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Über rechten Anti-Intellektualismus

15 Thesen. Von Kurt Lenk. Erschienen in DISS-Journal 10 (2002).

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Das Idealbild, die Legende vom modernen Intellektuellen zeigt einen Menschen, der „freischwebend“ und unabhängig von den fixierten Machtpositionen seiner Zeit mit seiner Urteilskraft allein der Wahrheit und seinem Gewissen verpflichtet ist, und, sobald er auch politisch Stellung bezieht, stets der Sache der jeweils Ohnmächtigen und Schwächeren beisteht. Freilich ist dieses Porträt eines kritisch-distanziert über den Dingen stehenden und zugleich engagierten Intellektuellen eine geschönte Utopie.

Die Geschichte lehrt, daß auch Intellektuelle sich in der Regel nicht so verhalten können als wären sie zwar in, aber nicht von dieser Welt. Auch sie unterliegen dem ehernen Gesetz des Zwangs zur Selbsterhaltung.  Einer der ersten Kritiker der zeitgenössischen Intellektuellen, Julien Benda, hat 1927 vor dem Hintergrund des aufkommenden gesamteuropäischen Autoritarismus und Faschismus den „Verrat der Intellektuellen“ gegeißelt. Er sah in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eine Flut lebensphilosophischer Irrationalismen heraufkommen, die gerade jene zu ihren Erzeugern hatten, denen es ihrer Bestimmung nach aufgetragen war, kollektive Mythen (wie Nation, Volk, Rasse usw.) kritisch aufzulösen. Benda zeigte, wie umstandslos Intellektuelle das preiszugeben bereit sind, wofür sie einzustehen hätten: den Dienst an der Wahrheit. Begeben Intellektuelle sich auf den Markt, um Politik zu machen, so drohen ihnen zwei Gefahren: entweder sie scheitern als „unbewaffnete Propheten“ gleich dem Mönch Savanarola oder aber sie müssen Kompromisse schließen, die unter Umständen in blanken Opportunismus umschlagen können.

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Die lange Geschichte der europäischen Intellektuellen war – bei Licht besehen – bis ins späte 19. Jahrhundert hinein eine Abfolge von Niederlagen, beginnend mit der Utopie Platons, die Staatslenker sollten Philosophenherrscher sein, weder über Besitz noch familiäre Bindungen verfügen, um so ganz den Prinzipien des Staats leben zu können. Einen ersten – nicht bloß symbolischen – Sieg über die scheinbare Allmacht staatlicher Verhältnisse errangen an der Wende zum 20. Jahrhundert die „Dreyfußards“, die mit der Anklage Emile Zolas (Artikel „J’accuse“ in der Zeitung „L’aurore“ am 13. Januar 1898) dem Recht zum Durchbruch verhalfen. Von da an wurde die Formel „Ich klage an“ geradezu zum Kennzeichen des machtkritischen Habitus der Intellektuellen, die sich berufen fühlen, in der Öffentlichkeit gegen jedwedes Unrecht aufzustehen.

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Vom Kampf der französischen Intellektuellen gegen das herrschende Bündnis von Militär, Staatsmacht, Justiz und „gesundem Volksempfinden“, gespeist von Nationalismus und Antisemitismus, datiert denn auch die Affinität großer Teile der Intellektuellen mit der politischen Linken, ein Bündnis, das sich trotz der gängigen Rede vom Überholtsein des Links-Rechts-Schemas bis heute stets erneut einstellt. In dieser Optik steht die intellektuelle Linke für Fortschritt, Gerechtigkeit und Modernität, während der überkommenen Rechten das Festhalten an den bestehenden Verhältnissen und die Verteidigung privilegierter sozialer Positionen zugeschrieben wird.

