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Der Singer-Diskurs

Der Singer-Diskurs sowie einige Bemerkungen zu seiner Funktion für die Stärkung rassistischer und rechtsextremer Diskurse in der Bundesrepublik Deutschland. ((Diesem Text liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 11.6.1990 an der Universität Duisburg im Rahmen einer Ringvorlesung zu Peter Singer gehalten habe. Für Anregungen danke ich Margret Jäger, Michael Kohnen, Wilma Kobusch und Jürgen Link.)) Von Siegfried Jäger. Zuerst erschienen in: ders. / Jobst Paul (1991): Von Menschen und Schweinen. Der Singer-Diskurs und seine Funktion für den Neo-Rassismus. Duisburg: Diss-Texte Nr. 13, S. 7-30.

Vorbemerkungen

Das Buch „Praktische Ethik“ des australischen Moral-Philosophen Peter Singer hat auch und besonders in der Bundesrepublik Deutschland heftige Kontroversen unter Philosophen und anderen Menschen ausgelöst. Befaßt man sich mit diesem Text unter diskursanalytischen Gesichtspunkten, sieht man diesen Text also nicht allein als philosophisches Werk an sich an, so lassen sich einige Erkenntnisse gewinnen, die meines Erachtens einen wichtigen Beitrag zur sogenannten Singer-Debatte zu leisten imstande sind. ((Vgl. dazu z.B. „Bio-Technik – Ethik – Geistige Behinderung. Ein europäisches Symposion, ein Eklat und sein Hintergrund, hg. von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V., Marbur 1989, ferner: Brigitta Huhnke: Das Buch wird unkritisch nachgebetet, FR vom 11.1.1990, sowie dies.: Wie Peter Singer deutsche Akademiker „schützen“ möchte, FR vom 19.4.1990))

Die „Praktische Ethik“ Peter Singers stellt, für sich betrachtet, nur ein Fragment eines Spezialdiskurses, des philosophischen Diskurses, genauer: eines moral-philosophischen Diskurses dar. Solche Spezial- oder Experten-Diskurse können aber unter bestimmten Bedingungen auf den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs (Interdiskurs) erheblichen Einfluß nehmen.

Ich möchte zeigen, erstens: daß und wie die „Praktische Ethik“ auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik einwirkt und zweitens: mit welchen Mitteln dies geschieht. Wenn ich mich dabei im folgenden auf die Euthanasie-Problematik konzentriere, dann tue ich dies, obwohl mir bewußt ist, daß es dem Singerschen Text nicht allein darum geht, sondern um die Entwicklung einer praktischen, also handlungsrelevanten Ethik insgesamt. Die Konzentration auf das Thema Euthanasie begründet sich einmal daraus, daß dieses Thema im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, die Singers Buch erfahren hat und erfährt. Anders ausgedrückt: Das Euthanasie-Thema ist offensichtlich das zentrale diskursive Element des Singerschen Buches, was sich an der heftigen öffentlichen Kontroverse über Singers Gedanken dazu in aller Klarheit ablesen läßt. Zweitens begründet sich die Konzentration auf dieses Thema, die übrigens nicht bedeutet, daß ich andere Theoreme Singers völlig beiseitelasse, daraus, daß sich an diesem Thema die Handlungsrelevanz von institutionalisierten Diskursen und damit deren gesellschaftlich-moralische Funktion besonders gut verdeutlichen läßt.

Ob Singers präferenz-utilitaristischer Ansatz vertretbar oder gar richtig ist, ob seine Argumentation stringent ist, ob seine Sprache angemessen ist oder nicht, ob seine Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse umfassend ist; ob seine Auswahl daraus parteilich und/oder selektiv ist; ob er den Leser durch rhetorische Tricks zu manipulieren sucht usw.usw. – das alles interessiert mich auch, aber es steht nicht im Mittelpunkt meiner Überlegungen. Schon gar nicht interessiert mich aber, ob Peter Singer und seine Adepten gute oder böse Menschen seien. Meine Frage gilt der Wirkung und dem gesellschaftlichen Stellenwert seines Diskurses, oder schlichter ausgedrückt: seines Textes.

