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Diskursanalyse(n) in Deutschland

Ihre Entwicklung und gesellschaftliche Relevanz. Ein (unvollständiger) Überblick von Siegfried Jäger. Erschienen in DISS-Journal 16 (2007)

Das kulturwissenschaftliche Interesse an der sich an Michel Foucault orientierenden Diskursanalyse boomt. Es gibt inzwischen wohl kaum eine wissenschaftliche Disziplin, die sich nicht auf die eine oder andere Spielart von Diskursanalyse im Anschluss an Foucault oder – seltener – auch an Derrida zu stützen versucht, wobei solche Versuche in der Regel oder doch oft mit dem Bemühen einhergehen, eigene theoretische und methodologische Konzepte zu entwerfen und anzuwenden. ((Das gilt insbesondere für die Geistes- und Sozialwissenschaften, zunehmend aber auch für die Naturwissenschaften.)) Im Ergebnis sehen wir zurzeit einen – natürlich unabgeschlossenen – Prozess vor uns, der in Deutschland Anfang der 80er Jahre etwas zaghaft begonnen hat, heute aber zu einem breiten Fluss unterschiedlichster Ansätze geführt hat, der sich dadurch auszeichnet, dass er zwar noch keine wirklich umfassende Rezeption vorliegender früherer und natürlich auch nicht gleichzeitig publizierter Ansätze enthält (und enthalten kann), sondern eher in Gestalt eines eher noch etwas löchrigen Flickenteppichs einherkommt bzw. durch die Zeit wallt.

Das ist angesichts des obwaltenden Pluralismus in den unterschiedlichen Disziplinen einerseits nicht verwunderlich und auch aus den verschiedensten Gründen unvermeidbar; andererseits jedoch auch etwas ärgerlich, wenn neuere Rezeptionen wichtige Entwicklungen im Feld der Diskursanalyse vernachlässigen, übersehen oder aus welchen Gründen auch immer einfach ignorieren. Damit besteht die Gefahr wissenschaftlichen Wildwuchses, die die wissenschaftliche und politische Relevanz von angewandter Diskurstheorie zu untergraben geeignet sein könnte.

Zu konstatieren ist jedoch auch: Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, sind inzwischen einige inter- und transdisziplinäre Gesprächskreise, regelmäßige Colloquien, Diskurswerkstätten und gemeinsame Publikationsforen ins Leben gerufen worden, die bestens dazu geeignet sind, einen regeren und dichteren Austausch zwischen den unterschiedlichen Ansätzen zu ermöglichen – auch wenn diese noch die beklagten Mängel nicht immer vermeiden (können?).

Hier sind die Aktivitäten des Augsburger Arbeitskreises Diskursanalyse hervorzuheben, sowie inzwischen gegründete Diskurswerkstätten in Bochum/Dortmund, Duisburg, Leipzig und anderswo, aber auch jährlich stattfindende Colloquien (u.a. des DISS) in Augsburg, Linz, Würzburg und andernorts.

Die deutsche Rezeption Foucaults begann in den Literatur- und Sprachwissenschaften Anfang der 80er Jahre. Markant ist das Erscheinen der zeitschrift für angewandte diskurstheorie kultuRRevolution 1982, die inzwischen mehr als 50 Ausgaben erreicht hat. Sie wurde und wird von Jürgen Link und der Diskurswerkstatt Bochum/Dortmund herausgegeben. Neben der Rezeption (und Anwendung) Foucaultscher Diskurstheorie entwickelte sich hier die Theorie der Kollektivsymbolik und die Konzeptualisierung der Theorie des Normalismus, begleitet von zahlreichen Analysen zu Spezial- und Interdiskursen.

1986 erschien Franz Januscheks Arbeit an Sprache, aus der heraus sich die primär sprachwissenschaftlich orientierte Oldenburger Diskursanalyse entwickelte, die in diesem Heft eingehender vorgestellt wird. ((Eine neuere Untersuchung dazu ist Kerstin Tieste: Rechtspopulismus in politischen Talkshows. Die Präsentation der Regierungsbeteiligung der FPÖ im deutschen Fernsehen – Diskursanalytische Untersuchungen, Münster 2006.)) Eine sich auf die Archäologie des Wissens stützende Historische Semantik legte bereits 1987 Dietrich Busse vor.

1989 erschien im DISS die Text- und Diskursanalyse. Eine Anleitung zur Analyse politischer Texte, die bis 1996 fünf Auflagen erlebte. Sie stellte das methodische Extrakt zweier empirischer Projekte zur rechtsextremen Publizistik und zum alltäglichen Rassismus dar (RechtsDruck. Die Presse der neuen Rechten und BrandSätze. Rassismus im Alltag). Ihr folgte 1992 der von Siegfried Jäger und Franz Januschek herausgegebene Sammelband Der Diskurs des Rassismus. Ergebnisse des DISS-Kolloquiums 1991 und 1993 die von mir verfasste Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, die 1999 in einer erheblich überarbeiteten Form erschien und seit 2004 in vierter Auflage vorliegt. Der darauf fußende Duisburger Ansatz der Diskursanalyse ist in seiner aktuellen Form dargestellt in M. Jäger/S. Jäger: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis kritischer Diskursanalyse.

