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Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse

Von Siegfried Jäger. Dieser Beitrag ist in überarbeiteter Fassung erschienen in: Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider, Willy Viehöver (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Opladen: Leske + Budrich 2000
Vorbemerkung
Im Zentrum einer an Michel Foucaults Diskurstheorie orientierten Kritischen Diskursanalyse (KDA) stehen die Fragen, was (jeweils gültiges) Wissen überhaupt ist, wie jeweils gültiges Wissen zustandekommt, wie es weitergegeben wird, welche Funktion es für die Konstituierung von Subjekten und die Gestaltung von Gesellschaft hat und welche Auswirkungen dieses Wissen für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung hat. ((Zur Abgrenzung gegenüber anderen diskurstheoretischen Ansätzen vgl. Jäger 1996b. )) „Wissen“ meint hier alle Arten von Bewußtseinsinhalten bzw. von Bedeutungen, mit denen jeweils historische Menschen die sie umgebende Wirklichkeit deuten und gestalten. Dieses „Wissen“ beziehen die Menschen aus den jeweiligen diskursiven Zusammenhängen, in die sie hineingeboren sind und in die verstrickt sie während ihres gesamten Daseins leben. Diskursanalyse, erweitert zur Dispositivanalyse, zielt darauf ab, das (jeweils gültige) Wissen der Diskurse bzw. der Dispositive zu ermitteln, den konkret jeweiligen Zusammenhang von Wissen/Macht zu erkunden und einer Kritik zu unterziehen. Diskursanalyse bezieht sich sowohl auf Alltagswissen, das über Medien, alltägliche Kommunikation, Schule und Familie etc. vermittelt wird, wie auch auf dasjenige (jeweils gültige) Wissen, das durch die Wissenschaften produziert wird. Das gilt sowohl für die Sozialwissenschaften wie auch für die Naturwissenschaften.
Der Schwerpunkt meiner Ausführungen liegt im folgenden jedoch auf dem Wissen der Humanwissenschaften, wobei Transfers auf die Naturwissenschaften durchaus möglich wären, hier aber zurückgestellt werden.
Ich werde in diesem Beitrag erstens eine knappe Skizze des diskurstheoretisch/methodologischen Hintergrundes für eine Kritische Diskursanalyse entwerfen. ((Eine ausführliche Darstellung (mit Anwendungsbeispielen) enthält meine „Kritische Diskursanalyse“ (Jäger 1993), die 1999 in überarbeiteter und erweiterter Auflage erschienen ist (Jäger 1999). Die KDA ist Grundlage einer Reihe von Projekten, die seit 1990 im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) durchgeführt wurden; vgl. dazu etwa Jäger 1992, M. Jäger 1996, Cleve 1997, M. Jäger & S. Jäger & Ruth & Schulte-Holtey & Wichert 1997, Jäger & Kretschmer u.a. 1998, M. Jäger & Cleve & Ruth & Jäger 1998, u.a. )) In einem zweiten Schritt werde ich skizzieren, was ein Dispositiv ist, also das Zusammenspiel diskursiver Praxen (= Sprechen und Denken auf der Grundlage von Wissen), nichtdiskursiver Praxen (= Handeln auf der Grundlage von Wissen) und „Sichtbarkeiten“ bzw. „Vergegenständlichungen“ (von Wissen durch Handeln/Tätigkeit) diskutieren. Dispositive kann man sich insofern auch als eine Art „Gesamtkunstwerke“ vorstellen, die – vielfältig  miteinander verzahnt und verwoben – ein gesamtgesellschaftliches Dispositiv ausmachen.
1 Diskurstheorie
Den für eine kulturwissenschaftliche Orientierung von Diskursanalyse wohl fruchtbarsten Ansatz im Gefolge Michel Foucaults haben der Bochum/Dortmunder Literatur- und Kulturwissenschaftler Jürgen Link und sein Team entwickelt. Ihnen wie mir geht es vor allem um die Analyse aktueller Diskurse und ihrer Macht-Wirkung, um das Sichtbarmachen ihrer (sprachlichen und ikonographischen) Wirkungsmittel, insbesondere um die Kollektivsymbolik, die zur Vernetzung der verschiedenen Diskursstränge beiträgt, und insgesamt um die Funktion von Diskursen als herrschaftslegitimierenden und -sichernden Techniken in der bürgerlich-kapitalistischen modernen Industriegesellschaft. ((Vgl. dazu einführend Link 1982 ))
Die knappste Definition von Diskurs bei Link lautet: Diskurs ist „eine institutonell verfestigte Redeweise, insofern eine solche Redeweise schon Handeln bestimmt und verfestigt und also auch schon Macht ausübt.“ (Link 1983: 60).
Diese Definition von Diskurs kann weiter veranschaulicht werden, wenn man Diskurs „als Fluß von Wissen bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ begreift (vgl. Jäger 1993 und 1999), der individuelles und kollektives Handeln und Gestalten bestimmt, wodurch er Macht ausübt. Insofern kann man Diskurse auch als Materialitäten sui generis verstehen.
Damit ist zugleich gesagt, daß Diskurse nicht als Ausdruck gesellschaftlicher Praxis von Interesse sind, sondern weil sie bestimmten Zwecken dienen: Machtwirkungen auszuüben. Dies tun sie, weil sie institutionalisiert und geregelt sind, weil sie an Handlungen angekoppelt sind. ((„… der Begriff Macht (wird) gebraucht, der viele einzelne, definierbare und definierte Mechanismen abdeckt, die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren.“ (Foucault 1992, 32) ))
Die (herrschenden) Diskurse können kritisiert und problematisiert werden; dies geschieht, indem man sie analysiert, ihre Widersprüche und ihr Verschweigen bzw. die Grenzen der durch sie abgesteckten Sag- und Machbarkeitsfelder aufzeigt, die Mittel deutlich werden läßt, durch die die Akzeptanz nur zeitweilig gültiger Wahrheiten herbeigeführt werden soll – von angeblichen Wahrheiten also, die als rational, vernünftig oder gar als über allen Zweifel erhaben dargestellt werde.
Dabei muß sich der kritisierende Wissenschaftler darüber klar sein, daß er mit seiner Kritik nicht außerhalb der Diskurse steht, da er sonst sein Konzept Diskursanalyse selbst in Frage stellt. Er kann – neben anderen kritischen Aspekte, die Diskursanalyse bereits als solche enthält – sich auf Werte und Normen, Gesetze und Rechte berufen; er darf dabei aber niemals vergessen, daß auch diese diskursiv-historisch gegründet sind und daß sich seine eventuelle Parteinahme nicht auf Wahrheit berufen kann, sondern eine Position darstellt, die ebenfalls Resultat eines diskursiven Prozesses ist. Mit dieser Position kann er sich in die diskursiven Kämpfe hineinbegeben und seine Position verteidigen oder auch modifizieren.
Der bereits angesprochene Zusammenhang von Diskurs und Macht ist allerdings sehr komplex, denn: „Machtwirkungen übt eine diskursive Praxis in mehrfacher Hinsicht aus. Wenn eine diskursive Formation sich als ein begrenztes ‚positives‘ Feld von Aussagen-Häufungen beschreiben läßt“, so verteidigen Link/Link-Heer diese Kopplung, „so gilt umgekehrt, daß mögliche andere Aussagen, Fragestellungen, Blickrichtungen, Problematiken usw. dadurch ausgeschlossen sind. Solche, sich bereits notwendig aus der Struktur eines Spezialdiskurses ergebenden Ausschließungen (die ganz und gar nicht als manipulative Intentionen irgendeines Subjekts … mißdeutet werden dürfen!), können institutionell verstärkt werden.“ (Link/Link-Heer 1990: 90) Es gibt also auch so etwas wie Macht über die Diskurse, etwa in Gestalt leichten Zugangs zu den Medien, unbeschränkter Verfügung über Ressourcen etc.
Was Link/Link-Heer hier zu wissenschaftlichen Diskursen sagen, gilt m.E. jedoch für alle Diskurse, also z.B. auch für den Alltags-, den Erziehungs-, den Politiker- und Mediendiskurs.
Diskursanalyse erfaßt das jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite und in seinen Häufungen bzw. alle Aussagen, die in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit geäußert werden (können), aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird, etwa Verleugnungsstrategien, Relativierungsstrategien, Enttabuisierungsstrategien etc. Der Aufweis der Begrenzung oder Entgrenzung des Sagbaren stellt demnach einen weiteren kritischen Aspekt von Diskursanalyse dar.
Das Auftreten solcher Strategien verweist auf Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft noch nicht oder nicht mehr sagbar sind, da es besonderer „Tricks“ bedarf, wenn man sie doch äußern will, ohne negativ sanktioniert zu werden. Das Sagbarkeitsfeld kann durch direkte Verbote und Einschränkungen, Anspielungen, Implikate, explizite Tabuisierungen aber auch durch Konventionen, Verinnerlichungen, Bewußtseinsregulierungen etc. eingeengt oder auch zu überschreiten versucht werden. Der Diskurs als ganzer ist die regulierende Instanz; er formiert Bewußtsein.
Insofern als Diskurs als „Fluß von ‘Wissen’ bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ funktioniert, schafft er die Vorgaben für die Subjektbildung und die Strukturierung und Gestaltung von Gesellschaften.
Die verschiedenen Diskurse sind eng miteinander verflochten und miteinander verschränkt; sie bilden in dieser Verschränktheit ein „diskursives Gewimmel“, das zugleich im „Wuchern der Diskurse“ resultiert und das Diskursanalyse zu entwirren hat.
Ein wichtiges Bindemittel der Diskurse stellt die Kollektivsymbolik dar. Kollektivsymbole sind „kulturelle Stereotypen (häufig `Topoi‘ genannt), die kollektiv tradiert und benutzt werden.“ (Drews/Gerhard/Link 1985: 265)
Mit dem Vorrat an Kollektivsymbolen, die alle Mitglieder einer Gesellschaft kennen, steht das Repertoire an Bildern zur Verfügung, mit dem wir uns ein Gesamtbild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. der politischen Landschaft der Gesellschaft machen, mit dem wir diese deuten und – insbesondere durch die Medien – gedeutet bekommen. ((Vgl. dazu besonders Link 1982, Drews/Gerhard/Link 1985, Link/Link-Heer 1990, Becker/Gerhard/Link 1997.))
Die wichtigsten Verkettungsregeln, durch die dieser Zusammenhang hergestellt wird, sind Katachresen oder Bildbrüche. Diese funktionieren in der Weise, daß sie Zusammenhänge zwischen Aussagen und Erfahrungsbereichen stiften, Widersprüche überbrücken, Plausibilitäten und Akzeptanzen erzeugen etc. und die Macht der Diskurse verstärken. Im Beispiel: „Die Lokomotive des Fortschritts kann durch Fluten von Einwanderern gebremst werden, so daß unser Land ins Abseits gerät.“ Hier liegt ein sogenannter Bildbruch (Katachrese) vor, da die Symbole Lokomotive (= gemeint ist Fortschritt) und Fluten (= gemeint ist Bedrohung von außen) unterschiedlichen Bildspendebereichen entnommen sind, nämlich einmal dem Bereich Verkehr und zum anderen dem Bereich Natur. Die Analyse der Kollektivsymbolik inklusive Katachresen stellt demnach ein weiteres kritisches Moment der Diskursanalyse dar.
