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„Oh! That Inhumanity!“ oder Augsteins Traum

Siegfried Jäger analysiert ein Hitler-Portrait, das Rudolf Augstein am 23.1.1995 im SPIEGEL veröffentlichte.

Daß der Spiegel spätestens seit Mitte der 80er Jahre aufgehört hat, ein links-liberales Magazin zu sein, das mutig rechte und reaktionäre Machenschaften auf die Hörner nimmt – daß sein Herausgeber Rudolf Augstein einen Hang zum Nationalen entwickelt hat, das hat sich allmählich herumgesprochen. Es ist inständig zu hoffen, daß diese Entwicklung mit dazu beigetragen hat, die Auflagenhöhe sinken zu lassen und daß dies nicht allein dem dumpfen Konkurrenten FOCUS zugute zu halten ist.

Wer aber hätte geglaubt, daß der Herausgeber des SPIEGEL im Jahre 1995 ein Porträt Adolf Hitlers entwirft, das man noch vor wenigen Jahren allenfalls in ultra-konservativen oder gar rechtsextremen Postillen vorgefunden hätte, die das Ziel verfolgten, Deutschland und die Deutschen vom Holocaust freizusprechen oder zumindest doch abzukoppeln, um wieder richtig national und deutsch vom Leder ziehen zu können?

Augsteins Hitler-Porträt findet sich in der Ausgabe 4/1995 des SPIEGEL vom 23.1.1995 unter dem Titel: »“Oh! That Inhumanity!“ Rudolf Augstein über das Schandmal deutscher Geschichte«.

Wie Gerd-Klaus Kaltenbrunner 1987 in der rechtsextremen Zeitschrift MUT in einem Artikel mit der Überschrift Bestimmt Hitler die Richtlinien unserer Politik? (vorab- und nachgedruckt in einer großen Zahl konservativer und rechtsextremer Zeitschriften) den Schandfleck Hitler aus der deutschen Geschichte zu tilgen suchte, so sieht sich Rudolf Augstein im 50. Jahr nach der Befreiung der KZs bemüßigt, das „Schandmal“ Auschwitz auszulöschen, indem er diesen einen Mann Hitler zur alleinschuldigen Bestie umdeutet.

Das Bild, das Augstein zeichnet, zeigt ganz im Vordergrund Hitler, dessen „Psyche wir wie die eines Übriggebliebenen einer längst ausgestorbenen Menschenrasse nicht entschlüsseln“ können, er verfüge über die Eigenschaften eines Wolfes, er ist „wölfisch“, „er allein“ brauchte den Krieg „wie eine Droge“. „Und er allein betrieb und erreichte die Vernichtung von fünf bis sechs Millionen europäischer Juden“. Auschwitz, einen Namen, „der wie ein Brandmal den Deutschen anhängt und anhängen wird, solange man sich für Geschichte noch interessiert“, muß Hitler zwar nicht „zwingend gekannt haben“ und auch die Gaskammern nicht. Trotzdem ist nach Augstein die Judenvernichtung, dieser pervers technische und moralisch kaum noch zu bewertende Massenmord, letztlich allein „von Hitler herbeigeführt …“ worden.

Nur rein rhetorisch fragt Augstein: „Aber war es denn Hitler allein, der die Juden von diesem Planeten getilgt wissen wollte?“, um im folgenden den Beweis für diese gewagte These antreten zu können. Zunächst trumpft er mit der platten Behauptung auf: Ja, dem sei so gewesen: „Ja, so ist es“. Denn es war Hitlers „Obsession“, also eine verrückte Zwangsvorstellung – die eng mit einer zweiten, nicht minder „»verrückten« Obsession“ korrespondierte, nämlich seiner Idee eines großgermanischen Reiches, das sich von Archangelsk bis zum Persischen Golf erstrecken sollte, autark und eben „judenfrei“.

Nach Augstein war Hitler ein verrückter Pessimist, der glaubte, früh sterben zu müssen, denn schon sein Vater war ja nicht alt geworden. „Freilich, Albert Speers Großbauten wollte er noch erleben“, steuert Augstein bei, um Hitlers desolate Psyche weiter auszumalen.

