- Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung - https://www.diss-duisburg.de -

Mit einem Mythos geschlagen

Der Streik der Studierenden vom Wintersemester 97 wurde in den Medien penetrant und ausdauernd mit „1968“ verglichen – ein nostalgisches und politisch prekäres Denkmodell mit geradezu fatalen Folgen. Eine Streik-Analyse von Joannah Caborn und Semra Çelik, erschienen im DISS-Journal 2 (1998)

„Die Studierenden wollen ein bißchen komfortabler studieren, aber sonst nichts verändern. Wir wollten die Weltrevolution!“ Renate Zimmermann-Eisel, 1968 AStA-Vorsitzende der Uni Bochum, spricht zum AStA-Vorsitzenden der Uni-Essen von 1997. Die WAZ (11.12.97) inszenierte das Streitgespräch und brachte im Titel das Urteil der 68erin auf den Punkt: „Wir waren politischer“.

Solche Bemerkungen von selbst-stilisierten Alt-68ern kamen im „Heißen Herbst“ von 1997 in fast jedem Medienbeitrag zum Studierendenstreik vor. Einige der damaligen Revoluzzer haben beim gegebenen Anlaß die Möglichkeit ergriffen, ihre eigene mythosbehauchte Jugend wieder ins Rampenlicht zu rücken und sich mit Genuß zu erzählen, was für tolle Hechte sie doch waren. Aber nicht nur damals Beteiligte, sondern alle, die sich berufen fühlten, sich zu der Thematik „Studierendenbewegung“ zu äußern, konnten der Verführung nicht widerstehen, den Vergleich „68 versus 97/98“ zu machen. Es ist nichts Neues, daß das Vergangene herangezogen wird, um das Gegenwärtige zu verstehen, daß es als Maßstab benutzt wird, um das Heutige einzuordnen. So ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Studierendenproteste vom Herbst 1997 mit vergangenen vergleichbaren Ereignissen in Verbindung gebracht werden. Warum besteht aber der Drang, jegliche studentische politische Intervention ausgerechnet mit der magischen Zahl 1968 zu vergleichen?

Die Konstruktion der um das Jahr 1968 angelegten Mythen hat hierzu beigetragen. Einerseits entstand ein Bild, das die Studierenden von damals verteufelte, das Bild einer kommunistischen, terroristischen, jungen „Bewegung“, die wild in der Gesellschaft um sich griff und den Staat stürzen wollte. Andererseits entwickelte sich eine romantisierende Vorstellung von einer notwendigerweise radikalen, jungen „Bewegung“, die überfällige gesellschaftliche Veränderungen und eine Befreiung von alten Strukturen zum Ziel hatte. Die Mythisierung hat eine Reproduktion dieser Bilder seit drei Jahrzehnten bis in die Gegenwart beflügelt. Es sind diese Bilder, die unter dem Schlagwort „1968“ gesammelt sind, die im Diskurs reproduziert werden und kraft dessen bestimmen, was eine Studierendenbewegung zu sein oder auch nicht zu sein hat. Infolgedessen wird es praktisch unmöglich, sich über Herbst 97 zu äußern, ohne auf 68 Bezug zu nehmen. Ein diskurs-strukturierender Mechanismus entsteht. So verweist bereits, wenn auch indirekt, die manchmal erleichtert, manchmal höhnisch wirkende Feststellung, daß die Studierenden von 97 kreativ und friedlich protestierten, auf die laut Mythos agressiven und gewalttätigen 68er.

Wichtig ist nun die Frage, ob sich dieser Vergleich möglicherweise im Streik von 1997 auswirkte und welche Wirkungen dies hatte. Nachdem sich die zerstreuten Proteste der Studierenden zu einer Streikbewegung formiert hatten, wurde in den Medien spekuliert, ob es sich um einen politischen Protest handele, ähnlich dem vor 30 Jahren. Meist wurde nach kurzer Zeit verkündet, daß die Studierenden doch nur Bücher und nicht die Weltrevolution wollten. Politiker aller Couleur nahmen mit Erleichterung diesen Refrain auf und konnten daher den Streikenden mit phrasenhaften Worten der Solidarisierung entgegenkommen. Interessant ist, daß die allgemeine Klage über die „Bildungsmisere“ an den Hochschulen nicht als hochbrisante bildungspolitische Aussage wahrgenommen wurde. Der Mythos „1968“ liefert eben ein anderes Bild von „brisanten“ studentischen Forderungen. Innerhalb des Vergleichsrasters erschienen daher die bildungspolitischen Ansprüche und Forderungen von 97 als „unpolitisch“ – „nur“ eine Vertretung von Eigeninteressen, keine Weltrevolution. Nun waren sich Politiker und Studis – laut Presse, Rundfunk und Fernsehen – völlig einig, daß sie bessere Hochschulen wollten. Auf diese Weise konnten sich die Politiker in den Medien effektvoll mit den Studis solidarisieren. Gleichzeitig nutzten Rüttgers & Co diese Möglichkeit, um ihre eigenen Pläne zur Reform der Hochschulen zu propagieren. Daß die Streikenden ganz andere Vorstellungen von Bildung und Politik entwickelt hatten, blieb dagegen unbeachtet, weil der Streik bereits als „unpolitisch“ abgestempelt worden war.

Der wachsende Frust der Studierenden äußerte sich schließlich in den Medien mit einer dürftigen Erweiterung der studentischen Forderungen um einige politische Punkte, die nun doch als „radikal“ wahrgenommen wurden. Daß die politische Tendenz des Streiks nachträglich doch noch von den Medien registriert wurde, ging aus ihrem eigenen Vergleich mit 1968 hervor. Der öffentliche Rückgriff auf den Mythos führte ferner dazu, daß Studierende verstärkt versuchten, die Verhaltensanleitung von 68 umzusetzen. Doch ging damit der Streik schon seinem Ende entgegen: Die Fronten zwischen sogenannten „Idealisten“ und sogenannten „Realisten“ verhärteten sich, bis die Streikbewegung völlig auseinanderbrach. Die aktiven Streikenden wollten, wie ihre Vorkämpfer auch, durch den Streik ihre fundamentale sozial-politische Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Dagegen konnten und wollten die „Realisten“, die sich als Pragmatiker verstanden, sich nicht mit dem Bild einer politischen, aggressiven Jugend identifizieren. Daher entzogen sie der immer politischer werdenden Streikbewegung ihre Unterstützung.

Diese Spaltung der Studierenden hätte nicht unbedingt das Ende des Streiks bedeuten müssen, aber angesichts der aktuellen politischen Zusammenhänge war sie fatal. Spätestens seit Ende des Kalten Krieges hat sich die Auffassung verstärkt verbreitet, daß es keine Alternative mehr zu einer konservativ-kapitalistischen Richtung gibt. Dieser bestehende hegemoniale Diskurs wird von der Mehrheit der Bevölkerung wie auch von dem größten Teil der Studierenden getragen, ob sie sich nun als konservativ oder bloß als apolitisch einstufen. Wie der Rufer in der Wüste mußten also die aktiven Streikenden erleben, daß ihr sozial-politischer Aufruf ungehört verhallte.