Zur Frage der Macht der Diskurse hat Foucault einmal gesagt:
„Es ist das Problem, das fast alle meine Bücher bestimmt: wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden?“ (Foucault 1983: 8)
Zur weiteren Verdeutlichung der Macht/Wissensproblematik ist es erforderlich, erstens, daß ich mich etwas genauer mit dem Verhältnis von Diskurs und gesellschaftlicher Wirklichkeit auseinandersetze, zum zweiten aber, daß ich mich – in Verbindung damit – genauer frage, wie in dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit Macht verankert ist, wer sie ausübt, über wen sie und wodurch sie ausgeübt wird usw.
Deutlich dürfte bereits geworden sein, daß sich in den Diskursen gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach widerspiegelt, sondern daß die Diskurse gegenüber der Wirklichkeit ein „Eigenleben“ führen, obwohl sie Wirklichkeit prägen und gestalten, ja, gesellschaftliche Wirklichkeit zuerst ermöglichen. Sie stellen selbst Materialitäten sui generis dar. Sie sind nicht etwa wesenhaft passive Medien einer In-Formation durch Realität und nicht Materialitäten zweiten Grades, nicht ‚weniger materiell‘ als die ‚echte‘ Realität. Diskurse sind vielmehr vollgültige Materialitäten ersten Grades unter den anderen. (Vgl. dazu Link 1992)
Das bedeutet auch, daß Diskurse Realität determinieren, natürlich immer nur über die dazwischentretenden tätigen Subjekte in ihren gesellschaftlichen Kontexten als (Co-)Produzenten und (Mit-)Agenten der Diskurse und der Veränderung von Wirklichkeit. Diese tätigen Subjekte vollziehen diskursive und nichtdiskursive Praxen. Sie können dies, weil sie als in die Diskurse Verstrickte über Wissen verfügen.
So gesehen, ist der Diskurs auch nicht auf verzerrte Wirklichkeitssicht oder notwendig falsche Ideologie zu reduzieren – wie dies beim Konzept „Ideologiekritik“ orthodox marxistischer Ansätze häufig zu beobachten ist. Er stellt eine eigene Wirklichkeit dar, die gegenüber der „wirklichen Wirklichkeit“ keineswegs nur Schall und Rauch, Verzerrung und Lüge ist, sondern eigene Materialität hat und sich aus den vergangenen und (anderen) aktuellen Diskursen „speist“.
Diese Charakterisierung der Diskurse als materiell bedeutet zugleich, daß Diskurstheorie eine strikt materialistische Theorie darstellt. Man kann Diskurse auch als gesellschaftliche Produktionsmittel auffassen. Sie sind also keineswegs „bloße Ideologie“; sie produzieren Subjekte und – vermittelt über diese, als „Bevölkerung“ gedacht – gesellschaftliche Wirklichkeiten. ((Vgl. dazu auch Link 1995, der die formierende, konstituierende Kraft der Diskurse unterstreicht und den Diskurs (mit Foucault) als „materielles Produktionsinstrument“ begreift, mit dem auf geregelte Weise (soziale) Gegenstände (wie Z.B `Wahnsinn`, `Sex`, `Normalität` usw.) wie auch die ihnen entsprechenden Subjektivitäten produziert werden. (ebd.: 744). ))
Es geht bei der Diskursanalyse folglich auch nicht (nur) um Deutungen von etwas bereits Vorhandenem, also nicht (nur) um die Analyse einer Bedeutungszuweisung post festum, sondern um die Analyse der Produktion von Wirklichkeit, die durch die Diskurse – vermittelt über die tätigen Menschen – geleistet wird.
Wer aber, einfach gefragt, macht die Diskurse? Welchen Status haben sie?
Das Individuum macht den Diskurs nicht, eher ist das Umgekehrte der Fall. Der Diskurs ist überindividuell. Alle Menschen stricken zwar am Diskurs mit, aber kein einzelner und keine einzelne Gruppe bestimmt den Diskurs oder hat genau das gewollt, was letztlich dabei herauskommt. In der Regel haben sich Diskurse als Resultate historischer Prozesse herausgebildet und verselbständigt. Sie transportieren ein Mehr an Wissen, als den einzelnen Subjekten bewußt ist. Will man also das Wissen einer Gesellschaft (z.B. zu bestimmten Themenkomplexen) ermitteln, ist seine Entstehungsgeschichte bzw. seine Genese zu rekonstruieren. Versuche dazu hat Foucault mehrfach angestellt, nicht nur mit Blick auf die Wissenschaften, denn er hat immer auch ihr „Umfeld“, die Institutionen, den Alltag (z.B. des Gefängnisses, des Krankenhauses) mit einbezogen.
Eine solche Herangehensweise mag manchem gegen den Strich gehen, der die Einzigartigkeit des Individuums vor Augen hat. Auch ist zu bedenken, daß es deshalb nicht leicht ist, diesen Gedanken nachzuvollziehen, weil wir gelernt haben, daß Sprache als solche Wirklichkeit nicht verändert, was ja auch richtig ist. In Gegnerschaft zu solchen idealistischen oder gar sprach-magischen Vorstellungen neigen wir aber vielleicht zu stark dazu, die Idee der Materialität der Diskurse zu solchen idealistischen Entwürfen zu rechnen. Wenn wir jedoch menschliches Sprechen (und menschliche Tätigkeit generell) als Tätigkeit im Rahmen gesellschaftlicher Tätigkeit begreifen, als eingebunden in den historischen Diskurs, nach dessen Maßgabe Gesellschaften ihre Praxis organisieren, und gesellschaftliche Wirklichkeit in Auseinandersetzung mit dem „Rohstoff“ der Wirklichkeit (Materie) entstanden und entstehend begreifen, dürfte sich die Vorstellung leichter einstellen, daß Diskurse ebenso Macht ausüben wie Macht durch das Einwirken mit Werkzeugen und Gegenständen auf Wirklichkeit ausgeübt wird, wobei man dieses Einwirken auch sofort als nicht-diskursive Praxis bezeichnen kann.
1.1 Diskurs, Wissen, Macht, Gesellschaft, Subjekt
Diskurse üben als „Träger“ von (jeweils gültigem) „Wissen“ Macht aus; sie sind selbst ein Machtfaktor, indem sie geeignet sind, Verhalten und (andere) Diskurse zu induzieren. Sie tragen damit zur Strukturierung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft bei.
Welche Rolle spielt in diesem diskursiven Zusammenspiel nun aber das Individuum bzw. das Subjekt? Foucault argumentiert hier völlig eindeutig: „Man muß sich vom konstituierenden Subjekt, vom Subjekt selbst befreien, d.h. zu einer Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag. Und genau das würde ich Genealogie nennen, d.h. eine Form der Geschichte, die von der Konstitution von Wissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt.“ (Foucault 1978b: 32)
Foucault bzw. seine Diskurstheorie leugnet nicht, wie ihm oft zum Vorwurf gemacht worden ist, das Subjekt. Er will zu einer Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang, im sozio-historischen Kontext, also in synchroner und diachroner Perspektive zu klären vermag. Das ist nicht gegen das Subjekt gerichtet, sondern allein gegen Subjektivismus und gegen Individualismus.
Das tätige Individuum ist also voll dabei, wenn es um die Realisierung von Machtbeziehungen (Praxis) geht. Es denkt, plant, konstruiert, interagiert und fabriziert. Und als solches hat es auch das Problem, zu bestehen, d.h. sich durchzusetzen, seinen Ort in der Gesellschaft zu finden. Es tut dies aber im Rahmen eines wuchernden Netzes diskursiver Beziehungen und Auseinandersetzungen, im Rahmen „lebendiger Diskurse“ insofern, als sie diese zum Leben bringen und sie, in diese verstrickt, leben und zu ihrer Veränderung beitragen.
Das Spektrum des Sagbaren und die Formen, in denen es auftritt, erfaßt Diskursanalyse vollständig in seiner qualitativen Bandbreite, so daß sie zu einem oder mehreren Diskurssträngen allgemeingültige Aussagen machen kann. ((Zum Problem der Vollständigkeit und damit zur Verallgemeinerbarkeit der Aussagen von Diskursanalysen s. weiter unten. )) Es treten jedoch dadurch quantitative Aspekte hinzu, daß auch Aussagen über Häufungen und Trends möglich sind. Diese können von Wichtigkeit sein, wenn es um die Feststellung z.B. thematischer Schwerpunkte innerhalb eines Diskursstrangs geht.
Ich fasse diesen ersten Teil in einer These zusammen:
Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewußtsein speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit.
2 Vom Diskurs zum Dispositiv
Da Wissen die Grundlage für Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit ist, bietet es sich an, nicht nur diskursive Praxen zu analysieren, sondern auch nichtdiskursive Praxen und sogenannte Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen sowie das Verhältnis dieser Elemente zueinander. Dieses Zusammenspiel nenne ich mit Foucault Dispositiv. Zur genaueren Erläuterung dieses  Zusammenspiels muß ich etwas weiter ausholen:
Wir Menschen, und nur wir jeweilig konkreten Menschen, weisen in Gegenwart und Geschichte und vorausplanend auch für die Zukunft der Wirklichkeit Bedeutung zu. Damit erschaffen wir Wirklichkeit in gewisser Weise – im Guten wie im Bösen. Damit ist selbstverständlich nicht die Welt der natürlichen Dinge gemeint, die materielle Seite der Wirklichkeit. Sie stellt nur den Rohstoff dar, den sich der gestaltende Mensch zu Nutze macht und den – oft in Absehung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit – die Naturwissenschaften erforschen. Selbst die Medizin betrachtet den Menschen, als wäre er ein biologisch-natürliches Ding.
Nicht die Wirklichkeit spiegelt sich im Bewußtsein, sondern das Bewußtsein bezieht sich auf die Wirklichkeit, und zwar insofern, als die Diskurse die Applikationsvorgaben bzw. das Wissen für die Gestaltung von Wirklichkeit bereitstellen und darüber hinaus die weiteren Realitätsvorgaben: Entzieht sich der Diskurs der „auf seinem Rücken“ geformten Wirklichkeit, genauer: entziehen sich die Menschen aus was für Gründen auch immer einem Diskurs, dessen Bedeutungs-Geber und -Zuweiser sie ja sind, wird der ihm entsprechende Wirklichkeitsbereich im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos und fällt in den Naturzustand zurück. Ändert sich das in ihm enthaltene Wissen, bekommt er andere Bedeutungen zugewiesen, wird er zu einem anderen Gegenstand, was etwa geschieht, wenn ein Bettler eine bedeutungslos gewordene Zentralbank als Wochenendhaus nutzt oder wenn ein Stahlwerk oder ein Atomkraftwerk in einen Freizeitpark umgewandelt wird. Hier findet dann Bedeutungs-Entzug statt, die dem betreffenden Gegenstand den angestammten Sinn-Boden unter den Füßen entzieht bzw. diesen modifiziert, indem es ihm eine oder mehrere andere Bedeutungen zuweist.
In Foucaults „Archäologie des Wissens“ heißt es, daß Diskurse „als Praktiken zu behandeln (sind), die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault 1988: 74) Gleichwohl sieht Foucault auch nicht-diskursive gesellschaftliche Praxen, die bei der Bildung von Objekten/Sichtbarkeiten eine Rolle spielen. Zugleich betont er die Wichtigkeit von „diskursiven Verhältnissen“. Er vermutet sie „irgendwie an der Grenze des Diskurses: sie bieten ihm (= dem Diskurs, S.J.) die Gegenstände, über die er (= der Diskurs, S.J.) reden kann, oder vielmehr … sie (= die diskursiven Verhältnisse, S.J.) bestimmen das Bündel von Beziehungen, die der Diskurs bewirken muß, um von diesen oder jenen Gegenständen reden, sie behandeln, sie benennen, sie analysieren, sie klassifizieren, sie erklären zu können.“ (1988, 70) Damit umkreist Foucault das Problem des Verhältnisses von Diskurs und Wirklichkeit, ohne es schon restlos zu lösen. Es bleibt hier unklar, was er eigentlich unter „Gegenständen“ versteht. Zu vermuten ist, daß damit keine „Sichtbarkeiten“ sondern eher Themen, Theorien, Aussagen gemeint sind, also rein diskursive „Gegenstände“.