I. Teil: Die Einspeisung von Peter Singers Spezial-Diskurs in den allgemein gesellschaftlichen Diskurs

1. Spezial-Diskurse wie Peter Singers Werk können direkt oder mit gewissen Verzögerungen auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs Einfluß nehmen, indem sie ganz oder partiell in diesen eingehen und damit gesellschaftliches Handeln legitimieren und zur Folge haben können. Der Diskurs, auch der Spezialdiskurs, hat also durchaus „Materialität“, mit anderen Worten: Er stellt eine materielle Faktizität dar und ist keineswegs „Schall und Rauch“ oder gar unverbindliches und praxisfreies Spekulieren. Er stellt eine – nicht die einzige – gesellschaftsbewegende Kraft dar und ist andererseits auch Produkt der Gesellschaft.

Diskurse können sich ändern, obwohl sie ein gewisses Beharrungsvermögen haben. Deshalb ist es auch immer erforderlich, Diskurse nicht nur in ihren aktuellen Bezügen zu sehen, sondern sie müssen auch immer in ihren historischen Bezügen betrachtet werden. ((Mit diesem Verständnis von „Diskurs“ stütze ich mich im wesentlichen auf den Diskurs-Begriff des französischen Sozial-Philosophen Michel Foucault, der auch den Arbeiten des Bochumer Sprach- und Literaturwissenschaftlers Jürgen Link zugrundeliegt.))

2. Wissenschaftliche Diskurse spielen sich oft über längere Zeiträume sozusagen hinter verschlossenen Türen ab. Sie beschäftigen die scientific-communitiy, ohne auf den Inter-Diskurs einzuwirken. Erst unter bestimmten Bedingungen, die historisch-politischer, aber auch ökonomischer und/oder technischer Natur etc. sein können, treten sie aus dem Dunkel der Insider-Diskussion heraus und finden, im allgemeinen vermittelt über die Medien, Eingang in den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs.

Ein vieldiskutiertes Beispiel hat sich uns vor einiger Zeit in Gestalt der sog. Historikerdebatte dargeboten. Lange Jahre war wissenschaftsintern darüber diskutiert worden, ob die Sowjetunion nicht eine große Mitschuld, wenn nicht gar die alleinige Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu tragen habe, ob es sich dabei nicht, wie Ernst Nolte behauptete, um eine „asiatische Tat“ gehandelt habe. Erst dadurch, daß große und wirkungsvolle Medien sich in diese Debatte einklinkten und ihre Spalten renommierten Autoren für diese Diskussion öffneten, wurde die Kriegsschuldfrage (wieder) zu einem verbreiteten und öffentlich diskutierten Thema. Das war natürlich kein Zufall, sondern diese Debatte muß auf ihrem historschen Hintergrund gesehen werden und im Zusammenhang mit einigen aktuellen politischen Entwicklungen wie Gorbatschows Neuem Denken, der konservativ-liberalen Wende in Bonn und dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland generell. Es ging darum, die deutsche Geschichte zu entlasten und bestimmte Werte wieder hoffähig zu machen, sie aus dem Schatten des Dritten Reiches wieder hervortreten zu lassen.

Der Text „Praktische Ethik“ ist strukturell in einem vergleichbaren diskursiven Zusammenhang zu sehen. Und wenn ich den bundesrepublikanischen Singer-Diskurs mit der Historiker-Debatte vergleiche, dann tue ich dies nicht mit diffamierender Absicht, sondern deshalb, weil ich zwischen diesen Diskursen durchaus einen inneren Zusammenhang sehe: Die Bewältigung der deutschen Vergangenheit. Betrachtet man den Singerschen Text für sich, könnte diese Behauptung als völlig absurd abgetan werden, dann könnte er als ein philosphischer Versuch unter vielen angesehen werden, dem keinerlei gesellschaftliche Bedeutung zuzusprechen wäre. Denn ohne die breite Aufnahme dieses Buches und seiner Thesen durch die Wochenzeitung „Die Zeit“ und andere entsprechende einflußreiche Medien wäre der Name Singer in der BRD wohl kaum über die Grenzen bestimmter universitärer Spezialistenzirkel hinaus bekannt geworden. Wenn ich mich im folgenden auf die Wochenzeitung „Die Zeit“ besonders beziehe, dann als Beispiel, das für viele steht, die ich aber selbstverständlich im Zusammenhang dieses Vortrags nicht annähernd erschöpfend ansprechen könnte. Gleichwohl scheint mir das Beispiel „Die Zeit“ besonders typisch zu sein.