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Dieser simple Dualismus von linkem, intellektuellen Fortschrittsstreben und rechter Rückwärtsgewandheit erfährt seit geraumer Zeit eine herbe Korrektur. Das Schrumpfen politischer Handlungsspielräume, die Ausrufung des „Endes der Politik“ im Sinne ihrer Abschaffung durch die Allmacht ökonomischer Imperative, gar eines „Endes der Geschichte“ überhaupt bestimmt die gegenwärtige prekäre Situation und Befindlichkeit der Intelektuellen. Im Gefolge der weitverbreiteten Rhetorik einer „Mitte“, die sich zum TINA-Prinzip(„there is no alternative“) bekennt, entstand eine neue Trennlinie zwischen Pragmatismus und Ideologie, Modernität und Rückschritt, Mäßigung und Radikalität. Für diese Frontverschiebung plädiert ein Wort wie das des alten und neuen Bundeskanzlers, wonach es keine rechte oder linke, sondern nur mehr eine moderne oder unmoderne Wirtschaftspolitik geben könne. Die darin zum Ausdruck kommende Option einer sachzwanggeleiteten „Normalität“ im Sinne einer entschiedenen Absage an den Status quo überschreitende utopische Entwürfe ist längst auch zum Panier einer „Neuen Rechten“ geworden, die seit dem Pariser Mai 1968 sich zum Anwalt des technischen Fortschritts gegen intellektuelles „Gutmenschentum“ erklärt hat (Vg. hierzu die Schriften von Armin Mohler). Es versteht sich, das mit einer solchen Definition ideologiekritische Analysen bestehender Machtverhältnisse obsolet, anachronistisch und jedenfalls unzeitgemäß erscheinen müssen, geschlagen mit dem Signum ihrer Vergeblichkeit.

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Diese Situation der Intellektuellen ergibt sich jedoch nicht allein aus der Bestreitung ihres Monopols auf Fortschritt und Modernisierung, sondern mehr noch aus einer seit längerem virulenten radikal-skeptischen Einstellung zur Zivilisation überhaupt. Schon der französische Soziologe Emile Durkheim hat die im Laufe des 19. Jahrhunderts eingetretene Urbanisierung und Modernisierung als Konsequenz des Zusammenbruchs aller tradierten religiösen, familiären und sonstigen Bindungen gedeutet, wobei ihm die Selbstmordstatistik zum Menetekel für den hohen Preis des Fortschritts wurde. Es war zur selben Zeit die Gestalt und das Werk Friedrich Nietzsches, der mit seinen epochemachenden Thesen zur Dekadenz der Moderne das Bewußtsein für einen europäischen Nihilismus begründete, von dem gerade in unserer Zeit die lebensphilosophischen Strömungen des Antiintellektualismus gespeist sind.

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Der Antiintellektualismus heute verweist nicht etwa auf persönlich oder moralisch zurechenbare Defizite, sondern muß als Folge eines langwährenden Verfalls der „freien“ Intelligenz gewertet werden. Wo immer bürgerliche Klassen nicht mehr in der Lage waren, sich den Luxus einer quasi klassenlos-freischwebenden Intelligenz zu leisten, fand auch der einstige Begriff eines universalistischen Intellektuellen sein Ende. Erst recht gerät das intellektuelle Projekt stets dann in die Defensive, sobald der Verlust konkreter Utopien jeden Avantgarde-Anspruch dementiert. Im Zeichen drohender globaler Katastrophen war und ist die Pfadfinder-Funktion der Intellektuellen problematisch geworden, vor allem dann, wenn – aller scheinbaren Dynamik zum Trotz – weite Teile der Gesellschaft von Ungewißheit und Zukunftsängsten bestimmt werden und mögliche Reformen blockiert scheinen.

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Die Frage des Verhältnisses von Vernunft (Verstand, Intellekt) und Wille (Instinkt) gehört zu den großen Themen der Metaphysik des Abendlandes. Während in der griechischen Antike im allgemeinen die Erkenntnis über dem Wollen und Handeln rangierte und damit zum Vorbild eines jeden Intellektualismus der Folgezeit werden konnte, entstand im Spätmittelalter – bei Duns Scotus – eine voluntaristische Gegenströmung: nicht der Wille hänge von der Vernunft, sondern die Vernunft vom Willen ab. Denn in Wahrheit sei der Wille ein schlechthin Letztes und daher seinem Wesen nach frei. Mit dieser auch von den Mystikern Eckehart und Nikolaus von Kues verfochtenen Prämisse begann eine Erschütterung des tradierten Intellektualismus, die im beginnenden 19. Jahrhundert unter anderem Vorzeichen erneut eintrat. Vor allem war es Johann Gottlieb Fichte, der das Handeln, die Tat, als die Wurzel unserer Existenz und allen Wissens bestimmte. In seiner Wendung gegen den „Dogmatismus“, der die Erkenntnis zum Prinzip des Lebens machen wollte, erklärte Fichte umgekehrt das Leben selbst zum Höchsten. Zum eigentlichen Begründer des metaphysischen Voluntarismus wurde schließlich Arthur Schopenhauer, der den „Willen zum Leben“ als einen starken Blinden symbolisierte, der einen sehenden Gelähmten, d.h. den Intellekt, auf seinen Schultern trage. Funktion dieses Intellekts sei es, dem blinden Willen ein Licht vorzuhalten, um seine dunklen Pfade zu beleuchten. Trotz dieser Zuerkennung des Wirkprimats an den Willen erkannte Schopenhauer gleichwohl dem Intellekt den Wertprimat zu, eine Auszeichnung, die erst beim späten Friedrich Nietzsche eine fatale Umkehr erfuhr: er steigerte den Willen zum „Willen zur Macht“, der damit zum Höchstwert avancierte. Von da an werden alle auf Nietzsche folgenden lebensphilosophischen Strömungen zu Verfechtern eines mehr oder minder aggressiven Antiintellektualismus, der in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen das Feld beherrschte.