Am schönsten wird dieses Umkreisen meines Erachtens sichtbar in seinem Versuch zu bestimmen, was er unter „Dispositiv“ versteht. In der Interview- und Vortragssammlung „Dispositive der Macht“ (Foucault 1978a) definiert er „Dispositiv“ kühn zunächst folgendermaßen:
„Was ich unter diesem Titel (nämlich unter Dispositiv, S.J.) festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, regelmentierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (ebd.: 119f.)
Foucault fährt differenzierend fort: “ … es gibt zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.“ (ebd.: 120) Er sagt ferner, er verstehe „unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.“ (ebd.) Und einige Seiten später sagt er dann, nachdem er in dieser Eingangsdefinition eindeutig zwischen diskursiv und nicht-diskursiv unterschieden hatte: „… für das, was ich mit dem Dispositiv will, ist es kaum von Bedeutung, zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht.“ (Foucault 1978a: 125)
Foucault ist hier in einer gewissen Verlegenheit. Die drei Psychoanalytiker, mit denen er sich hier unterhält, haben ihn in die Enge getrieben. Man merkt geradezu, wie ihn seine Gesprächspartner nerven. Er wird ungeduldig, geradezu unwirsch.
Das wird noch deutlicher spürbar, wenn er dann fortfährt: „Vergleicht man etwa das architektonische Programm der Ecole Militaire von Gabriel mit der Konstruktion der Ecole Militaire selbst: Was ist da diskursiv, was institutionell? Mich interessiert dabei nur, ob nicht das Gebäude dem Programm entspricht. Aber ich glaube nicht, daß es dafür von großer Bedeutung wäre, diese Abgrenzung vorzunehmen, alldieweil mein Problem kein linguistisches ist.“ (ebd.: 125)
Foucault befreit sich bzw. uns von einer Linguistik, die sich nicht auf Denken und Bewußtsein stützt; er ordnet die Sprache und damit auch die Linguistik dem Denken unter und macht sie damit im Grunde zu einer Abteilung der Kulturwissenschaften, deren Gegenstand die Bedingungen und Resultate menschlich-sinnlicher Tätigkeit sind – sinnlich deshalb, weil sie jeweils Denken und Bewußtsein zur Voraussetzung hat.
Foucault war nach seinen archäologischen Bemühungen, die Entwicklung des Wissens ganz materialistisch zu rekonstruieren, zu der Überzeugung gekommen, daß nicht die Rede/der Text/der Diskurs allein die Welt bewegt, und er fand oder besser: erfand das Dispositiv, um damit seine historische und aktuelle Wirklichkeit angemessener deuten zu können. Und bei dieser von ihm vorgenommenen Bestimmung von Dispositiv stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Diskurs und Dispositiv bzw. Diskurs und Wirklichkeit ganz intensiv.
Foucault sieht hier eindeutig ein Nebeneinander von Diskurs und Wirklichkeit bzw. Gegenständen; sie sind Elemente des Dispositivs, welches das Netz ist, das zwischen diesen Elementen aufgehängt ist bzw. sie verbindet. Foucault weiß aber nicht zu sagen, in welchem ganz konkreten bzw. um es noch weiter zuzuspitzen, in welchem empirischen Verhältnis Diskurse und Dinge bzw. Ereignisse/Wirklichkeit zueinander stehen. Ihn interessierte zwar die „Natur der Verbindung“, „die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann.“ Er sieht zwischen diesen Elementen, „ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die“ – wie er sagt – „ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.“ (1978a: 120) Er sieht zudem das Dispositiv als eine Art „Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegeben historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten.“ Und er erkennt: Damit habe das Dispositiv „eine vorwiegend strategische Funktion.“ (ebd.) Ein solcher Notstand könne etwa in der Resorption einer freigesetzten Volksmasse, die einer kapitalistischen Gesellschaft lästig werden mußte, bestehen etc.
Foucault will zeigen, „daß das, was ich Dispositive nenne, ein sehr viel allgemeinerer Fall der Episteme ist. Oder eher, daß die Episteme, im Unterschied zum Dispositiv im allgemeinen, das seinerseits diskursiv und nichtdiskursiv ist, und dessen Elemente sehr viel heterogener sind, ein spezifisch diskursives Dispositiv ist.“ (ebd.: 123)
Hier geht es also nicht nur um das gesagte und aufgeschriebene Wissen (Episteme), sondern auch um den ganzen Wissens-Apparat darum herum, durch den etwas durchgesetzt wird. Episteme sind danach nicht nur der diskursive Anteil im Wissenschaftsapparat, sondern Wissen ‚haust‘ auch im Handeln von Menschen und in den Gegenständen, die sie auf der Grundlage von Wissen produzieren. Was genau gemeint ist, ist ja schön in „Überwachen und Strafen“ illustriert, worauf ich hier nur verweisen will. (Foucault 1989)
Sichtbar wird hier aber: Foucault geht von einen Dualismus zwischen Diskurs und Wirklichkeit aus. Foucault sah nicht, daß die Diskurse und die Welt der Gegenständlichkeiten bzw. Wirklichkeiten substantiell miteinander vermittelt sind und nicht unabhängig voneinander existieren. Im Dispositiv sind unterschiedliche Elemente versammelt, die zwar miteinander verknüpft sind, wie er sagt, und diese Verknüpfung mache das Dispositiv erst aus. (Vgl. dazu auch Deleuze 1992 und Balke 1998)
Foucault sieht das Zustandekommen von Dispositiven offenbar so: Es tritt ein Notstand auf, ein vorhandenes Dispositiv wird prekär. Aufgrund dessen entsteht Handlungsbedarf, und der Sozius oder die hegemonialen Kräfte, die damit konfrontiert sind, sammeln die Elemente zusammen, die sie bekommen können, um diesem Notstand zu begegnen, also Reden, Menschen, Messer, Kanonen, Institutionen etc., um die entstandenen „Lecks“ – den Notstand – wieder abzudichten, wie Deleuze sagt. (Vgl. Deleuze 1992 und Balke 1998)
Was diese Elemente verknüpft ist nichts anderes, als daß sie einem gemeinsamen Zweck dienen, den momentanen oder permanenten Notstand abzuwehren. Ein wie auch immer geartetes „inneres Band“, das sie verknüpfen würde, wird im Foucaults Verständnis von Dispositiv jedoch ansonsten nicht sichtbar.
Doch dieses Band existiert in Form der menschlich-sinnlichen Tätigkeit oder Arbeit, die Subjekt und Objekt, die sozialen Welten und die gegenständlichen Wirklichkeiten miteinander vermittelt, also durch nichtdiskursive Praxen, die in Foucaults Dispositiv-Definition zumindest nicht explizit vorkommen. Indem ich hier auf die sinnliche Tätigkeit rekurriere, ziehe ich mein zweites theoretisches Bein nach: die sich auf Marx berufende und von Wygotzki und besonders A.N. Leontjew entwickelte Tätigkeitstheorie, die ich für den hier bedeutsamen Zusammenhang im Kern illustrieren möchte. ((Der Bezug Leontjews auf Marx wird bereits deutlich, wenn man sich noch einmal die erste Feuerbachthese vergegenwärtigt, in der Marx einfordert, „daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit (nicht nur) unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; (sondern) als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, … subjektiv.“ (MEW 3: 5) )) Dabei ist es jedoch notwendig, diesen im Kern ideologiekritischen Ansatz auf diskurstheoretische Füße zu stellen.
Wie bereits gesagt, sind wir Menschen offenbar generell in der Lage, „Dingen“ Bedeutungen zuzuweisen; mit anderen Worten, die Wirklichkeit für uns bedeutend zu machen; mehr noch, indem wir Dingen Bedeutungen zuweisen, machen wir sie erst für uns zu Dingen. Ich kann z.B. einem Brett, das ich im Wald finde, die Bedeutung Tisch zuweisen und dann darauf mein Brot schneiden und meinen Becher darauf stellen. Ein Ding, dem ich keine Bedeutung zuweise, ist für mich kein Ding; ja, es ist für mich völlig diffus, unsichtbar oder sogar nicht existent; ich sehe es nicht nicht einmal, weil ich es übersehe. Ich sehe den Vogel nicht, den der Förster sieht (Förstersyndrom). Ich sehe vielleicht einen roten Fleck. Und was sage ich dazu, wenn ich ihn sehe: Das ist ein roter Fleck. Und in der Tat: das ist für mich die Bedeutung des roten Flecks, daß ich ihm die Bedeutung roter Fleck zuweisen kann. Ob er eine Blume ist, ein Vogel oder der Haarschopf von Lothar Matthäus, der hier spazieren geht, weil er sich im letzten Bundesligaspiel verletzt hat und deshalb heute nicht trainieren kann, das ist für mich nicht sichtbar, nicht gegeben, außerhalb meiner Reichweite. Natürlich kann mir ein Freund sagen, sieh mal, das ist doch der Haarschopf von Lothar Matthäus, und der ist Deutscher Fußballmeister. Und dann kann ich sagen: ja, o.k., den kenne ich; oder auch: nein, das war sicher nur ein Vogel oder eine Blume.
Damit will ich sagen: Alle bedeutende Wirklichkeit ist deshalb für uns vorhanden, weil wir sie bedeutend machen, ((Jurt referiert Castoriadis. Für ihn seien „Die gesellschaftlichen Dinge … das, was sie sind, nur aufgrund von Bedeutungen.“ (Jurt 1999: 11) )) oder auch weil sie von unseren Vorfahren oder unseren Nachbarn Bedeutung erhalten, zugewiesen bekommen hat, die für uns noch wichtig ist. Das ist wie König Midas mit seinem Gold: Alles was er anfaßte, wurde zu Gold. So ist alles, dem wir Bedeutung zuweisen, für uns auf eine bestimmte Weise wirklich, weil und wenn und wie es für uns bedeutend ist.
