Berichterstattung über das du-Bois-Gutachten haben den Tenor: Der Überfall auf die Albertville- Realschule hätte relativ einfach verhindert werden können – von den Eltern, die Tim K. in eine Therapie hätten schicken können, und von Psychologen und Psychiatern, wenn sie weitergehenden Zugriff auf den Jungen gehabt hätten.

Den Anspruch, dass ihr Fachwissen schreckliche Gewalttaten verhindern könne, haben Psychologen und Psychiater in jüngerer Vergangenheit wiederholt in die Öffentlichkeit getragen. Nach dem Amoklauf in der finnischen Stadt Kauhajoki im September 2008 interviewte etwa die Süddeutsche Zeitung den Kriminalpsychologen Jens Hoffmann, um das an der TU Darmstadt entwickelte Dynamische Risiko-Analyse-System vorzustellen. Hoffmann erklärte, sein Programm gebe anhand von 31 Variablen „eine Risiko-Einschätzung ab, ähnlich einem Wetterbericht.“ Fazit: Die Gefahr eines Amoklaufs „hätte ohne Zweifel erkannt werden können“, gab sich der Psychologe überzeugt.

Während Hoffmanns Methode die psychische Konstitution sowie Einstellungs- und Verhaltensmuster der Probanden analysiert, begründen andere Wissenschaftler ihre Zuständigkeit für die Täter biologisch. Schon im Jahr 2007 hatte der Bielefelder Professor für Physiologische Psychologie Hans Markowitsch im Spiegel postuliert, dass zukünftig Gewalttäter durch neurologische Scans im Vorfeld erkannt werden könnten:

„Meiner Ansicht nach ist jedes kriminelle Verhalten bedingt durch etwas Pathologisches. In mittelferner Zukunft wird man möglicherweise sehen, dass sich alle Hirne von Mördern in mindestens einer Determinante von Hirnen aller Nicht-Mörder unterscheiden und dass genau diese biologischen Abweichungen bedingen, dass jemand mordet.“ ((Neuronen sind nicht böse. Gespräch zwischen Hans Markowitsch und Jan Philipp Reemtsma. In: Der Spiegel 31/2007, S. 221.))

Bereits heute sei wissenschaftlich belegt, dass die Handlungen auch von Verbrechern hirnphysiologisch determiniert seien:

„Wir identifizieren derzeit Mechanismen im Hirn, die ein Verhalten hervorbringen können, das wir moralisch als böse, juristisch als strafbar bewerten. Neurowissenschaftlich sind das Defekte, für die der Delinquent nichts kann, weil sie angeboren sind, oder meist in frü- her Kindheit erworben wurden.“ ((Ebd., S. 122. Im Spiegel-Gespräch sowie in dem zusammen mit Werner Siefer verfassten Buch „Tatort Gehirn“ (Frankfurt/ Main 2007) lehnt Markowitsch die Vorstellungen eines freien Willens und persönlicher Schuld aus neurophysiologischen Gründen ab. Er fordert die Ablösung des Schuldstrafrechts durch ein Maßnahmenrecht der Heilung, Besserung und Verwahrung.))

Als die Polizei im September 2009 den Abschluss der polizeilichen Ermittlungen zum School Shooting in Winnenden verkündete, machte ein weiteres Detail die Runde durch die Zeitungen, das die Wirkmächtigkeit solcher Vorstellungen verdeutlicht: Die Polizei habe im Zimmer von Tim K. eine Notiz gefunden, die man als Abschiedsbrief deuten könne. Auf einem Zettel habe der 17jährige notiert:

„Es gibt zwei Behauptungen, warum es solche Menschen gibt. Die einen sagen, man wird so geboren, die anderen sagen, man wird zu dem gemacht. Die Wahrheit ist, diejenigen haben es schon von Geburt an in sich, es kommt jedoch nur raus, wenn das Gemachte hinzukommt!“

Die Rede von der angeborenen Veranlagung zum Verbrechen hat ihren Weg aus dem Mediendiskurs in das Jugendzimmer von Tim K. und wieder zurück in die Zeitungen gefunden, wo der Täter posthum als authentischer Sprecher fortan die Vorstellung weiter plausibilisiert.

Auf dem Computer von Tim K. fanden die Ermittler neben den Sado-Maso-Bildern noch anderes Material, berichteten die Zeitungen übereinstimmend weiter: Der 17-Jährige habe vor seinem Überfall auf die Schule Informationen über einen spektakulären historischen Mehrfachmord aus dem Jahr 1913 gesammelt: Damals tötete der Lehrer Ernst August Wagner in Degerloch bei Stuttgart seine Frau und seine vier Kinder. Anschließend fuhr er ins Dorf Mühlhausen bei Vaihingen an der Enz und legte dort Feuer. Bis er überwältigt werden konnte, erschoss er neun weitere Menschen und verletzte elf schwer. Aufgrund eines Gutachtens des Leiters der Tübinger Universitätspsychiatrie wurde Wagner nicht verurteilt, sondern fristete den Rest seines Lebens in der Nervenheilanstalt Winnenthal in Winnenden, ausgerechnet Tim K.s Wohnort. Dort starb er erst im Jahr 1938.

Schon unmittelbar nach dem Überfall auf die Albertville-Realschule im März 2009 zogen Zeitungsartikel die Verbindung zu Wagners Mehrfachmord 96 Jahre zuvor. Die gleiche Region, hier ein Schüler, da ein Lehrer – mit solchen Parallelen plausibilisierten die Medien das erneute Interesse an dem historischen Fall.