Das Euthanasieproblem beschäftigte – unter unterschiedlichsten Aspekten – seit Beginn der siebziger Jahre die Redakteure der „Zeit“ immer wieder. ((„Die Zeit“ hat in dieser Zeit mehr als hundert Artikel zum Euthanasieproblem abgedruckt.)) Im vorigen Jahr (1989) aber erreichte diese Serie in einer dichten Folge von Dossiers und Kommentaren, Interviews, Berichten etc. ihren kampagnenartigen und aggressiven Höhepunkt und löste in einer breiten Öffentlichkeit lebhafte Pro- und Kontradiskussionen aus, die teilweise wiederum in die Universitäten zurückschwappten. ((Singers Text ist bereits Gegenstand in Veranstaltungen u.a. der Universitäten Berlin, Bochum, Bremen, Dortmund, Duisburg, Frankfurt, Hamburg und Saarbrücken gewesen.)) Für diese besondere Aggressivität der Kampagne der „Zeit“ möchte ich zumindest einige sprachliche und inhaltliche Beispiele anführen. ((Zur Rolle der „Zeit“ vgl. auch Oliver Tolmein: Tödlicher „Zeit“-Geist, konkret 6/1990, S. 20-23))

In einem Dossier von Reinhard Merkel vom 23.6.1989 mit dem Titel: „Der Streit um Leben und Tod“ werden die Gegner der Singerschen Thesen etwa folgendermaßen charakterisiert: Es handelt sich um einen „Chor protestierender Aufschreier“, die ein „maßloses Verdikt“ über diese Thesen verhängen; ihre Argumente sind gekennzeichnet von einem „Pathos der Hysterie“; sie stellen ein „hysterisches Echo“ auf Singer dar und sind gekennzeichnet „von jener eher peinlichen als bösartigen Beschränktheit“ und bedienen sich eines „dem Australier … vielfach entgegengeschrieene(n) >Faschist<„; sie bringen „Singers Gedanken umstandslos in den Umkreis der Nazimorde“ und sind gekennzeichnet von „aggressiver Intoleranz“; sie führen zudem einen „deutschen Abwehrkampf gegen Singer“ und betreiben „gewaltsame Abwehr philosophischer Gedanken. Dabei stehen sie selbst in einer „düstere(n) politische(n) Tradition, sie übersehen, „daß gerade der Teufel, den sie bekämpfen, in ihren eigenen öffentlichen Umgangsformen“ steckt.

Demgegenüber wird Singer als „eine der international profilierten Gestalten seines Faches“ dargestellt, ausgestattet „mit der Kraft des zwingenden Arguments“, der „eine moderne Variante des angelsächsischen Utilitarismus“ vertrete; und sein Präferenz-Utilitarismus sei „das logische Herz einer individualistisch-liberalen, demokratischen und säkularisierten Ethik“; zu den Verteidigern Singers gehöre „Der weltweit wohl renommierteste Moralphilosoph, Richard M. Hare“. Und all dem gegenüber urteilen seine Gegner „auf der Basis einer aggressiv disponierten Ignoranz“.

Diese rhetorische Praxis, die der Verächtlichmachung des Gegners dient, ist Rhetorikern, Diskursanalytikern, der Vorurteilforschung, der Psychoanalyse etc. seit langem bekannt. Sie folgt, psychologisch gesprochen, einem Ausschließungsbedürfnis, das sich einstellt, wenn Argumente vorgebracht werden, denen gegenüber man hilflos ist und die man einfach nicht wahr haben will oder kann. ((Zu der hier angesprochenen Ausschließungspraxis vgl. Stuart Hall 1989))

Diese Praxis ist im Alltag verbreitet, und insofern bedauerlich, aber nichts Neues. Sie ist im übrigen auch bei einigen Gegnern Singers zu beobachten, doch sie speist sich bei ihnen aus völlig anderen Motiven als in der „Zeit“. Zu fragen ist natürlich, weshalb „Die Zeit“ es als nötig ansieht, zu dieser Keule der Diffamierung und Ausschließung des Gegners zu greifen. Sehr vereinfacht ausgedrückt möchte ich meinen und im weiteren belegen, daß die „Zeit“-Kampagne auf einen Höhepunkt zusteuerte, bei dem den Gegnern Singers der „letzte Schlag“ versetzt werden sollte. Sie stören die Durchsetzung der Singerschen Thesen in den allgemeinen Diskurs und behindern den verfolgten Zweck: Die besonders durch die Praktiken der Nationalsozialisten diskreditierte Euthanasie im Bewußtsein der Menschen wieder moralisch zu rechtfertigen und diese Rechtfertigung im Massenbewußtsein zu verankern.