Elegant drückte Ernesto Laclau diesen Zusammenhang aus, als er schrieb: „Unter dem ‘Diskursiven’ verstehe ich nichts, was sich im engen Sinne auf Texte bezieht, sondern das Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet. Hier geht es nicht darum, das Diskursive als eine Ebene oder eine Dimension des Sozialen aufzufassen, sondern als gleichbedeutend mit dem Sozialen als solchem … Folglich steht nicht das Nicht-Diskursive dem Diskursiven gegenüber, als handelte es sich um zwei verschiedene Ebenen, denn es gibt nichts Gesellschaftliches, das außerhalb des Diskursiven bestimmt ist. Die Geschichte und die Gesellschaft sind also ein unabgeschlossener Text.“ (Laclau 1981: 176)
Es stellt sich aber die Frage: Warum, wann und unter welchen Bedingungen und wie weise ich den „Dingen“ welche Bedeutung zu, wie also die „Lücke“ zwischen Diskurs und Wirklichkeit geschlossen wird? Mit Leontjews Tätigkeitstheorie geschieht dies dann, wenn ich aus einem bestimmten Bedürfnis ein Motiv ableite und infolgedessen ein bestimmtes Ziel zu erreichen versuche, wozu man Handlungen und Operationen und Rohmaterial verwendet,  oder anders: indem man arbeitet. Die so erschaffenen Produkte können Gebrauchsgegenstände sein, aber auch neue Gedanken und Pläne, aus denen wiederum neue sinnliche Tätigkeiten erwachsen können mit neuen Produkten usw. usw. Der Psychologe Foucault kannte die materialistisch-psychologische Tätigkeitstheorie der frühen 30er Jahre sonderbarerweise nicht oder er lehnte sie möglicherweise ab, da sie ihm zu subjektbezogen erschien. Interessant ist dieser Ansatz jedoch, weil diese Theorie die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, Gesellschaft und objektiver Wirklichkeit durch die sinnliche Tätigkeit thematisiert. Er übersah, daß zur Wirklichkeit auch die Folgen bzw. „Materialisationen durch Arbeit“ vergangener Rede bzw. vorangegangener Diskurse gehören, also die konkreten Vergegenständlichungen von Gedankenkomplexen. Diese werden von den tätigen Menschen in ihren nichtdiskursiven Praxen umgesetzt, mittels derer sie die Häuser und Bänke und auch Banken bauten und einrichteten, und die im übrigen – wie gezeigt – wiederum nur solange Bestand haben, wie sie in Diskurse eingebettet sind und bleiben. Die Institution Bank etwa als Teil des Kapitaldispositivs hört auf, diese Funktion wahrzunehmen, wenn sie nicht mehr diskursiv gestützt ist: sie wird bedeutungslos, zu nichts reduziert außer zu rein „natürlicher“ Materie (die allerdings, wenn man sie so benennt, bereits wieder bedeutungsvoll wird) oder zu anderer Gegenständlichkeit „umdiskursiviert“, also einer anderen Bedeutung zugeführt. In den Banken wohnen dann etwa die Bettler und machen sie zu Asylen. ((] Foucault spricht in der „Archäologie des Wissens“ von Beziehungen, die im Gegenstand (selbst) nicht präsent sind. Ich meine, das sind die Diskurse, die die Gegenstände gleichsam von außen, durch den bedeutungsvollen Bezug der Menschen auf sie am Leben halten. (Foucault 1988: 68) ))
Das sieht auch Foucault und schreibt: „nicht die Gegenstände bleiben konstant, noch der Bereich, den sie bilden, und nicht einmal ihr Punkt des Auftauchens oder ihre Charakterisierungsweise, sondern das Inbeziehungsetzen der Oberflächen, wo sie erscheinen, sich abgrenzen, analysiert werden und sich spezifizieren können.“ (1988: 71)
Im Klartext: Ändert sich der Diskurs, ändert der Gegenstand nicht nur seine Bedeutung, sondern er wird quasi zu einem anderen Gegenstand, er verliert seine bisherige Identität.
Das kann als Bruch erfolgen, aber auch als ein sich lang hinziehender Prozeß, in dem sich meist unmerklich, aber letztlich doch gründlich alles ändert.
Vehement sträubt sich Foucault dagegen, wie er sagt, die „Gegenstände ohne Beziehung zum Grund der Dinge (zu) definieren.“ (ebd.: 72) Und er sagt wenig später, daß es ihm darauf ankomme, Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (ebd.: 74)
Doch an dieser Stelle kommt er m.E. deshalb nicht weiter, weil er die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, Gesellschaft und Diskurs nicht als über Arbeit/Tätigkeit bzw. nichtdiskursive Praxen vollzogen begreift. Die diskursiven Praxen bleiben für ihn doch verbal, streng von den nicht-diskursiven Praxen getrennt, und er bleibt der Trennung zwischen geistiger Tätigkeit und (ungeistiger?) körperlicher Arbeit verhaftet, in dieser Hinsicht eben auch ein Kind seiner Zeit bzw. seiner Herkunft, in der die Bürger die Kopfarbeit verabsolutierten und die Handarbeit für völlig ungeistig hielten. Er weiß zwar, daß die Zeichen zu mehr dienen als zur Bezeichnung der Sachen, und er sieht: „Dieses mehr (sic!) macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache.“ (Foucault 1988: 74) Und dieses Mehr möchte er ans Licht bringen und beschreiben (ebd.) – was ihm allerdings m.E. nicht restlos gelingt. Dieses Mehr ist ihm nicht wirklich greifbar. M.E. handelt es sich um das Wissen, das der Umsetzung von sonstigem und verbal zu artikulierendem Wissen in Gegenstände dient: Wissen über Statik, Materialbeschaffenheit, Werkzeugwissen, Routinewissen, das als abgestorbene geistige Handlungen in jede Arbeit einfließt, aber verbal nicht oder doch nur selten artikuliert wird und vielfach vielleicht auch nicht artikulierbar ist. Ich denke hier z.B. an das Wissen eines Schmelzers am Hochofen, der sieht, wann der Stahl fertig ist oder welche Zutat ihm noch fehlt, aber nicht sagen kann, wieso das der Fall ist. In gewisser Weise handelt es sich hierbei um verselbständigtes Wissen.
Man könnte also sagen: die Wirklichkeit ist bedeutungsvoll, sie existiert in der Form, in der sie existiert nur insofern, als ihr von den Menschen, die alle in die (sozio-historischen) Diskurse verstrickt und durch diese konstituiert sind, Bedeutung zugewiesen worden ist und weiter zugewiesen wird. Ist letzteres nicht mehr der Fall, ändern sich die Gegenstände, sie ändern oder verlieren auch ihre Bedeutung. Sie läßt sich dann allenfalls nachträglich rekonstruieren – als ehemalige Bedeutung, die sich mit anderen Bedeutungen verschränkt hat oder die aufgehört hat, am Leben zu sein. Selbst wenn man den Sternenhimmel betrachtet und darin bestimmte Sternbilder sieht, so ist dies die Folge eines Diskurses. Man sieht diese Sternbilder nur, weil man gelernt hat, sie zu sehen und möglicherweise zu vermuten gelernt hat, daß es irgendwo einen Gott gibt oder auch keinen.
Bedeutungszuweisung ist nun aber nicht unverbindliche symbolische Handlung, sondern bedeutet Belebung des Vorgefundenen, Neu-Gestaltung und Veränderung. Betrachtet man unter dieser Voraussetzung etwa die mit der Darstellung von Einwanderern gern verwendete Kollektivsymbolik, dann wird man einsehen: die Ausländer werden von vielen Menschen, die gelernt haben, entsprechende Bedeutungszuweisungen vorzunehmen, wirklich als Fluten empfunden, die man abwehren muß, gegen die man Dämme errichten muß, oder gar als Läuse und Schweine; die man zerquetschen oder schlachten darf.
Bernhard Waldenfels (Waldenfels 1991) bestätigt im übrigen die Kritik an Foucault, die durch diesen selbst inspiriert ist, in manchen Punkten, wenn er schreibt: Es „ist unklar, wie (bei Foucault, S.J.) die Grenze zwischen diskursiven und nicht diskursiven Praktiken gezogen und wie sie überbrückt wird, ja, es bleibt unklar, ob sie überhaupt gezogen werden muß. Ich denke, Foucault hat sich selber in eine gewisse Sackgasse manövriert, indem er die Ordnungsformation der Geschichte in seiner Theorie zunächst als Wissensordnungen (Epistemai), dann als Redeordnungen (Discours) konzipert hat, anstatt von einer Ordnung auszugehen, die sich auf die verschiedenen Verhaltensregister des Menschen verteilt, auf sein Reden und Tun (!), aber auch auf seinen Blick, auf seine Leibessitten, seine erotischen Beziehungen, seine technischen Hantierungen, seine ökonomischen und politischen Entscheidungen, seine künstlerischen und religiösen Ausdrucksformen und anderes mehr. Es ist nicht einzusehen, warum irgendein Bereich von der Funktionalität verschont sein soll, die Foucault einseitig von der Aussage her entwickelt.“ (Waldenfels 1991: 291) Und Waldenfels merkt zusätzlich an, daß Foucault an manchen Stellen selbst diese Grenzen überschritten hat, und fährt fort: „… in der Archäologie des Wissens (wird) der Diskurs des Malers (erwähnt), dessen ‘Sagen’ sich wortlos vollzieht. Erwähnt wird der politische Diskurs, der sich mit den Äußerungsformen der Politik befaßt, etwa mit der Funktion des Revolutionären, das sich weder auf eine revolutionäre Lage noch auf ein Revolutionsbewußtsein zurückführen läßt. …. Foucault (hat) es vorgezogen, auch hier zu basteln …“(ebd.: 291f.)
Das sollte uns ermutigen, mit Foucaults Werkzeugkiste unter dem Arm, in der sich theoretische und praktische Instrumente befinden, weiterzubasteln und einige seiner Ideen weiterzudenken oder auch erst zu Ende zu denken. Das habe ich in diesem Text versucht, erstens indem ich den bei Foucault zu stark im Verbalen verfangenen Diskursbegriff, der auch durch den des Dispositivs nicht ersetzt wird, sondern ihm einverleibt wird, eine Stufe „zurückverlagert“ habe – nämlich in den Ort des menschlichen Denkens und Wissens hinein, ins Bewußtsein. Dort befinden sich die Denkinhalte (inklusive Affekte, Sehweisen etc.), die die Basis für die Gestaltung der Wirklichkeit durch Arbeit liefern. Damit habe ich zweitens die Tätigkeitstheorie für die Diskurstheorie fruchtbar gemacht, eine Theorie, die darauf verweist, wie die Subjekte und die Gegenstände der Wirklichkeit untereinander und miteinander vermittelt sind. Foucault hat in erster Linie den Diskurs gesehen, der irgendwie mit der Wirklichkeit, wodurch er auch gelegentlich in die Nähe konstruktivistischen Denkens gerät, vermittelt ist. In Auseinandersetzung mit Leontjew habe ich das Subjekt als dasjenige Bindeglied bestimmen können, das die Diskurse mit der Wirklichkeit in Verbindung bringt. Das tun die Subjekte in der Summe ihrer Tätigkeiten, die von keinem einzelnen und von keiner Gruppe so geplant sind, wie sie dann letztlich wirksam werden. Es ist dennoch menschliches Bewußt- und Körper(power)sein (Krafthaben), das hier wirksam wird und gestaltet. Und alles, was menschliche Bewußtsein ist, ist diskursiv, also durch Wissen, konstituiert. Die Subjekte sind es im übrigen auch, die verselbständigtes Wissen immer wieder ins Spiel bringen. Auch dieses Wissen wird tradiert in den diskursiven und nicht-diskursiven Praxen und Sichtbarkeiten, und es ist im Prinzip rekonstruierbar, einholbar.
Die hiermit andiskutierte Problemlage möchte ich nun knapp zusammenfassen und auf den Punkt bringen:
Ich habe den Eindruck, daß die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Dispositivs mit der mangelnden Bestimmung der Vermittlung von Diskurs (Sagbarem/Gesagten), nicht-diskursiven Praxen (Tätigkeiten) und Sichtbarkeiten (Produkten/Gegenständen) zu tun haben. Wenn ich mit Leontjew u.a. diese Sichtbarkeiten als Vergegenständlichungen/Tätigkeiten von Wissen (Diskurs) begreife und die nicht-diskursiven Praxen als tätiges Umsetzen von Wissen, ist dieser Zusammenhang hergestellt, und das könnte wahrscheinlich viele Probleme lösen.
