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Linke essen Diskurs auf

Von Siegfried Jäger, erschienen in DISS-Journal 2 (1998)

Während einige besorgte Linke befürchten, „Diskurs essen Realität“ auf oder gar den ganzen Rest der Linken (wie die Jungle World am 12.3.1998), möchte ich eher behaupten: Linke essen Diskurs auf. Weshalb das? Ganz einfach: Weil er ihnen schmeckt! Und er schmeckt ihnen, weil sie mit Diskurstheorie und Diskursanalyse eine ganze Menge machen können, um gesellschaftliche Zusammenhänge deutlich und fundiert kritisierbar zu machen und bereits dadurch einen Beitrag zu ihrer Veränderung leisten.

Demgegenüber steht die Ansicht, Wirklichkeit würde im Bewußtsein von Menschen, die unter kapitalistischen Verhältnissen leben, nur verfälscht, verschleiert oder vernebelt wahrgenommen. Vertreter dieser Wahrheit zielen an, diesen Schleier zu durchdringen, zur wirklichen Wahrheit vorzudringen und diese dann – wie auch immer: per Revolution oder sonstwie – in eine neue Wirklichkeit umzusetzen. Und einige dieser Vertreter meinen, „Diskurs essen Linke auf“, weil sich die Linken an Michel Foucault orientieren und dieser ein böser Heideggerianer oder gar ein die philosophische Peitsche schwingender Nietzsche-Jünger sei. Dem ist zwar nicht so, so wenig wie Helmut Kohl Marxist ist, weil er einen Satz von Marx zitieren kann. Doch es ist ja etwas unheimlich, wenn jemand behauptet, die Realität sei gar nicht so, sondern die Diskurse seien wichtig, meist in der Prägung: sie seien allein wichtig – was Foucault natürlich niemals behauptet hat. Wie dem auch sei und wieviel nachzuholende Lektüre sich hier auch bemerkbar machen mag – Linke essen Diskurs auf. Weil er ihnen schmeckt. Und das tut er deshalb, weil sie selbst (und natürlich andere auch) auf die Diskurse Einfluß nehmen können, tätig werden können und sie nicht auf den St.-Nimmerleinstag warten müssen, an dem das Kapital den Löffel freiwillig abgibt oder von einer nicht zu sehenden revolutionären Subjektivität in die Knie gezwungen wird. Da bliebe ja nur: sich am Rande des Abgrunds einigermaßen einrichten oder sonstwie zu überwintern.

Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht sprechen, sondern über die erstaunliche Tatsache, daß Diskurstheorie und Diskursanalyse sich unaufhaltsam größerer Beliebtheit zu erfreuen beginnen – bei Soziologen, Psychologen, Pädagogen und anderen Sozialwissenschaftlern und auch bei politisch interessierten Menschen allgemein, und sogar – wer hätte das gedacht – bei Sprachwissenschaftlern. Der Grund: Sie alle haben mit Fluten von Texten zu tun, sie alle haben gemerkt, daß das blinde Anhäufen von Texten und Daten kaum Erkenntnisse zeitigt, insbesondere wenn man ihnen mit quantifizierenden Verfahren zu Leibe rücken möchte. Sie haben – zumindest viele von ihnen – haben gemerkt, daß dies nur zu weiteren Anhäufungen und oft unsinnigen Korrelierungen führt, die im wahrsten Sinne des Wortes nichts-sagend sind. Von der Diskursanalyse Foucaultscher Prägung versprechen sie sich, daß sie den „Fluß von `Wissen` durch die Zeit“ zum Sprechen bringen kann; mit anderen Worten, daß sie Entwickungen beschreiben und kritisierbar und damit veränderbar machen können, ohne auf die Barrikaden zu gehen, die dann doch mit lockerer Gewaltanwendung von der Straße gefegt würden.

Das gilt zwar nicht für alle, denn es ist ja nicht immer üblich, einen Gedanken zu Ende zu denken, weil dies zu unangenehmen gedanklichen Konsequenzen führen könnte. Sei’s drum! Wichtig ist, daß wir zusehen können, wie sich ein politischer und wissenschaftlicher Paradigmenwechsel anbahnt, der vielseitige Aufmerksamkeit erfährt. Sozialwissenschaftler inklusive Psychologen greifen zu den neuen Instrumentarien und wenden sie an, wie etwa Mark Terkessidis in seinem Buch „Psychologie des Rassismus“ (Opladen 1997) oder die Soziologin Hannelore Bublitz bei ihrem Projekt „Kulturkrise“. Auch Pädagogen greifen das neue Paradigma auf, wie etwa die Heidelberger Pädagogin Ingrid Dietrich in ihrem Buch „Voll integriert? Zuwanderer-Eltern berichten über Erfahrungen ihrer Kinder mit Schule in Deutschland“ (Hohengeren 1997). Und natürlich auch die Sprach- und Sozialwissenschaftler in unserem Institut, deren Projekte sich seit Jahren auf Konzepte angewandter Diskurstheorie berufen, unterstützt und angeregt von den Kulturwissenschaftlern der Bochumer Diskurswerkstatt um Jürgen Link, die seit den frühen 80er Jahren ganze Serien interessanter Diskursanalysen vorgelegt haben (die übrigens in Teilen der Sprachwissenschaft bisher leider kaum zu Kenntnis genommen werden).

Doch auch andere Ansätze bringen sich zur Geltung: So Franz Januscheks Konzept einer „Arbeit an Sprache“, die auf Bewußtseinsveränderung durch ebendiese drängt, oder Dietrich Busses Foucault- und Pecheux-Rezeption, durch die er die Bornierungen einer auf Wort, Satz und Text fixierten Sprachwissenschaft zu überwinden trachtet. Während Busse in seinem Buch „Textinterpretation“ von 1992 erst noch die Grenzen einer textfixierten Semantik aufzeigen kann und muß, zeigen seine neueren Arbeiten, wie sich diese durchbrechen lassen, wenn Texte als Teile von Diskursen verstanden werden, in denen das „Weltwissen“ vorliegt, das erforderlich ist, um Texte zu verstehen und interpretieren zu können. Mir scheint: Diskurs essen auch Sprachwissenschaft auf! Und Sprachwissenschaftlern beginnt der Diskurs zu munden. Ich finde das sehr ermutigend.