3. Peter Singers Text ist nun aber ganz besonders geeignet, die gewünschte Argumentation durch wissenschaftliche Autorität zu legitimieren. Die Kongenialität zwischen der „Zeit“-Argumentation und der der „Praktischen Ethik“ ist beispielhaft. Für die Durchsetzung von mehr Akzeptanz gegenüber bestimmten medizinischen und sozialen Praxen ist Singers „Ethik“ außerordentlich geeignet und willkommen. Und dies insbesondere aus den folgenden Gründen:

a. Singers „Ethik“ ist handlungsrelevant und preist sich selbst als handlungsrelevant an. Bei Singer heißt es direkt zu Beginn: „ein ethisches Urteil, das für die Praxis nichts taugt, muß gleichermaßen an einem theoretischen Defekt leiden, denn der Zweck moralischer Urteile insgesamt ist es, das Handeln zu leiten.“ (S. 10, meine Hervorh., S.J.). ((Ich zitiere im folgenden immer aus der deutschen Übersetzung der „Praktischen Ethik“, Stuttgart 1984 [Recclam-Ausgabe])) Singer definiert damit seinen Text im übrigen selbst theoretisch als Diskurs. Es geht ihm nicht so sehr um feinsinniges Philosphieren als solchem, sondern er verfolgt damit die Absicht, Einfluß auf gesellschaftliche Wirklichkeit zu nehmen. ((Das erwähne ich nur deshalb, weil die Behandlung des Singerschen Textes gelegentlich damit verteidigt wird, daß er eine besonders geeignete Lektüre für das Üben von philosophischer Argumentation im Proseminar darstelle)) Da wird Philosophie endlich mal praktisch und brauchbar, worin sich im übrigen ein Trauma andeutet, an dem heute die meisten Geisteswissenschaften leiden: Die Angst davor, gesellschaftlich marginal und irrelevant zu werden, zum Orchideenfach zu degenerieren oder gänzlich zu verschwinden.

Doch zum zweiten Grund:

b. Singers Text räumt gründlich auf mit allen christlichen Moralvorstellungen, die vielen Menschen trotz aller Säkularisierung als immer noch geltende moralische Norm zu schaffen machen. Kernsatz Singers: „Ich werde Ethik völlig unabhängig von Religion behandeln.“ (S. 12)

c. Singers Text schottet sich mit erheblichem Aufwand gegen den Vorwurf ab, daß seine Argumentation in der Tradition nationalsozilistischer Praktiken und Auffassungen stehe. Er kommt zu dem Fazit: „Die Nazi-Analogie ist irreführend.“ (S. 174)

d. Ferner: Singer hält es für nötig, auch dem Marxismus eine Absage zu erteilen. Er gebe „immer noch auf etwas unklare Weise den Anstoß zu vielen verschwommenen relativistischen Ideen.“ (S. 14)

Diese Optionen des Textes: Handlungsrelevanz, Relativierung bzw. Ablehnung christlicher Moralvorstellungen, Distanzierung vom Nationalsozialismus und vom Marxismus machen ihn für die Propagierung und Durchsetzung eines Dritten Weges der Moral äußerst interessant, eines Weges in Richtung Senkung sozialer Kosten und „Freie Bahn dem Tüchtigen und Leistungsfähigen“.

Daneben möchte ich aber noch einen weiteren Punkt ansprechen, durch den Singers Text für „Die Zeit“ attraktiv geworden ist:

e. Singer argumentiert mit einer Fülle von konkreten und sehr drastischen Beispielen, die meist plausibel wirken, wegen ihrer Horrorszenarien starke Wirkung ausüben und die – wie zu beobachten ist – Journalisten, offenbar wegen ihrer narrativen Strukturen, denn auch gerne und oft in besonders wirksamer graphischer Aufmachung anführen, um ihre Argumentation für die Euthanasie zu illustrieren.