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Richtungsweisend für die politisch rechte Kritik des Antiintellektualismus wurde Nietzsche seit seiner Frühschrift über die „Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus“ (1872), worin er das Phantasma des „theoretischen Menschen“ konstruierte, den er in Sokrates verkörpert sah. Dieser wird ihm zum Sündenbock für den Nieder gang des tragischen Zeitalters der Griechen. In seiner „Götzendämmerung“ (1888) hat Nietzsche seine antisokratische Polemik in die Formel gefaßt: „Sokrates war ein Mißverständnis; die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, … die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewußt, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit … – und durchaus kein Rückweg zur „Tugend“, zur „Gesundheit“, zum Glück … Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence: solange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt“ (Götzendämmerung, Stuttgart 1954, S.93).

Das Vergehen des Sokrates sieht Nietzsche in einer ruchlosoptimistischen Gleichsetzung von Vernunft=Tugend=Glück, was jede Tiefe und Tragik des menschlichen Lebens zersetze und an die Stelle eines dionysischen (das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus überströmender Gesundheit bejahende) Lebensgefühls ein bieder-intelektualistisches Menschenbild treten lasse. Während Schönheit, Schrecken, Tragik und Mythos für Nietzsche zur Substanz des menschlichen Lebens gehöre, sei mit dem Sokratismus eine Lebensverneinung aufgekommen, die mit ihrem blutleeren Intellektualismus, ihrem unheroischen Nützlichkeitsglauben an den Fortschritt der Wissenschaften in den Nihilismus führen mußte, der nun zum Signum der Epochen geworden sei. Beides: Fortschritts- und Vernunftglaube gelten nun als das Ressentiment der Schlechtgeratenen und als sublime Rache an den Vornehmen. Sie sind Ausdruck einer décadence.

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Intellekt und Bewußtsein gelten fortan in der von Nietzsche inspirierten Lebensphilsophie (z.B. bei Ludwig Klages) als Verhängnis. Da das Leben und die Instinkte per se zutiefst amoralisch sind, gilt Moral in dieser Optik als lebensfeindlich, das Christentum als Ekel und Überdruß am Leben, das ein Jenseits erfunden hat, um das Diesseits zu verleumden. In alledem sieht Nietzsche einen „Willen zum Untergang“, ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Erschöpfung und Verarmung des Lebens.

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Wie prägend dieser Anti-Sokratismus Nietzsches für die Folgezeit geworden ist, mag man noch an einer Karikatur des „aufklärerischen Menschen“ ablesen, die sich zu Beginn der 30-er Jahre in einer Darstellung der „Deutschen Literatur der Gegenwart“ findet. Dort heißt es: „Sein Denken ist abstrakt, vergewaltigend, übermächtig; seine Empfindung ist materialistisch, grobsinnlich, mittelmäßig; er scheut alle Extreme der Phantasie, der Leidenschaft, des Blutes in seinem Inneren; er schreckt zurück vor allen Gebieten, in denen das Erhabene, Überwältigende, Vernichtende und Erhebende von Geist und Natur die Kleinheit des Menschen erdrückt; er wendet sich vom Kosmischen, Religiösen, Ekstatischen ab; er läßt die Poesie der Sterne, die Gefühlsgewalt des Heiligen, die Ekstase des Dichters an sich vorbeigehen… Sein Ziel ist: das Böse durch menschliche Moralität zu besiegen. Der Aufklärer ist der untragische Mensch, der Anti-Platoniker, der Systematiker, dem alles durch Denken Untertan ist“ (Werner Mahrholz, Deutsche Literatur der Gegenwart, Berlin 1930, S. 20). Auch Wilhelm Stapel (1882-1954), jungkonservativ-völkischer Publizist, hat in seiner Schrift „Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus“ (1932) eine Zivilisationskrankheit ausgemacht, die er „Gehirnethik“ nennt: „Das Wachstum des Intellekts geschieht auf Kosten der gesamtmenschlichen Substanz … der Instinkt wird dünn und unsicher… Aber der Intellekt wächst und sucht durch Berechnung … das quellende Gefühl, den Instinkt zu ersetzen. Während der Mensch immer mehr in das Reich des Intellekts hineinwächst, dorrt die Wurzel seiner Existenz ab. An die Stelle der unmittelbaren, unbewußten Reaktionen des Menschen … tritt die Gehirnethik“ (Der christliche Staatsmann, Hamburg 1932, S. 194f.). Schließlich hat ein Spezialist für „betriebliche Leistungserziehung“, G. Messarius, den Typ des Intellektuellen als ein Resultat der „Wesenszersetzung“ ausgemacht: „Ein langsam einsetzendes Auflösen der seelischen Gehalte erfolgt in der Regel beim Betroffenen völlig unbemerkt“ (126), woraus sich schließen läßt, daß man auch im Schlaf zum Intellektuellen werden könnte. Für solch „lytische Vorgänge“ ist freilich Rassenmischung die handfestere Erklärung: „das abstoßende Gehabe und der Lebensstil der Juden sind reine Ausprägungen einer vollendeten Lyse“ (126) (G. Messarius, Können und Charakter . Der Mensch in der Leistungserziehung, Leipzig 1944).