Die Soziologin Hannelore Bublitz diskutiert dieses Problem ausführlich in ihrem kürzlich erschienen Buch über „Foucaults Archäologie des Unbewußten“ (Bublitz 1999 82-115), wobei sie insbesondere auch die Funktion der Dispositivnetze für die moderne Subjektbildung unterstreicht. Sie konstatiert: „Obwohl Foucault also einerseits Nichtdiskursives dem Diskursiven … gegenüberstellt, vertritt er die These, daß es ‘keinen Gegensatz zwischen dem, was getan, und dem, was gesagt  wird’ gibt.“ (Foucault 1976: 118) Er gehe vielmehr davon aus, „daß die gesamte ´zivilisierte´ abendländische Gesellschaft, jenes ‘komplexe Netz aus unterschiedlichen Elementen – Mauern, Raum, Institutionen, Regeln, Diskursen’ als ‘Fabrik zur Herstellung unterworfener Subjekte’ erscheint.“ ( Bublitz 1999: 90)
Zu beantworten bleibt die Frage, ob und wie man Diskurse und Dispositive überhaupt analysieren kann.
3 Die Methode der Diskurs- und Dispositivanalyse
Die theoretische Skizze der Diskurs- und Dispositivtheorie bildet auch die allgemeine theoretische Grundlage der von mir im folgenden vorgeschlagenen Analysemethode. Diese bedient sich auch linguistischer Instrumente (Bildlichkeit, Wortschatz, Pronominalstruktur, Argumentationsweise etc.), mit deren Hilfe den diskreteren Wirkungsmitteln von Texten als Elementen von Diskursen nachgegangen werden kann. Ich verzichte hier aber auf eine detaillierte Darstellung des (im engeren Sinne) linguistischen Instrumentariums, da man dieses, behutsam und gezielt auswählend, guten Stilistiken bzw. Grammatiken etc. entnehmen kann. ((Linguistisches Instrumentarium im engeren Sinne meint hier: Grammatische und stilistische Feinheiten, die für die Analyse durchaus wichtig sein können, aber nicht unbedingt müssen.)) Das linguistische Instrumentarium stellt gleichsam nur ein Fach aus der diskursanalytischen „Werkzeugkiste“ dar, das je nach Beschaffenheit des zu untersuchenden Gegenstandes mit sehr unterschiedlichen Instrumenten angefüllt werden kann. Es gibt allerdings so etwas wie ein Standardrepertoire, das ich im weiteren Verlauf meiner Ausführungen auch beschreiben werde. Der Nachdruck liegt im folgenden aber auf tätigkeits- und diskurstheoretischen Prinzipien.
3. 1 Die Struktur des Diskurses
Diskurse bzw. „soziale Wissensflüsse durch die Zeit“ stellen in ihrer Gesamtheit ein riesiges und komplexes „Gewimmel“ dar.
Zunächst stellt sich also die Frage, wie Diskurse trotz ihres „großen Wucherns“ und ihrer Verflochtenheit überhaupt analysiert werden können. Dazu mache ich die folgenden terminologisch/pragmatischen Vorschläge, die dazu geeignet sind, die prinzipielle Struktur von Diskursen durchschaubarer und infolgedessen erst eigentlich analysierbar werden zu lassen:
Spezialdiskurse und Interdiskurs
Grundsätzlich ist zwischen Spezialdiskursen (der Wissenschaften(en)) und dem Interdiskurs zu unterscheiden, wobei alle nicht-wissenschaftlichen Diskurse als Bestandteile des Interdiskurses aufgefaßt werden. Zugleich fließen ständig Elemente der wissenschaftlichen Diskurse (Spezialdiskurse) in den Interdiskurs ein.
Zur Ermittlung der Struktur von Diskursen schlage ich die folgenden Operationalisierungshilfen vor:
Diskursstränge
Im gesellschaftlichen Gesamtdiskurs tauchen die verschiedensten Themen auf. Thematisch einheitliche Diskursverläufe bezeichne ich als Diskursstränge.
Jeder Diskursstrang hat eine synchrone und eine diachrone Dimension. Ein synchroner Schnitt durch einen Diskursstrang hat eine gewisse qualitative (endliche) Bandbreite. ((Das damit angesprochene Problem einer vollständigen Erfassung eines Diskursstrangs werde ich weiter unten diskutieren. Es ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil es dabei um die Aussagefähigkeit und allgemeine Gültigkeit einer Diskursanalyse geht.)) Ein solcher Schnitt ermittelt, was zu einem bestimmten gegenwärtigen oder früheren Zeitpunkt bzw. jeweilige Gegenwarten in seiner gesamten Bandbreite „gesagt“ wurde bzw. sagbar ist bzw. war.
Diskursfragmente
Jeder Diskursstrang setzt sich aus einer Fülle von Elementen zusammen, die man traditionell auch als Texte bezeichnet. Ich ziehe statt des Terminus Text den des Diskursfragments vor, da Texte mehre Themen ansprechen können und damit mehrere Diskursfragmente enthalten (können). Als Diskursfragment bezeichne ich daher einen Text oder einen Textteil, der ein bestimmtes Thema behandelt, z.B. das Thema Ausländer/Ausländerangelegenheiten (im weitesten Sinne). Umgekehrt gesagt: Diskursfragmente verbinden sich zu Diskurssträngen.
Diskursstrang-Verschränkungen
Zu beachten ist also, daß ein Text thematische Bezüge zu verschiedenen Diskurssträngen enthalten kann und in der Regel auch enthält. Mit anderen Worten: In einem Text können verschiedene Diskursfragmente enthalten sein; diese treten also in aller Regel von vornherein bereits in verschränkter Form auf. Eine solche Diskurs(strang)verschränkung liegt vor, wenn ein Text klar verschiedene Themen anspricht, aber auch, wenn nur ein Hauptthema angesprochen ist, bei dem aber Bezüge zu anderen Themen vorgenommen werden. So kann ein Kommentar zwei Themen behandeln, die nichts miteinander zu tun haben bzw. zu haben scheinen. In diesem Fall liegen hier in einem Text zwei verschiedene, aber miteinander verschränkte Diskursfragmente vor. Andererseits kann aber ein thematisch einheitlicher Text (= ein Diskursfragment) auf andere Themen mehr oder minder lose Bezug nehmen, das behandelte Thema mit einem oder mehreren anderen gleichsam verknoten. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn in einem Text zum Thema Einwanderung auf den ökonomischen Diskursstrang verwiesen wird oder auf den Frauendiskurs etc. So könnte ein Kommentar etwa enden: „Und im übrigen kostet Integration Geld.“ Oder: „Zu bedenken ist auch, daß bei den X. das Patriarchat noch eine ganz andere Rolle spielt als bei uns.“ In diesen Fällen könnte man von diskursiven Knoten sprechen, durch die u.a. die Diskursstränge miteinander vernetzt und verknotet werden. Solche Verknotungen kann man daher auch als eine leichte Form der Verschränkung auffassen.
Diskursive Ereignisse und diskursiver Kontext
Alle Ereignisse haben diskursive Wurzeln; m.a.W. sie lassen sich auf bestimmte diskursive Konstellationen zurückführen, deren Vergegenständlichungen sie darstellen. Als diskursive Ereignisse sind jedoch nur solche Ereignisse zu fassen, die politisch, und das heißt in aller Regel auch durch die Medien, besonders herausgestellt werden und als solche Ereignisse die Richtung und die Qualität des Diskursstrangs, zu dem sie gehören, mehr oder minder stark beeinflussen. Im Beispiel: Der Atom-Gau von Harrisbourg war ähnlich folgenschwer wie der von Tschernobyl. Während ersterer aber medial jahrelang unter der Decke gehalten wurde, wurde letzterer zu einem medial-diskursiven Großereignis und beeinflußte als solches die gesamte Weltpolitik. Ob ein Ereignis, etwa ein zu erwartender schwerer Chemie-Unfall, zu einem diskursiven Ereignis wird oder nicht, das hängt von jeweiligen politischen Dominanzen und Konjunkturen ab. Diskursanalysen können ermitteln, ob solche zu erwartenden Ereignisse zu diskursiven Ereignissen werden oder nicht. Werden sie es, beeinflussen sie die weiteren Diskursverläufe erheblich: Tschernobyl hat in Deutschland zu einer sich ändernden Atom-Politik beigetragen, die – wenn auch zögerlich – zu einem Ausstieg aus der Atomenergie führen wird. Ein grüner Gegen-Diskurs, der schon längst im Gange war, hätte dies allein kaum bewerkstelligen können. Zugleich ist zu beobachten, daß ein diskursives Ereignis wie das beschriebene den gesamten Diskurs über neue Technologien beeinflussen kann, etwa indem es den Blick auf die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Energiequellen lenkt.
Ein weiteres Beispiel: Der Wahlerfolg der FPÖ im Jahre 1999 erweckte große mediale Aufmerksamkeit. Die Regierungsbeteiligung der FPÖ (und damit indirekt: Jörg Haiders) erhielt jedoch ein bei weitem sehr viel größeres und weltweites Echo und wurde damit zu einem diskursiven Großereignis, das monatelang die europäische und US-amerikanische Presse in Atem hielt. Auch hier war ein Einfluß auf andere Diskurse zu beobachten: auf rechtsextreme Diskurse in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern.
Die Ermittlung diskursiver Ereignisse kann für die Analyse von Diskurssträngen auch deshalb sehr wichtig sein, weil ihre Nachzeichnung den diskursiven Kontext markiert bzw. konturiert, auf den sich ein aktueller Diskursstrang bezieht. So kann etwa die Analyse eines synchronen Schnitts durch einen Diskursstrang dadurch seine historische Rückbindung finden, daß man diesen synchronen Schnitt an eine Art Chronik der diskursiven Ereignisse zurückbindet, die thematisch zu diesem Diskursstrang gehören. Solche Rückbindungen sind für die Analyse und die Interpretation aktueller Schnitte durch Diskursstränge ausgesprochen hilfreich. ((Ein solcher Versuch liegt vor in Caborn 1999. ))
Diskursebenen
Nun operieren die jeweiligen Diskursstränge auf verschiedenen diskursiven Ebenen (Wissenschaft(en), Politik, Medien, Erziehung, Alltag, Geschäftsleben, Verwaltung etc.). Man könnte solche Diskursebenen auch als die sozialen Orte bezeichnen, von denen aus jeweils „gesprochen“ wird. Dabei ist zu beobachten, daß diese Diskursebenen aufeinander einwirken, sich aufeinander beziehen, einander nutzen etc. So können etwa auf der Medien-Ebene Diskursfragmente eines wissenschaftlichen Spezialdiskurses oder auch des Politikerdiskurses aufgenommen werden. So ist auch zu beobachten, daß etwa die Medien  den Alltagsdiskurs  aufnehmen, bündeln, zuspitzen etc. können oder auch – vor allem in der Sensationspresse – á la BILD oder Kronenzeitung – sensationsheischend und oft populistisch aufdonnern. Auf diese Weise regulieren die Medien im übrigen das Alltagsdenken und nehmen erheblichen Einfluß auf die jeweils machbare und gemachte Politik. Man denke etwa an das Image Jörg Haiders, das ohne Zutun einer den Rechtspopulismus normalisierenden Medienberichterstattung so kaum zustandegekommen wäre.
Zu beachten ist darüber hinaus, daß die einzelnen Diskursebenen in sich stark verflochten sind, dergestalt, daß z.B. auch renommierte Leitmedien Informationen und Inhalte aller Art übernehmen, die bereits in anderen Medien aufgetaucht sind. Das berechtigt umso mehr, von dem Mediendiskurs zu sprechen, der insgesamt, insbesondere was die in einer Gresellschaft dominierenden Medien betrifft, in wesentlichen Aspekten als einheitlich betrachtet werden kann, was nicht ausschließt, daß dabei unterschiedliche Diskurspositionen mehr oder minder stark zur Geltung kommen.