Auch in der Sprachwissenschaft erfolgte eine breitere Foucault-Rezeption, so Martin Wengelers Topos und Diskurs 2003, Albert Buschs Diskurslexikologie und Sprachgeschichte der Computertechnologie 2004 sowie der 2007 von Ingo Warnke herausgegebene Sammelband Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, ein Band, der eine gewisse Öffnung gegenüber Soziologie und auch Philosophie aufweist (z.B. im Beitrag von Johannes Angermüller), ansonsten jedoch eine gewisse Scheu zeigt, die Grenzen der germanistischen Sprachwissenschaft zu überschreiten.

Einen Höhepunkt der Entwicklung der Diskurstheorie und Diskursanalyse in Deutschland bildete das 2001 erschienene zweibändige interdisziplinäre Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse von Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider und Willy Viehöver, das 2006 aktualisiert und erweitert wurde (um einen wichtigen Artikel von Jürgen Link), mit dem die Diskursanalyse in Deutschland ihren eigentlichen Durchbruch erlebte. Das gleiche Forscherteam gab 2005 das Buch Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit heraus.

Die hohe interdisziplinäre Attraktivität der Diskursanalyse beweist das 2007 erschienene und von Clemens Kammler und Rolf Parr herausgegebene Buch Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, das Beiträge von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern sowie Erziehungswissenschaftlern enthält und auf einem mehrtägigen Symposium des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen basiert.

Ein wichtiger weiterer Hinweis darf an dieser Stelle nicht fehlen: das besondere Interesse von Historikern an der Foucaultschen Diskursanalyse. Zu nennen sind dazu neben vielen anderen Ulrich Brielers Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker von 1998, Philipp Sarasins Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse von 2003 oder Franz X. Eders Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen von 2006.

In Verbindung mit den hier nur ausschnittsweise angesprochenen Ansätzen wurde eine Vielzahl von empirischen Projekten durchgeführt, die sich nahezu ausnahmslos mit gesellschaftlich relevanten und brisanten Themen befassten, vom Einwanderungsdiskurs bis zum Militarismus, von der Biopolitik bis zu Genderfragen von der Todesstrafe bis zum Rechtspopulismus.

Das Konzept Diskursanalyse in seinen verschiedenen Ausformungen eignet sich offenbar trotz der eingangs angesprochenen Inkonsistenzen, die auch etwas mit den Existenzbedingungen von (nicht nur jungen) Wissenschaftlerinnen in unseren Universitäten zu tun haben, in hervorragender Weise dazu, sich kritisch mit gesellschaftlich problematischen Gegenständen auseinanderzusetzen, sofern seine Protagonistinnen dazu bereit sind, die Macht- Wissensbeziehungen, die die Diskurse organisieren und die Tatsache, dass Diskurse Applikationsvorgaben für die Gestaltung gesellschaftlicher und subjektiver Wirklichkeiten darstellen, zu beherzigen. ((Zu nennen wäre natürlich eine Fülle weiterer Arbeiten wie etwa die der Soziologinnen Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Ulrich Bröckling, Thomas Lemke, der Historiker Jürgen Martschukat, Michael Maset, Achim Landwehr u.a.)) Das verweist zugleich darauf, dass die Foucaultsche Diskurstheorie auch dazu beitragen kann, neue Ansätze der Gesellschaftsanalyse zu befruchten, wie dies etwa in Arbeiten von Hardt und Negri und in sich darauf beziehenden Versuchen, die bei Marianne Pieper/ Thomas Atzert/Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos (Hg. 2007) veröffentlicht wurden, versucht wird.

Angesprochene Bücher

Busch, Albert: Diskurslexikologie und Sprachgeschichte der Computertechnologie. Tübingen 2004: Lang, 492 S. 145 €. Busse, Dietrich: Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart 1987: Klett-Cotta, 334 S. (vergriffen).

Eder, Franz X.: Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006; VS Verlag, 338 S., 39,90 € Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse. Wiesbaden 2007: VS Verlag, 320 S., 34,90 €

Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 4., gegenüber der 2., überarb. und erw., unveränderte Aufl. Münster 2004: Unrast, 404 S., 24 €.

Kammler Clemens/Parr Rolf (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007: Synchron, 277 S., 29,80 €

Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1. 2., aktual. u. erw. Aufl. Wiesbaden 2006: VS Verlag, 450 Seiten, 34,90 €.

Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, Konstanz 2005: UVK, 350 S., 34 €

Pieper, Marianne / Atzert, Thomas/ Karakayali, Serhat/ Tsianos, Vassilis (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt/New York 2007: Campus, 316 S., 29,90 €

Warnke Ingo H. (Hg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/New York 2007: de Gruyter, 283 S., 88 €