Zu fragen ist natürlich, weshalb es der sonst als eher moderat und liberal geltenden „Zeit“ so sehr darum zu tun ist, zu diesem Zeitpunkt die Euthanasie mit den beschriebenen, teilweise radikalen sprachlichen Praktiken zu rechtfertigen. Darüber ist viel diskutiert worden, und ich will nur auf den allgemeinen Tenor verweisen: Die „Zeit“ gilt als die wichtigste Zeitschrift für den liberalen Akademiker und für das gehobene Management. Dieser Klientel geht es um ein ungestörtes Walten wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten und um „vernünftiges“ Wirtschaftswachstum. Dieses wird durch soziale Kosten etc. behindert. Diese entstehen auch durch die Existenz von Behinderten ((Auf die Problematik des Terminus „Behinderte(r)“ möchte ich an dieser Stelle nur verweisen. Wo fängt Behinderung an, wo hört sie auf?)) , insbesondere von Schwerbehinderten und die Perpetuierung kostspieliger Heil- und Pflegeverfahren, die teilweise erst durch die moderne Medizin möglich geworden sind. Das ist ein Strang solcher Begründungen: Ein anderer ist, daß insgesamt die Hemmschwelle gegenüber der Tötung von menschlichem Leben abgesenkt werden soll, um auf dem Weg z.B. über die Embryonenforschung auch neuen Biotechnologien, die eines Tages sehr profitabel zu werden versprechen, die gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen, die ihnen heute weitgehend noch fehlt. Diese Hemmschwelle speist sich einmal aus christlich-moralischen Vorstellungen über den Wert des Lebens, aber auch und nicht zuletzt aus dem Abscheu gegenüber den nationalsozialistischen verbrecherischen Euthanasie-Praktiken, denen viele tausend Menschen zum Opfer gefallen sind.- Ich will das hier so stehen lassen und begnüge mich damit, auf die breite öffentliche Diskussion zu verweisen. Ich will aber nicht verhehlen, daß ich solche Erklärungen für tendenziell richtig halte. Auffällig finde ich jedenfalls, daß die Zeit-Kampagne parallel lief zu bestimmten gesetzgeberischen Bemühungen in diesem Bereich, also z.B. der Verabschiedung des Gentechnik-Gesetzes. Der Singer-Diskurs der „Zeit“, mit nicht unerheblichem Einfluß auf den allgemeinen Diskurs, besonders aber auf eine wichtige soziale Gruppe von Multiplikatoren, hat hier ganz eindeutig seine Aufgabe gesehen. ((Diese Vermutung läßt sich dadurch weiter absichern, daß im Singer-Text an prominenter Stelle, nämlich auf der ersten Seite des Vorworts, selbst auf umstrittene Probleme bei Experimenten im Bereich der Gen-Steuerung hingewiesen wird.))

Der Singersche Spezialdiskurs befriedigt so in griffiger Form die „Zeit“-Bedürfnisse, die damit bestimmten Zeitbedürfnissen Rechnung zu tragen versuchte. Das ist der Grund, weshalb sich „Die Zeit“ bemühte, Singers Spezialdiskurs mit allen medialen Mitteln in den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs gleichsam hineinzupumpen.

II. Teil: Der Singersche Spezial-Diskurs und seine Wirkungsmittel

Nachdem so im Überblick die Funktion des Singerschen Spezialdiskurses für den allgemeinen Diskurs und die damit in Zusammenhang zu sehenden Interessen skizziert sind und die Geheimnisse seiner allgemeinen diskursiven Außen-Wirkung gelüftet sind, dürfte es interessant sein, diesen Spezialdiskurs bzw. dieses Spezialdiskurs-Fragment selbst etwas filigraner unter die Lupe zu nehmen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt seiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Spezialdiskurs und somit seiner unmittelbaren Auswirkungen auf die Scientific Community, insbesondere auf den wissenschaftlichen Nachwuchs. In einem ersten Schritt werde ich den Text knapp im Hinblick auf seine wissenschaftstheoretischen Grundlagen befragen, in einem zweiten seinen allgemeinen Tenor oder Ton beleuchten; sodann werde ich seine rhetorisch-sprachlichen Mittel, seine Metaphern und Kollektivsymbole, seinen Stil und dessen Funktion und seine Argumentationsweise abklopfen, wonach ich dann in einem vierten Schritt und abschließend der Frage nachgehen möchte, aus welchen Quellen sich Singers Text speist und ob er geeignet ist, rechtsextremen Propagandisten Argumentationshilfe zu geben bzw. deren Durchsetzungsfähigkeit zu verbessern.