Diskursposition
Die Kategorie der Diskursposition, mit der ein spezifischer ideologischer Standort einer Person oder eines Mediums gemeint ist, erweist sich als sehr hilfreich. Margret Jäger definiert die Kategorie der Diskursposition wie folgt: „Unter einer Diskursposition verstehe ich den (ideologischen, S.J.) Ort, von dem aus eine Beteiligung am Diskurs und seine Bewertung für den Einzelnen und die Einzelne bzw. für Gruppen und Institutionen erfolgt. Sie produziert und reproduziert die besonderen diskursiven Verstrickungen, die sich aus den bisher durchlebten und aktuellen Lebenslagen der Diskursbeteiligten speisen. Die Diskursposition ist also das Resultat der Verstricktheiten in diverse Diskurse, denen das Individuum ausgesetzt war und die es im Verlauf seines Lebens zu einer bestimmten ideologischen bzw. weltanschaulichen Position (…) verarbeitet hat.“ (M. Jäger 1996: 47)
Was für die Subjekte gilt, dies gilt entsprechend für Medien, ja für ganze Diskursstränge. Auch sie bilden bestimmte Diskurspositionen aus, der – mehr oder minder geschlossen – die gesamte Berichterstattung prägt. Zu beachten ist: „Dieses Diskurssystem können Gruppen und Individuen durchaus unterschiedlich bewerten. Z.B. kann der hegemoniale Diskurs das Symbol des Flugzeugs positiv besetzen, während der antihegemoniale Diskurs Flugzeuge ablehnt und für Bäume, Fahrräder etc. schwärmt. Wichtig … ist dabei aber, daß sich abweichende Diskurspositionen auf ‚die gleiche diskursive grundstrukur‘ (Link 1986a) beziehen.“ (M. Jäger 1996: 47)
Solche Diskurspositionen lassen sich im Grunde erst als Resultat von Diskursanalysen ermitteln. Es kann allerdings beobachtet werden, daß sie in grober Kontur zum allgemeinen Wissen einer Bevölkerung gehören. Den Selbstbeschreibungen von Zeitschriften, etwa als „unabhängig“ oder „überparteilich“, sollte man allerdings immer mißtrauisch gegenüberstehen. Zugleich ist darauf hinzuweisen, daß Diskurspositionen innerhalb eines herrschenden bzw. hegemonialen Diskurses ziemlich homogen sind, was bereits als Wirkung des jeweils hegemonialen Diskurses verstanden werden kann. Es kann natürlich innerhalb des vorherrschenden Diskurses unterschiedliche Positionen geben, die aber z.B. darin grundsätzlich übereinstimmen können, daß sie das obwaltende Wirtschaftssystem nicht in Frage stellen. Davon abweichende Diskurspositionen lassen sich oft mehr oder minder in sich geschlossenen Gegendiskursen zuordnen. Das schließt nicht aus, daß sich gegendiskursive und grundsätzlich oppositionelle Diskurselemente subversiv in den hegemonialen Diskurs einbringen  lassen. Ein Beispiel dafür wäre die verbreitete Redensart „Zeit ist Geld“, die von manchen Menschen durchaus kapitalismuskritisch aufgenommen wird.
Der gesamtgesellschaftliche Diskurs in seiner Verschränktheit und Komplexität
In einer gegebenen Gesellschaft bilden die Diskursstränge in  komplexer Verschränktheit den gesamtgesellschaftlichen Diskurs.
Dabei ist zu beachten, daß „gegebene Gesellschaften“ nie (restlos) homogen sind; deshalb ist gegebenenfalls mit sozialen Untergruppierungen einer Gesellschaft zu operieren. In der Bundesrepublik Deutschland hat aber offenbar nach der 89er Wende eine starke ideologische Homogenisierung des gesellschaftlichen Gesamtdiskurses stattgefunden, die auch nicht so leicht aufzubrechen sein wird (vgl. dazu Teubert 1997, 1999). Ferner ist zu beachten, daß der Gesamtdiskurs einer Gesellschaft Teil-Diskurs eines (selbstverständlich überaus heterogenen) globalen Diskurses oder anders: des Weltdiskurses ist, der sich – mit aller Vorsicht gesagt – ebenfalls seit 1989 zugleich homogenisiert (in der westlichen Welt) und umgepolt hat (von West gegen Ost tendenziell zu West gegen Orient, Islam).
Sicher stellt der gesellschaftliche Gesamtdiskurs ein äußerst verzweigtes und ineinander verwurzeltes Netz dar. Diskursanalyse verfolgt das Ziel, dieses Netz zu entwirren, wobei in der Regel so verfahren wird, daß zunächst einzelne Diskursstränge auf einzelnen diskursiven Ebenen herausgearbeitet werden. Beispiel: Der mediale Einwanderungs-Diskurs(strang).
An eine solche Analyse schließen sich weitere an, etwa die Analyse des politischen Diskursstrangs über Einwanderung, des Alltags-Diskursstrangs über Einwanderung etc.
Im Anschluß an solche Analysen stellt sich in aller Regel die Frage, in welcher Beziehung die diskursiven Ebenen des betreffenden gesamten Diskursstranges zueinander stehen. Hier wäre etwa die Frage zu beantworten, ob und wie der politische Diskursstrang sich in den medialen und den alltäglichen verzahnt, wie und ob der mediale den alltäglichen „beeinflußt“, sich sozusagen in ihn „hineinfrißt“ etc.
Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Diskursstränge
Hinzu kommt, daß der Diskurs/die Diskursstränge eine Geschichte, eine Gegenwart und eine Zukunft haben. Es wäre daher erforderlich, größere Zeiträume diskursiver Abläufe ebenfalls zu analysieren, um auf diese Weise ihre Stärke, die Dichte der Verschränkungen der jeweiligen Diskursstränge mit anderen, Änderungen, Brüche, Versiegen und Wiederauftauchen etc. aufzeigen zu können. Mit anderen Worten: Es wäre (in Anlehnung an Foucault) eine „Archäologie des Wissens“ oder, wie er später sagt „eine Genealogie“ zu betreiben. Dies wäre die Basis für eine diskursive Prognostik, die in Gestalt der Entfaltung von Szenarien vorgenommen werden könnte, die aber jeweils unterschiedliche in der Zukunft erwartbare diskursive Ereignisse (= Ereignisse, die medial groß herausgestellt werden) in Rechnung zu stellen hätte.
Ein solches Projekt wäre selbstverständlich riesig und ließe sich nur in Gestalt einer Vielzahl von Einzelprojekten angehen. Solche Einzelprojekte sind aber bereits sehr sinnvoll, weil sie immerhin zu bestimmten diskursiven Teilbereichen sehr verläßliche Aussagen zulassen. Solche Aussagen können z.B. die Basis für eine Änderung des „Wissens“ über und der Haltung gegenüber Ausländern darstellen, also selbst wiederum auf den weiteren Verlauf des betreffenden Diskursstranges Einfluß nehmen.
3. 2 Zur Frage der Vollständigkeit von Diskursanalysen
Mit der Frage der Vollständigkeit ist das Thema der Repräsentativität bzw der Verläßlichkeit und allgemeinen Gültigkeit von Diskursanalysen angesprochen. Vollständigkeit der Analyse ist dann erreicht, wenn die Analyse keine inhaltlich und formal neuen Erkenntnisse zu Tage fördert. Diese Vollständigkeit ergibt sich – zum Ärger primär quantitativ arbeitender empirischer Sozialwissenschaft, die in der Regel mit riesigen Materialmengen arbeitet – meist erstaunlich bald, denn Diskursanalyse geht es um die Erfassung jeweiliger Sagbarkeitsfelder. Die Argumente und Inhalte, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten sozialen Ort etwa zum Thema Einwanderung zu lesen  oder zu hören sind, sind jedoch erstaunlich beschränkt (meist im doppelten Sinne dieses Wortes). Quantitative Aspekte spielen hierbei allerdings auch eine gewisse Rolle: So läßt sich immer auch erfassen, welche Argumente gehäuft auftreten. Auf diese Weise läßt sich erfassen, welche Aussagen zu einem Thema etwa Parolencharakter tragen, deren Verbreitung allerdings immer auch damit einhergeht, daß ganze Listen von Urteilen und Vorurteilen zugleich damit aufgerufen werden. Der quantitative Aspekt von Diskursanalyse ist demnach immer von geringerer Relevanz für die Aussagefähigkeit von Diskursanalysen als der qualitative. Diese Aussagen gelten vor allem für die Vornahme eines synchronen Schnitts durch einen Diskursstrang. Historisch orientierte Analysen können so verfahren, daß sie mehrere synchrone Schnitte durch den Diskursstrang vornehmen – z.B. anhand diskursiver Ereignisse – und miteinander vergleichen. Solche Analysen geben Aufschluß über Veränderungen und Kontinuitäten der Diskursverläufe durch die Zeit.
3. 3 Kleine Werkzeugkiste zur Durchführung von Diskursanalysen
Ich möchte nun in einer knappen Zusammenfassung unsere „Werkzeugkiste“ zur Durchführung von Diskursanalysen vorstellen, auch wenn sie hier nicht im einzelnen begründet werden kann (vgl. dazu in Jäger 1999). ((Solche Kurztexte verwenden wir bei der Durchführung von Projekten als eine Art Handreichung bzw. Leitfaden für erste Aufbereitungen des Materials. Sie dienen dort als  Gedächtnisstütze.))
Im folgenden ist das praktische Vorgehen zur diskursanalytischen Auseinandersetzung mit empirischem (Text-)Material angesprochen. Die gesamte Durchführung einer Untersuchung bedarf weiterer Ergänzungen: so vor allem einer Begründung des Projektes und seines Gegenstandes und einer für das Verständnis und den Nachvollzug der Analyse notwendigen und sinnvollen Erläuterung zum theoretischen Ansatz und methodischen Vorgehen (‚theoretischer Teil‘).
Auswahl des zu untersuchenden „Gegenstandes“, Begründung der Vorgehensweise und forschungspragmatische Vorschläge zur Vermeidung von Verkürzungen und Simplifikationen
Es geht zunächst um die genaue Verortung der eigenen Untersuchung (des zu untersuchenden Gegenstandes). Hier liegen bereits mögliche Fallstricke vor. Geht es etwa um die Frage, wie in Medien oder Alltag Rassismus verbreitet ist, sollte man nicht mit dem Begriff von Rassismus als einer Art Lupe auf die Suche gehen und nach dem Auftreten dieses Ideologems fahnden. Man sollte stattdessen den Ort zu bestimmen versuchen, an dem solche Ideologeme überhaupt auftreten können. Dieser Ort ist der Diskurs über Einwanderer, Flucht, Asyl etc. Dieser Diskurs(strang) ist dann das zu untersuchende Material.
Meist wird man sich (zunächst) auf eine Diskursebene konzentrieren müssen, etwa die der Medien. In bestimmten Fällen können auch mehrere Ebenen parallel untersucht werden oder auch mehrere Sektoren einer Ebene (etwa Frauenzeitschriften, etwa Nachrichtensendungen im TV). Oft wird man nur einen Teil-Sektor der Diskurs-Ebene untersuchen können, etwa Medien (Print) oder Medien (Schlager). Es muß genau begründet werden, weshalb man sich diesem Sektor widmet: etwa weil er in besonderer Weise zu zeigen verspricht, wie ein Thema massenhaft verbreitet wird, oder: weil dieser Sektor bisher nicht untersucht worden ist (wobei dann selbstverständlich auf andere Sektoren, die bereits untersucht worden sind, eingegangen werden sollte).