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Antibürgerliche Affekte und antisemitische Sentiments bilden unübersehbar entscheidende Komponenten des modernen Antiintellektualismus. Zur Charakterisierung ihrer Feindbilder „Liberaler“ und „Jude“ dient stets auch das Wort „Zersetzung“. Gemeint ist damit die Infragestellung jenes „Organismus“, als welchen das antiintellektualistische Weltbild sich dem Kosmos und die Gesellschaft vorzustellen pflegt. Der Topos „Zersetzung“ begleitet die Rhetorik des Antiintellektualismus von Anfang an. Er wird schließlich zur Kampfparole gegen alles, worin das NS-Regime den Feind sah: Bolschewismus, Freimaurerei, Individualismus, Judentum, Liberalismus, Parlamentarismus, Pazifismus, Römisches Recht und Universalismus.

Thomas Mann hat in seinem großen Nietzsche-Essay von 1947 diese perverse Rezeption wie folgt umschrieben: „Alles, was er in letzter Überreiztheit gegen Moral, Humanität, Mitleid, Christentum und für die schöne Ruchlosigkeit, den Krieg, das Böse gesagt hat, war leider geeignet, in der Schund- Ideologie des Faschismus seinen Platz zu finden“ (Schriften, 3. Band, Ffm. 1968, S. 41).

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Ein scheinbar harmloser Begriff enthält den Kern des Antiintellektualismus in der Weimarer Republik: der des „Systems“. Die Komposita Systempolitiker, -presse, -regierungen dienten dazu, das republikanische Verfassungswesen als geschichtlich überholte und „überwundene“ Epoche darzustellen, da das „System“ Weimar für etwas bloß rational Konstruiertes, planmäßig Geordnetes und Künstliches stehen sollte. Es galt als das absolute Gegenteil des völkischen Gemeinschafts- und Staatsverständnisses der Nationalsozialisten. Dem entspricht es, wenn Alfred Rosenberg im „Mythus des XX. Jahrhunderts“ den ganzen „blutlosen, intellektualistischen Schutthaufen rein schematischer Systeme“ fortgeräumt wissen will. Sein Kampf gegen die „dekadenten Hornbrillenwesen“ war begleitet von Attacken auf die Weimarer Republik, die ihm – hierin repräsentativ für die ganze NS-Bewegung – als „abstrakt, instinktlos, kalt, wurzellos und zersetzend“ galt. Schließlich war es Hitler selbst, der vor Verlegern und Journalisten im Jahre 1938 freimütig bekannte: „Wenn ich so die intellektuellen Schichten bei uns ansehe, leider, man braucht sie ja, sonst könnte man sie eines Tages, ja, ich weiß nicht, ausrotten oder so was“ (Zit. nach H. von Kotze/ H. Krausnick: Es spricht der Führer, Gütersloh 1966, S. 281).