Hitler war nach Augstein ein „offenkundig größenwahnsinniger … fanatischer Judenfeind“, doch auch ein Mann, „der immense Erfolge vorweisen konnte“, und „Die Deutschen standen mit großer Mehrheit hinter Hitler.“ England hatte „noch weit mehr Vertrauen zu ihm als zu Stalins kommunistischer Sowjetunion. Sie sollte mit Hilfe Hitlers eingedämmt werden, nicht umgekehrt Hitler mit Hilfe Stalins. Man würde Hitler entgegenkommen, wenn er auf weitere kriegerische Drohungen verzichten könne, kurz, manierlich würde.“

Doch Hitler war schlicht „kriegswütig“, spielte „va banque“, er hatte, zusammen mit Göring, „die Heeresführung bis ins Mark demoralisiert“, die Opposition im Heer war zwar „nennenswert, „dem »Führer« aber nicht gewachsen“. Und hinzu kam: „Nicht seine überstrapazierte Ökonomie zwang ihn zum Krieg, sondern sein nicht länger strapazierbares Gemüt.“ Er war eben ein blödes, aber gefährliches Tier: „»Wolf« nannten ihn seine wenigen Vertrauten, etwa Winifred Wagner.“

Hitler „brauchte den Krieg für sich selbst. Er konnte nicht anhalten, konnte nicht anhalten wollen. Er mußte die Juden ausrotten, mußte …“ Nicht viele hohe Offiziere glaubten Hitler, übernahmen aber dennoch seine „schwachsinnige Parole“, daß die Juden am bevorstehenden Krieg schuld seien.

Hitler hatte schon am 30. Januar 1939 „offen prophezeit“, daß die Juden für die ihnen angedichteten Taten würden büßen müssen. Doch nach seinem „Coup“ in Moskau „sinkt Hitlers Stern“, meint Augstein, doch er muß Hitler sogleich wieder zum Wallenstein aufbauen, denn dies geschah, „obwohl er für alle Außenstehenden nur um so heller erstrahlt.“

Augstein analysiert nun, weshalb „Hitlers eigentliche Judenvernichtung erst dann volle Fahrt aufnimmt, als er den Krieg im Osten nicht mehr gewinnen kann.“ Hitler wird laut Augstein „immer wütiger“ und will „alle Juden mit ins Grab nehmen“. Zudem war er ein „Vulgär-Darwinist“, der von Stalin dem Schrecklichen als „»Prachtkerl«“ bezeichnet wurde. Nicht erst Hitlers »Barbarossa«-Feldzug war ein „vorgezogener Selbstmord“, nein, so Augstein, vielleicht war „sein ganzes politisches Leben ein verlängerter Selbstmord“. Hitler war demnach so verrückt, daß er zum Schluß nicht die siegreichen Russen haßte, „sondern die von ihm ins Verderben getriebenen Deutschen und die noch übriggebliebenen Juden.“

Er war ein gescheiterter „Hanswurst im Furchtbaren“, er ruinierte sein Volk; das zeigte sich noch in seinem »Testament«, in dem er dieses Volk „»zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das »internationale Judentum«“, verpflichtete.

Eine „tragische Figur“ war Hitler nach Augstein jedoch nicht, denn „Wölfe sind Wölfe, reißende Wölfe sind reißende Wölfe.“ Hitler war von einer Art „geistig-seelischer Tollwut“ ergriffen. Doch, um damit nicht zu sehr auf die Mitschuld anderer hinzuweisen, schwächt Augstein ab: Diese Tollwut „ist nicht auf Anhieb erkennbar.“ Chamberlain hielt ihn zwar „für einen ziemlich miesen Kerl“, referiert Augstein, aber Frankreichs Botschafter Coulondre, wäre fast „Hitlers Charme“ erlegen. Und Rommel wird mit den Worten zitiert: „»Welche Kraft ging von ihm aus!«“

Solche Zuweisungen von Ausstrahlung und magischen Kräften komplettieren Augsteins Entwurf der Charakterstudie eines besessenen nichtmenschlichen Übermenschen.