Ein ’synchroner‘ Schnitt durch den Diskursstrang, der immer insofern zugleich diachron-historisch ist, als er ‚geworden‘ ist, kann je nach Thema und Diskursebene unterschiedlich aussehen. Bei Printmedien zum dem zwar durchgängig aber selten sehr ausführlich auftretenden Thema Biopolitik etwa könnte ein ganzes Jahr genommen werden, weil auch beim gründlichen Lesen der betreffenden Zeitungen erst in einem längeren Zeitraum die Bandbreite des betreffenden Diskursstrangs qualitativ vollständig erfaßt sein dürfte. Bei der Darstellung der Frau im Schlager dagegen reichen (wahrscheinlich) einige Exemplare, weil hier mit extremen exemplarischen Verdichtungen zu rechnen sein dürfte. (Das muß aber nachgewiesen werden!)
Wichtig ist es, die Unterthemen des Diskursstrangs im jeweiligen Sektor der Diskursebene zu erfassen und (in etwa) den Oberthemen zuzuordnen, die in ihrer Gesamtheit den Diskursstrang der betreffenden Zeitung bzw. des betreffenden Sektors der Diskursebene ausmachen.
Das Zusammenwirken mehrerer Diskursebenen bei der Regulation von (Massen-)Bewußtsein ist besonders spannend, aber äußerst arbeitsaufwendig. Hier wird man nach wohlbegründeten Beispielen aus den verschiedenen Diskursebenen suchen müssen und deren Zusammenwirken exemplarisch aufzeigen.
Das Problem vervielfältigt sich, wenn das Zusammenwirken (die Verschränkungen) verschiedener Diskursstränge untersucht werden soll.
Vorgehensweise
Als Vorgehensweise für eine (einfache) Diskursanalyse bietet sich (nach Vorstellung und Begründung des Themas (Diskursstrangs)) an:
a) knappe Charakterisierung (des Sektors) der Diskursebene, etwa Print-Medien, Frauenzeitschriften, Schlager, Videofilm
b) Erschließen und Aufbereiten der Materialbasis bzw. des Archivs (s.u.: Analyseleitfaden zur Materialaufbereitung)
c) Strukturanalyse: Auswertung der Materialaufbereitung in Hinblick auf den zu analysierenden Diskursstrang
d) Feinanalyse eines oder mehrerer für den Sektor bzw. etwa auch für die Diskursposition der Zeitung möglichst typischen Artikels (Diskursfragments), der/das selbstverständlich einem bestimmten Oberthema zuzuordnen ist.
e) Es folgt die Gesamtanalyse des (gesamten) Diskursstrangs im betreffenden Sektor bzw. in der betreffenden Zeitung etc. Das bedeutet: Es werden alle bisher erzielten wesentlichen Ergebnisse reflektiert und einer Gesamtaussage über den Diskursstrang in der betreffenden Zeitung bzw. des betreffenden Sektors zugeführt. Die über diesem abschließenden Teil ’schwebende Frage könnte etwa lauten: ‚Welchen Beitrag leistet die betr. Zeitung zur (Akzeptanz von) Biopolitik in der BRD in der Gegenwart und welche weitere Entwicklung ist vermutlich zu erwarten?‘
Das ist nicht unbedingt eine Gliederung, an die man sich sklavisch halten müßte. Variationen sind möglich. Sie sollten aber beachten, daß es um die Diskursanalyse des betreffenden Diskursstrangs des betreffenden Sektors einer Diskursebene, z.B. der betreffenden Zeitung geht.
Materialaufbereitung
Das folgende stellt eine Art Analyseleitfaden für die Materialaufbereitung dar, der besonders die Probleme von Medienanalyse berücksichtigt.
Materialaufbereitungen sind Basis und Herzstück der anschließenden Diskursanalyse. Sie sind äußerst sorgfältig vorzunehmen und (bei größeren Projekten mit mehreren MitarbeiterInnen) von allen Beteiligten in der gleichen Reihenfolge durchzuführen, ohne daß dabei schematisch vorgegangen werden sollte. Das deshalb, weil die synoptische Analyse (= vergleichend-zusammenfassende Analyse) im Anschluß an die einzelnen Untersuchungen eines jeweiligen Zeitungs- und Zeitschriftenjahrgangs darauf angewiesen ist, die Ergebnisse systematisch nebeneinanderzustellen. In die Materialaufbereitungen können/sollten immer schon Einfälle und Interpretationsansätze eingehen, und zwar immer dann, wenn man solche Einfälle/Ideen hat. Solche interpretativen Passagen sollten aber besonders gekennzeichnet werden, z.B. durch Unterstreichungen oder Kursivsatz.
1    Materialaufbereitung für die Strukur-Analyse z.B. des gesamten gewählten Diskursstrangs einer Zeitung/Zeitschrift
1.1    Allgemeine Charakterisierung der Zeitung: Politische Verortung, Leserschaft, Auflage usw.)
1.2    Überblick über (z.B.) den gesamten Jahrgang in Hinblick auf die ausgewählte Thematik
1.2.1    Liste der erfaßten für das Thema relevanten Artikel mit jeweiliger Angabe der bibliographischen Daten; Stichwort(en) zur Thematik; Angabe der journalistischen Textsorte; mögliche Besonderheiten; Angabe der Rubrik bei Wochenzeitungen/-zeitschriften etc.
1.2.2    Zusammenfassender Überblick über die in der Zeitung/Zeitschrift angesprochenen/aufgegriffenen Themen; qualitative Bewertung; auffälliges Fehlen bestimmter Thematiken, die in den anderen ausgewerteten Jahrgängen angesprochen wurden; zeitliche Präsentation und Häufungen bestimmter Thematiken in Hinblick auf mögliche diskursive Ereignisse
1.2.3    Zuordnung der Einzelthemen zu thematischen Bereichen (beim biopolitischen Diskursstrang etwa zu folghenden Unterthemen: ‚Krankheit/Gesundheit‘, ‚Geburt/Leben‘, ‚Tod/Sterben, ‚Ernährung‘, ‚Ökonomie‘, ‚Bioethik/Menschenbild‘) und etwaigen Diskursstrangverschränkungen, etwa : Ökonomie, Faschismus, Ethik/Moral etc.).
1.3    Zusammenfassung von 1.1 und 1.2: Bestimmung der Diskursposition der Zeitung/Zeitschrift in Hinblick auf die jeweilige Thematik
2    Materialaufbereitung für die exemplarische Feinanalyse von Diskursfragmenten: eines für die Diskursposition der Zeitung möglichst typischen Artikels bzw. von Artikelserien u.ä.
2.1    Institutioneller Rahmen: ‚Kontext‘
2.1.1    Begründung der Auswahl des/der (typischen) Artikel(s)
2.1.2    Autor (Funktion und Gewicht innerhalb der Zeitung, Spezialgebiete usw.)
2.1.3    Anlaß des Artikels
2.1.4    Welcher Rubrik ist der Artikel zugeordnet?
2.2    Text-‚Oberfläche‘
2.2.1    Grafische Gestaltung inkl. Bebilderung und Grafiken
2.2.2    Überschriften, Zwischenüberschriften
2.2.3    Gliederung des Artikels in Sinneinheiten
2.2.4    Im Artikel angesprochene Themen (Diskursfragmente) (ihre Berührungen, Überlappungen)
2.3    Sprachlich-rhetorische Mittel
2.3.1    Art und Form der Argumentation, Argumentationsstrategien
2.3.2    Logik und Komposition
2.3.3    Implikate und Anspielungen
2.3.4    Kollektivsymbolik bzw. ‚Bildlichkeit‘: Symbolik, Metaphorik usw. in sprachlichen und graphischen Kontexten (Statistiken, Fotos, Bilder, Karikaturen etc.)
2.3.5    Redewendungen, Sprichwörter, Klischees
2.3.6    Wortschatz und Stil
2.3.7    Akteure (Personen, Pronominalstruktur)
2.3.8    Referenzbezüge: Berufung auf die Wissenschaft(en), Angaben über die Quellen des Wissens o.ä.
2.4    Inhaltlich-ideologische Aussagen
2.4.1    Welche Art von Menschenbild setzt der Artikel voraus, vermittelt der Artikel?
2.4.2    Welche Art von Gesellschaftsverständnis setzt der Artikel voraus, vermittelt der Artikel?
2.4.3    Welche Art von (z.B.) Technikverständnis setzt der Artikel voraus, vermittelt der Artikel?
2.4.4    Welche Zukunftsperspektive entwirft der Artikel?
2.5    Sonstige Auffälligkeiten
2.6    Zusammenfassung: Verortung des Artikels im Diskursstrang (s. 1.3) Das ‚Argument‘, die Kernaussage des gesamten Artikels; seine allgemeine ‚Botschaft‘, ‚Message‘
3.    Abschließende Interpretation des gesamten untersuchten Diskursstrangs unter Rückgriff auf die vorliegenden Materialaufbereitungen (Struktur- und Feinanalyse(n))
Nach erneuter Durcharbeitung der Materialaufbereitungen, Feststellung von Begründungszusammenhängen zwischen den unterschiedlichen Aufbereitungsebenen, Ergänzungen interpretatorischer Ansätze, Verwerfung zu schwach begründeter Interpretationsansätze etc. liegt nun eine vollständige und möglichst lückenlose Materialaufbereitung vor. Damit ist die Basis gelegt für die Abfassung einer Gesamt-Analyse des betreffenden Diskursstrangs, deren Ästhetik nicht im einzelnen vorgeschrieben werden kann und soll. Wie diese aussieht, das ist eine Frage des „schönen Schreibens“, der Zielgruppe, des Veröffentlichungsortes etc. Wichtig ist hier vor allem, daß die vorgetragene Argumentation stringent, materialreich und überzeugend ist.
Bei Vorliegen mehrerer Textcorpora (z.B. bei mehreren Zeitungen, Filmen etc.) erfolgt zusätzlich noch eine vergleichende (synpotische) Analyse, insbesondere wenn Aussagen zu ganzen Diskursebenen angestrebt werden.
3. 4 Erste Überlegungen zur Analyse von Dispositiven
Diskurse sind nun keine eigenständig und unabhängig existierenden Phänomene; sie bilden Elemente von und sind die Voraussetzung für die Existenz von sogenannten Dispositiven. Ein Dispositiv ist der prozessierende Zusammenhang von Wissen, die in Sprechen/Denken – Tun – Vergegenständlichung eingeschlossen sind. Die Grundfigur des Dispositivs kann man sich als ein Dreieck oder besser: als einen rotierenden und historisch prozessierenden Kreis mit drei zentralen Durchlauf-Punkten bzw. Durchgangsstationen vorstellen:

  1. Diskursive Praxen, in denen primär Wissen transportiert wird
  2. Handlungen als nichtdiskursive Praxen, in denen aber Wissen transportiert wird, denen Wissen vorausgeht bzw. das ständig von Wissen begleitet wird
  3. Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen, die Vergegenständlichungen diskursiver Wissens-Praxen durch nichtdiskursive Praxen darstellen, wobei die Existenz der Sichtbarkeiten („Gegenstände“) nur durch diskursive und nichtdiskursive Praxen aufrechterhalten bleibt.

Das Dispositiv hat eine gewisse Festigkeit, ist jedoch auch immer historischer Veränderung unterworfen. Zudem ist seine ständige Beeinflussung durch andere Dispositive zu beachten.
Um die (jeweils) aktuelle Befindlichkeit eines solchen Dispositivs zu ermitteln, kann dieses „Dreieck“ bzw. dieser prozessierende und rotierende Kreis mit drei „Durchlaufstationen“ (Diskurs, Handeln,  Sichtbarkeiten / Vergegenständlichungen) durch einen synchronen Schnitt analysiert werden.