Ein genauerer Blick auf die Diskurse, in denen die diskursiven Ereignisse Winnenden 2009 und Degerloch/ Mühlhausen 1913 eine Rolle spielen, kann dagegen auf einer inhaltlichen Ebene erklären, weshalb beide Fälle nicht nur für die Presse, sondern auch für Politik und Psychiatrie eine so herausragende Rolle spielen. Wie im Jahr 2009 begannen auch im Jahr 1913 die Zeitungen unmittelbar nach der Tat damit, anhand von Aussagen von NachbarInnen und angeblichen Bekannten ein Bild des Täters zu zeichnen, das deutlich machte: Obwohl er bisher wie ein „normaler“ Mensch aus der Mitte der Gesellschaft wirkte, sei er in Wirklichkeit alles andere als das gewesen. Nach wenigen Tagen Zeitungsberichterstattung galt das zunächst als harmonisch beschriebene Familienleben Wagners als „stark zerrüttet“, und ihm wurde ein „liederlicher Lebenswandel“ nachgesagt. Auch der Medienkonsum des Lehrers rückte ins Interesse. So schrieb etwa der Schwäbische Merkur wenige Tage nach der Tat: „Wagner gab sich in seiner freien Zeit sehr viel mit Lektüre ab. Welchen Inhalts diese war, dazu äußerte er sich nie. Es ist aber Anlaß vorhanden zu der Annahme, daß es Stoffe zweifelhafter Art waren.“ Durch solche Darstellungen und Bemerkungen über Wagners eigensinniges Verhalten wurde der „seltsame und merkwürdige Charakter des Mörders“ zu einem zentralen Bestandteil der Berichterstattung. Eine kohärente Geschichte, welche die Morde schlüssig erklärte, konnte die Rede vom anormalen Täter in den Zeitungen alleine jedoch nicht leisten. Hier traten zwei institutionell verankerte Wissenssysteme auf, die in einem intensiven auch öffentlich geführten diskursiven Gefecht um die Zuständigkeit für den Fall Wagner kämpften: Die Justiz und die Psychiatrie.

Sowohl der medizinisch-psychiatrische als auch der Rechtsdiskurs bezogen sich bei ihren Bemühungen auf die Angst vor dem gefährlichen Individuum, vor dem die Gesellschaft geschützt werden musste. Im Diskurs über den Schutz vor gefährlichen Geisteskranken machten die Ärzte der Justiz mit biopolitischen Argumentationen aggressiv das Feld streitig. Während die Juristen ihren Zugriff auf den Delinquenten nutzten, um erste Ergebnisse der Verhöre zu veröffentlichen, wurde in der medizinisch orientierten Rede Ernst Wagners gesamte Biographie weiter anormalisiert und pathologisiert. Im Kern organisierte sich dieser psychiatrische Diskurs in Form eines argumentativen Dreisatzes: Der für die Gesellschaft gefährliche Verbrecher ist krank, also ist die Gesellschaft krank, also sind die Ärzte dafür zuständig, die Gesellschaft zu schützen und mit biopolitischen Maßnahmen zu heilen.

Die Diskursstrategie der Ärzte war erfolgreich: Nicht nur wurde Wagner für schuldunfähig erklärt und in die Obhut der psychiatrischen Institutionen übergeben; über den Einzelfall hinaus machten sich die Psychiater in den Jahren ab 1914 mit einem ungewöhnlich großen publizistischen Aufwand für eine Reform der so genannten Irrengesetzgebung stark, die ihnen mehr Einfluss auf potentiell delinquente, also gefährliche Individuen sichern sollte. Anhand zeitgenössischer gerichtsmedizinischer Gutachten, aber auch anhand der Presseberichterstattung lässt sich im Einzelnen nachweisen, wie die Vorstellungen von anormalem Verhalten, Krankheit und Verbrechen zunehmend verschmolzen. Unter dem Primat der biologischen Medizin avancierten die Ärzte, allen voran die Psychiater, zu den tatsächlich Zuständigen für gesellschaftliche Delinquenz. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung schließlich im Nationalsozialismus, wo Ärzte im Namen der Volksgesundheit als Richter an den Erbgesundheitsgerichten Zwangssterilisierungen anordneten und in den Jahren 1940/41 im Rahmen der Aktion T4 über 100.000 Anstaltsinsassen vergasten.

Ein Verweis auf diese historischen Entwicklungen und ihre diskursiven Bedingtheiten soll keinesfalls undifferenziert nahelegen, dass sich Geschichte wiederholt. Gleichwohl kann eine diskurshistorische Perspektive dazu beitragen, sensibel und kritisch auf Argumentationen zu reagieren, mit denen bestimmte wissenschaftliche Disziplinen über den Verweis auf einen besseren Schutz der Gesellschaft mehr gesellschaftlichen Einfluss für sich reklamieren. Derzeit ist noch unentschieden, ob zum Beispiel eine neurowissenschaftlich orientierte Psychiatrie in näherer Zukunft das Primat der Justiz ablösen kann, wenn es um die gesellschaftliche Verarbeitung von individuellen Gewalttaten geht. Unbestreitbar ist jedoch, dass einige VertreterInnen dieser Wissenschaft das offensiv fordern.