Zwar gibt Augstein zu, daß es „Hitlers Leute“ waren, die in Polen und in der Sowjetunion Monströses und Unvorstellbares angerichtet haben. Doch Stalin war natürlich auch nicht ohne, er war eher „Orientale, eher Asiat (!).“ „Grausam waren sie beide, … Nur, Stalin ging umsichtig und defensiv vor.“ Im Unterschied zu Hitler hat er die „Deutschen … besser behandelt als seine Landsleute.“ Augsteins vergleichendes Fazit: „Stalin wollte Schrecken, Hitler wollte auslöschen.“ Damit stilisiert Augstein, Ernst Nolte übertrumpfend, den Holcaust zu einer Tat Hitlers, die über-asiatische, bestialische Tat eines Einzeltäters gewesen ist.

Hitler, der schwachsinnige, geistesgestörte, tollwütige reißende Wolf, ein Wesen, dem alle menschlichen Eigenschaften abgesprochen werden, ein Untier ohne menschlichen Subjektstatus – das ist das Bild, das Augstein entwirft, um die Deutschen um so leichter von Auschwitz abkoppeln zu können.

Dieses Porträt gewinnt noch weiter an Schärfe dadurch, daß Augstein die anderen Figuren seines Gemäldes zu Hitler in eine Relation setzt, die dieses Tier in menschlicher Gestalt weiter zu überhöhen geeignet ist:

Das Heer:

Beim Heer, das Hitler nicht in den Arm gefallen ist, „liegt (nach Augstein) die wahre Schmach und Schande“. Die „Heeresführung“ war von „Hitler und Göring … bis ins Mark demoralisiert worden.“ Keiner der Heeresgeneräle konnte ihn zurückhalten. Nur wenige sträubten sich, „eng mit den Todeskommandos der SS zusammenzuarbeiten.“ Selbst der begabteste Heeresführer Hitlers, Erich von Manstein, übernahm seine „schwachsinnige Parole“ anstandslos. Die Berufsoffiziere sind bloße Opportunisten. Sie „wollen in den Krieg, um befördert zu werden und sich auszuzeichnen. Diese hier wollten wegen der paar Juden nicht zurückstehen.“ Es waren „gedemütigte Herrschaften“, nicht aus dem Holz eines Scharnhorst oder Gneisenau geschnitzt. Sie wären auch ohne Hitler in Polen eingefallen – nur aus Kriegslust. Auf diesem Hintergrund von Schwäche und Primitivität der Heeresführung kann die Gestalt Hitlers nur um so stärker konturiert werden.

England, Frankreich, Polen:

Ähnlich verfährt Augstein mit den anderen Figuren seines Panoramas: Chamberlain war ein „konservativer Geschäftsmann“, dem große taktische Fehler unterlaufen sein mögen, und der die Tscheslowakei „opferte“, er ist schlicht „naiv“; Frankreich wird als „ängstlich“ bezeichnet, Polen als halbfaschistisch, die Widerstandskraft der Tschechen ist „schwer einzuschätzen“ usw. usw.

Israel:

Augsteins läßt seiner Wut gegenüber Israel freien Lauf, wenn er schreibt: „Als in Berlin die Mauer fiel, bebte in Israel die Erde. Nicht so sehr, weil man den wiedervereinigten Deutschen die damaligen Untaten nicht länger mit der bisherigen Verve würde vorhalten können, nicht aus Geldinteressen.“ Im Klartext: auch, weil die Juden nach der Vereinigung nicht mehr so gut dazu verwenden konnte, daß man ihnen Untaten vorwerfen konnte. Und auch: ansonsten handeln die Juden doch aus Geldinteresse – ein altes Klischee! Doch was ist nach Augstein der eigentliche Grund für das „Erdbeben“? Der folgende: „den bewußt lebenden Israelis (wurde) schmerzlichst in Erinnerung gerufen, daß Auschwitz mit konstituierend für ihr Selbstverständnis ist“, ja mehr noch, die Erde bebte in Israel (und drohte Israel zu verschlingen!), weil nach Abschwächung des so gegenwärtigen „Mythos »Auschwitz«“ (!) „der Anteil (in Erinnerung bleiben würde), den Hitler an der Schaffung des Staates Israel wider Wissen und Wollen genommen hatte.“ Hitler wird damit zu einem der Gründerväter des israelischen Staates hochstilisiert – für mein Verständnis eine schlichte gedankliche Perversion (=Verdrehung), die Augstein weiter bedient, indem er schreibt: „dem verrücktesten Feind ein Stück Staatsidee zu verdanken, das war ein bitterer Rückblick, zumal für die Gewissenhaften, denen plötzlich wieder vor Augen stand, wie weit sich der gegenwärtige Landnahmestaat von der Vision des Theodor Herzl entfernt hatte.“ Der Fall der Mauer, so folgert Augstein weiter, war es, der die Israelis dazu zwang, den „Ausgleich mit den gedemütigten Palästinensern“ zu suchen.