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In der Rhetorik von Joseph Goebbels spielen bei seiner Version eines dezidierten Antiintellektualismus die Komposita mit „Asphalt“ eine große Rolle. Er spricht wiederholt von „Asphaltkultur“, „Asphaltmenschentum“, „Asphaltpresse“, „Asphaltdemokratie“ und „Asphaltintellektualismus“. Auch in dem 1936 erschienenen 1. Band von Meyers Lexikon finden sich gleich mehrere Eintragungen mit dem Stichwort Asphalt:

Asphaltkultur, die in den Nachkriegsjahren entstandene volksfremde Kultur. – Asphaltliteratur, Bez. für Werke wurzelloser Großstadtliteraten, vor 1933 Mode- und Verfallserscheinung zum Teil artfremder Herkunft.

Asphaltpresse, Abart der Großstadtpresse (sensationslüstern und gewissenlos), die auf den Asphaltstraßen und den Boulevards (Boulevardpresse) der Großstädte vorwiegend im Einzelverkauf marktschreierisch vertrieben wird, auch in ihrer inhaltlichen Gestaltung nur auf Sensationsbedürfnisse Rücksicht nimmt. Im nat.soz. Deutschland beseitigt.“ (Spalte 627)

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Die anläßlich der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 veröffentlichten 12 Thesen „Wider den undeutschen Geist“ sowie die beim Verbrennungsritual gerufenen Feuersprüche enthalten wiederholt Aufforderungen zur Überwindung des Intellektualismus:

„Wir fordern vom deutschen Studenten den Willen und die Fähigkeit zur Überwindung jüdischen Intellektualismus und der damit verbundenen liberalen Verfallserscheinungen im deutschen Geistesleben“ (These 10)

„Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung, für verantwortungsbewußte Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus …“ (Zit. nach Joseph Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich Reinbek 1966, S. 44f., 49f.).  Derartige Parolen bedürfen wohl kaum einer Interpretation. Sie symbolisieren exakt jene einst von Karl Kraus geprägte Kurzformel für den Faschismus: als „Aufstand der Phrase zur Tat“.

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Verfolgt man die Geschichte des asymmetrischen Kampfes der politischen Gewalten gegen die Intellektuellen, so stößt man auf eine merkwürdige Paradoxie: Man beginnt zu zweifeln an der scheinbaren und anscheinend „ewigen“ Ohnmacht des Geistes vor den Machthabern, sobald die Instrumente der Zensur in all ihren groben und sublimen Formen in den Blick kommen. Dann zeigt es sich, daß der zuweilen allzu berechtigten Furcht nonkonformer Intellektueller vor deren Zugriff aufseiten der Herrschenden eine tiefsitzende Angst vor der Macht des freien und unreglementierten Worts entspricht. Von den Tagen der Inquisition bis in die totalitären Systeme des 20. und 21. Jahrhunderts hinein war das gedruckte Wort nicht selten das Opfer von Autodafés; gleichwohl hat sich – bislang wenigstens – die Überlieferung von Gedächtnis und Erinnerung nicht unterkriegen lassen. Bücherverbrennungen galten in Wirklichkeit jener anamne dietischen Kultur, die ihrer Natur nach allen Herrschaftsformen mit Kritik und Skepsis begegnen: „Diese Angst vor dem Buch und seiner Wirkung ist die Angst vor dem unendlich großen Kontinent des kulturellen Gedächtnisses, ohne den keine erfüllte Gegenwart und keine menschliche Zukunft zu denken ist“ (Wolfgang Frühwald: Über die Angst vor dem Buch und die Erinnerung, in: Leviathan, H. 3 (2002), S. 309). Ob das Ende der Gutenberg-Galaxis, das gegenwärtig sich abzeichnet, in diesem Punkt an die Stelle gedruckter Überlieferung die tabula rasa eines gedächtnisarmen, ahistorisch vegetierenden Automaten, Repräsentant einer neuen, weithin technisch perfektionierten Barbarei, setzen kann und wird, steht dahin. In der gegenwärtigen Konkurrenz unterschiedlicher Speichermedien gibt es kaum eine Möglichkeit für begründete Vorhersagen. Wie so oft hängt wohl auch dieser kulturell bedeutsame Ausgang primär davon ab, ob die Fähigkeit zu kritisch-intellektueller Distanznahme zu den eher kommerziell fundierten technischen Novitäten tradierbar ist. Frühwald, derzeit Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, versteht sich seinerseits zu einem „sie wissen es nicht, aber sie tun es!“: „Jene Wissenschaftler, die sich heute autark wähnen in der Benutzung digital transportierter, aktuell-flüchtiger und der Speicherung angeblich nicht würdiger Informationen, wissen überhaupt nicht, welche Kulturrevolution sie damit anzetteln“ (a.a.O., S. 308).