Die Dispositive zirkulieren miteinander und durchdringen einander. Eine bestimmte diskursive konkrete Praxis ist in der Regel für verschiedene Dispositive von Bedeutung. Ein Beispiel wäre der Diskurs über den Verkehr. Er verschränkt sich mit Ökonomie, mit Krankheit/Gesundheit etc. Vielleicht sind es gerade solche Verschränkungen, die Gesellschaft verkitten und ihren Zusammenhang vermitteln.
Dispositivanalyse, die den prozessierenden Zusammenhang von Wissen, Handeln und Sichtbarkeiten zum Gegenstand hat, hätte demnach die folgenden Schritte zu absolvieren:

  1.  Rekonstruktion des Wissens in den diskursiven Praxen (wie oben dargestellt, wobei eine solche Analyse die Grundlage für die weiteren Analyseschritte einer Dipositivanalyse bildet, indem sie die Aufmerksamkeit auf die folgenden Aspekte des zu untersuchenden Dispositivs lenkt, etwa auf „weiße Flecken“ im Diskurs, wichtige dazugehörende „Sichtbarkeiten“ etc.)
  2. Rekonstruktion des Wissens, das den nichtdiskursiven Praxen zugrundeliegt
  3. Rekonstruktion der nichtdiskursiven Praxen, die zu den Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen geführt haben, und des darin enthaltenen Wissens.

Die Rekonstruktion von Wissen, die faktisch immer in Texte resultiert, umfaßt auch immer die Form, in der Wissen auftritt, also wie es sich präsentiert, ob dieses Wissen offen zu Tage liegt, ob es sich – etwa in Gestalt von Implikaten – verkleidet, wie es argumentativ verpackt ist etc. Erinnert sei auch noch einmal daran, daß der Begriff des Wissens hier sehr weit gefaßt ist, also keineswegs mit „Erkenntnis“ gleichgesetzt werden darf, daß er auch Geffühle und Affekte umfaßt etc., also sämtliche Aspekte menschlichen Bewußtseins.
Während die Analyse der diskursiven Bestandteile des Dispositivs bereits ausführlich diskutiert ist (s.o.), stellt sich  1. die Frage, wie das den Handlungen bzw. nichtdiskursiven Praxen zugrundeliegende und sie begleitende Wissen rekonstruiert werden kann. Sodann ist zu fragen, 2. wie ist für die Analyse von Dispositiven an die Sichtbarkeiten/Gegenständlichkeiten heranzukommen und wie bereitet man sie so auf, daß das ihnen zugrundeliegende Wissen ermittelt werden kann?
Zu 1: Wissen in Handlungen
Handlungen lassen sich beobachten und beschreiben. Nun kommt es darauf an, das diesen Handlungen vorausgesetzte bzw. sie begleitende Wissen zu rekonstruieren. Im einfachen Beispiel: Beobachtet wird ein Mensch, der über eine Straße geht und eine Bäckerei aufsucht, in der er ein Brot kauft. Ich muß nun herausfinden, was dieser Mensch weiß und will. Er weiß, daß er sich an einen bestimmten Ort begeben muß, um ein Brot kaufen zu können. Er weiß, daß er sich dafür auf eine bestimmte Weise kleiden muß (Schuhe und Kleid anziehen), er weiß, daß er eine Straße überqueren muß, daß er dabei auf den Verkehr achten und Verkehrsregeln beachten muß, ferner: daß an einer bestimmten Stelle der Straße ein Bäckerladen liegt oder daß er danach Ausschau halten muß; er weiß, daß er dort ein Brot bekommt, daß und wofür er Geld bereithalten muß etc. Der so einfachen Handlung des Brotkaufens liegt also bereits ein großes Quantum von Wissen zugrunde, dessen Komplexität ich hier nur andeuten möchte.
Nun handelt es sich hier zudem um ein sehr einfaches Beispiel. Ein komplexeres wäre: Ich beobachte einen Menschen, der am Rande einer Straße ein Loch gegraben hat und in diesem Loch an einem dicken Rohr herumwerkelt. So weit meine Beobachtung! Das mit dieser Handlung verbundene Wissen zu rekonstruieren, setzt voraus, daß ich – ähnlich wie beim beschriebenen Brotkauf, aber sehr viel anspruchsvoller – über Wissen verfüge, mit dessen Hilfe ich verstehen kann, was der Mensch dort unter Einsatz von Wissen tut. Mir fehlt – zumindest in großen Teilen – dieses Wissen, weshalb ich, will ich verstehen, was dieser Mensch tut, ihn ansprechen und fragen kann, was und warum er das tut, was er tut. Er antwortet mir z.B.: „Ich beseitige einen Wasserrohrbruch.“ Mit diesem Wissen ausgestattet, verstehe ich schon besser, was der Mensch tut. Ich kann mich auch damit zufriedengeben, gehe aber davon aus, daß ich weiterfrage: „Warum machen Sie das denn?“Er kann mir antworten: „Um den Rohrbruch zu beseitigen.“ Oder zusätzlich: „Das ist mein Job!“ Oder ferner zusätzlich: „Ich muß halt sehen, wie ich zu meinem Geld komme!“ etc. Das in dieser Tätigkeit verborgene Wissen ist bereits ziemlich komplex; es läßt sich prinzipiell zurückverfolgen und erweitern bis hin zur Frage der Notwendigkeit bzw. der ökonomischen Praxis abhängiger Lohnarbeit.
Ein bei weitem noch komplizierteres Tun, dessen Wissen noch sehr viel schwieriger zu rekonstruieren ist, wäre etwa die Beobachtung eines Mannes, der zu einer Bank geht und dort einen Scheck einlöst. Das für mich Sichtbare ist ausgesprochen karg; seine Interpretation setzt eine riesige Fülle von Wissen voraus, mit dessen Hilfe ich das Tun dieses Menschen verstehen kann bzw. daß darin „verborgene“ Wissen rekonstruieren kann.
Zu 2: Wissen in Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen
Ich betrachte einen Gegenstand, ein Haus, eine Kirche, ein Fahrrad. Im Unterschied zu den vorangegangenen Beispielen kann ich diesen Gegenstand selbst nicht nach seinem Wissen fragen. Er hat ja von sich aus keine Bedeutung und ist auch nicht in der Lage, mir Auskunft zu erteilen. Zunächst bin ich also auf mein eigenes Wissen angewiesen, um das Wissen und Handeln rekonstruieren zu können, das Voraussetzung zur Produktion dieses Gegenstandes gewesen ist. Und nicht nur das: Ob es sich bei einem Gegenstand um eine Kirche oder um einen Pferdestall, ein Museum oder um eine Bedürfnisanstalt handelt, ist dem Gegenstand als solchem nicht oder kaum abzulesen. Ich muß mein Wissen erweitern, analysieren, Experten und Nutzer fragen, Statistiken, Landkarten, Bücher zu Rate ziehen etc. Erst dadurch kann ich das Wissen ermitteln, das das Wissen dieses Gegenstandes ist und das in diesen Gegenstand eingeflossen ist.
Zu fragen ist natürlich, wie man mit sehr komplexen Dispositiven (als Dispostivbündeln) verfahren könnte, etwa dem Kosovo-Krieg, zumal der Zugang dazu schwierig ist. Inwieweit kann man sich auf bereits vorliegende Diskursivierungen, also Statistiken, Fotos, Berichte, Medienkommentare etc. stützen? Wie kann man die in sie einfließenden Diskurspositionen kenntlich machen? Durch Vergleiche mit anderen? Zusätzlich taucht hier das Problem neutraler bzw. objektiver Diskursivierung auf, die auch dann nicht gegeben ist, wenn „man selbst“ die Sichtbarkeiten bezüglich des in sie eingeflossenen Wissens befragt. Auch hier kann es also nicht um die Ermittlung von „Wahrheiten“ gehen, sondern um Zuweisungen, die eine gewisse Gültigkeit haben, in die aber immer Interessen verwoben sind. Es muß also immer auch der Blick auf diese Interessen gerichtet sein, auch auf die eigenen.
Hier stellen sich besondere Probleme, etwa daß man nicht nur neutral Wissen ermittelt, sondern dabei bereits Interpretationen einfließen, Deutungen, ferner, daß es ein Vergessen von Wissen gibt, Umdeutungen und Verschleierungen.
Allgemein festzuhalten ist: Ich kann mich also keinesfalls auf mein eigenes Wissen stützen, um das Wissen rekonstruieren zu können, das der Entstehehung eines Gegenstandes vorausgesetzt ist.
Hinzu kommt, daß das ursprünglich in einen Gegenstand durch Bedeutungszuweisung „eingeflossene“ Wissen mit der Bedeutung, die ein Gegenstand jetzt und heute hat, nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr restlos übereinstimmt. Dem Gegenstand kann im Verlauf seiner Geschichte eine andere Bedeutung zugewiesen worden sein als sie ihm ursprünglich zukam. „Legenden“ mögen sich gebildet haben, Verschiebungen mögen eingetreten sein. Man denke an den aktuellen Gebrauch einer Kirche als Museum oder Pferdestall oder an die sich oft diametral widersprechenden Zeugenaussagen anläßlich eines Verkehrsunfalls.
Und es stellt sich ein weiteres Problem: Wo Wissen ist, da ist Macht, wo Vergegenständlichungen vorliegen, waren Macht und Wissen am Werk und sind weiterhin am Werk, da sonst die Vergegenständlichungen ihre Bedeutung verlieren und verrotten. Die Macht ist als solche ja nicht sichtbar. Kann sie sichtbar gemacht werden? Auf indirektem Weg? In Form ihrer Auswirkungen? Alles Wissen ist ja an Macht gekoppelt, in jedem Wissen, das sich durchsetzt, setzt sich Macht durch. Es ist durch Macht erzeugt und übt Macht aus. Wo es ein Wissen gibt, gibt es also Macht. Wo ein Wissen geschwächt wird, kann Macht geschwächt werden.
Betrachtet man das Dispositiv als konkreten Zusammenhang, bei dem die drei Wissens-Aspekte im Zusammenhang wirken, deutet sich die Möglichkeit seiner Analyse an, die allerdings sehr komplex ist. Michel Foucaults Buch „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1989) stellt eine solche Dispositivanalyse dar, auch Victor Klemperers Tagebücher kann man als eine Dispositivanalyse lesen (Klemperer 1995). Beide haben dafür keine explizite Methode bereitgestellt, sie haben sie implizit – Foucault sagt „bastelnd“ – angewendet, indem sie Diskurse analysierten, Wissen sammelten, Statistiken zu Rate zog, sie kritisch auseinandernahmen, Schlüsse daraus zogen, Einschätzungen beisteuern etc. So können auch die hier vorgebrachten Überlegungen kein Rezept oder gar eine irgendwie schematisch anwendbare Methode darstellen, aber doch Anregungen dafür enthalten, wie man sich dem komplexen Zusammenhang von Diskurs, Handeln und sich daraus entwickelnden/erarbeiteten  Gegenständlichkeiten/Sichtbarkeiten analytisch annähert. Herzstück hat dabei die Diskursanalyse zu sein, die auch auf Texte bezogen werden kann, die bei der Rekonstruktion von Wissen in nichtdiskursiven Praxen und Vergegenständlichungen gewonnen werden. Eine explizite Methode ist bisher dafür noch nicht entwickelt worden und kann dies wohl auch erst in Verbindung mit konkreten Forschungsprojekten. Dies würde auch dazu beitragen, die noch bestehende Kluft zwischen Diskursanalyse und empirischer Sozialforschung zu überwinden.
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