Daß Augstein vom „Mythos »Auschwitz«“ sprechen kann und dies trotzdem nicht als eindeutig und offen antisemitisch gedeutet werden kann, dies hat er dadurch abgesichert, daß er „die Plagen in Ägypterland und die Eroberung des Gelobten Landes Kanaan“ als Überlieferungen bezeichnet, die, „weil mythisch, nie sterben“. Er spielt hier mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „Mythos“, das einmal soviel wie Glorifizierung aus verschwommenenen und irrationalen Vorstellungen heraus bedeuten kann, „Mythos »Auschwitz«“ also mit „Auschwitz-Lüge“ identisch wäre; aber Mythos kann eben auchErzählung, Sage aus der Vorzeit eines Volkes bedeuten. Augstein kann sich zur Not immer auf diese zweite Bedeutung berufen, auch wenn dabei der Widerspruch bestehen bleibt, daß Mythen einerseits nie sterben können, wie Augstein bemerkt, sich andererseits der „Mythos »Auschwitz«“ aber „unweigerlich, wenn auch langsam abschwächen, ja, … vergehen“ könnte. Ist das nur sprachliche Unsensibiltät, wie sie Philipp Jenninger vorgeworfen werden konnte, oder bewußtes Klimpern auf der Klaviatur semantischer Mehrdeutigkeiten?

Augsteins Ausfälle gegen Israel lassen sich nur damit erklären, daß in seiner Sicht vor allem die Juden es sind, die dafür sorgen, daß der „Mythos »Ausschwitz«“ weiter bestehen kann und Deutschland dieses „Brandmal“ einfach nicht los wird.

Das gesamte Panorama, das Augstein hier entwirft, dient dazu, Hitler in seiner ganzen Monstrosität zu überhöhen, ihn zu demjenigen hochzustilisieren, der ganz allein für Krieg und Holocaust verantwortlich ist. Augstein zufolge war Hitler der größenwahnsinnige Alleintäter. Oh hätte „Frau Klara Hitler in Braunau am Inn 1889 (doch) eine Fehlgeburt erlitten“, seufzt Augstein beschwörend. Dann hätten wir den ganzen Ärger nicht am Hals gehabt… Dann wäre Deutschland ein normales Land…

Ein ganz normales Deutschland soll es wieder sein! Das ist Augsteins Traum, das beschwört Augstein, indem er Henry Kissinger mit den Worten zitiert, „daß die Deutschen nicht antisemitischer gewesen seien als andere Nationen, etwa Frankreich (Dreyfus!).“ Die Umstände, so zitiert Augstein Kissinger weiter, „besonders nach Kriegen und Katastrophen, ließen gewöhnlich den Haß auf Minderheiten, in diesem Fall auf die Juden, emporschießen.“ Das sei ein nobles, ein richtiges Wort.

Das heißt: Auschwitz ist eben passiert, wie ein Unglück passiert, etwa der Absturz eines Zeppelins. Da kann man nur doppeldeutig klagen: „Oh, that inhumanity!“ Das ist unmenschlich und Hitler ein Unmensch, eine reißende Bestie!

Daß der angeschlagene Mediencäsar Augstein in der Lage ist, einen solchen Text an ein Millionenpublikum potentieller Multiplikatoren heranzutragen – heute, 50 Jahre nach Auschwitz -, das ist das eigentliche Problem, das eigentlich prototypische Beispiel für den wieder anschwellenden Bocksgesangvon nationaler Größe, der sich um so leichtetr wieder anstimmen läßt, nachdem man Auschwitz zum „Mythos“ verniedlicht hat. Aber auch das ist kein „Unglück“, kein Pech, das man beklagen kann, aber hinnehmen muß.