1. Zunächst einge Bemerkungen also zur Wissenschaftlichkeit des Singerschen Textes

Singer ist bekanntlich Präferenz-Utilitarist, Vertreter und Propagandist also einer „instrumentellen Vernunft“, die scheinbar rational argumentiert, aber nicht mit dem Ziel, die Wahrheit zu ergründen, sondern Antwort auf die Frage nach der Durchsetzung eines bestimmten Interesses zu geben, egal ob dieses Interesse selbst vernünftig ist oder nicht. Dabei bedient Singer sich durchweg bestimmter narrativ-literarischer Strukturen und Szenarien, die scheinbar logisch sind, aber wegen ihrer Kasuistik keinerlei wirkliche Beweiskraft haben. Solche instrumentell-reduktionistische Vernunft hat nun keinen Begriff von Vernunft, außer dem genannten instrumentellen. So oder so ähnlich würden z.B. Horkheimer/Adorno den Singerschen Ansatz kritisieren und sagen: „In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. Was als Triumph subjektiver Rationalität erscheint, die Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus, wird mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche erkauft. Das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre raum-zeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen – der ganze Anspruch der Erkenntnis wird preisgegeben.“ ((Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 39))

Ich will mich nun aber nicht darauf einlassen, Singers Axiomatik im einzelnen zu hinterfragen usw. und/oder im einzelnen zu kritisieren. Gemäß meiner diskursanalytischen Vorgehensweise werde ich stattdessen ins Zentrum der Rechtfertigung seiner Argumentation hineinzusteigen versuchen: Singers „grundlegendes Prinzip der Gleichheit: das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen.“ (S. 32) Das ist ja ein löbliches Ziel, wenn man es differenziert verfolgt und das Problem der Gleichheit der Menschen wirklich ernst nimmt. Doch wie geht Singer vor? Singer geht es gar nicht wirklich um die Gleichheit von Menschen in ihrer ganzen menschlichen Existenz, sondern um abstrakte, vom Menschen abgezogene Interessen. Er sagt: „Interesse ist Interesse, wessen Interesse es auch immer sein mag.“(S. 33) Schmerz, Leiden, Glück können so unabhängig vom einzelnen Menschen betrachtet und universalisiert werden. Er sagt: „Der letzte moralische Grund für Schmerzlinderung ist einfach das Unerwünschtsein von Schmerz als solches …“(S. 33) Damit ist eigentlich bereits alles gesagt: Menschen werden nicht nur auf Aspekte ihres Menschseins reduziert, diese Aspekte können nun auch noch ganz unabhängig vom ganzen Menschen quantifiziert und gemessen werden. Rein auf die Objektwelt bezogene und zudem auch noch fragwürdige Theorien wie das Prinzip des sinkenden Grenznutzens (S. 36) können nun auf die Menschen bezogen werden, auf ihr Leben und Sterben. Dieser Reduktionismus, die Vertreibung des Menschen aus menschlichen Problemlagen, führt nun aber dazu, daß Singer später sagen kann: „Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird. Der Verlust eines glücklichen Lebens für den ersten Säugling wird durch den Gewinn eines glücklicheren Lebens für den zweiten aufgewogen.“ (S. 183) Daß an dem vernichteten Glück des einen Kindes ein ganzer Mensch dranhängt, mit all seinen Fähigkeiten, seinen Sehnsüchten, stört Singers methodologischen Individualismusnicht weiter. ((Dies verweist noch einmal auf Singers (präferenz-) utilitaristischen Ausgangspunkt. Er „universalisiert“ die Annahme, das Individuum stehe im Gegensatz zur Gesellschaft. Sehr klar kommt dies in der folgenden Aussage Singers zum Ausdruck: „Der Begriff des Lebens nach moralischen Maßstäben ist mit dem Begriff des Verteidigens der eigenen Lebensweise oder der Argumentation für die eigene Lebensweise oder mit ihrer Rechtfertigung verknüpft. Daher können Menschen alles tun, was wir als falsch betrachten, und doch nach moralischen Maßstäben leben, falls sie bereit sind, das, was sie tun, zu verteidigen und zu rechtfertigen.“ (S. 19 f.) Damit ist Moral von Sozietät abgekoppelt.)) Stimmt die Menge des Glücks nicht, dann kann es eliminiert werden und das restliche Anhängsel Mensch zugleich mit dem bißchen Glück liquidiert werden. Da Singer nun auch bestimmte Tiere als Personen definiert und bestimmte Mitglieder der Gattung Homo Sapiens als Nichtpersonen ausgemacht hat, schreibt er: Es gibt „starke Gründe dafür, das Leben von Personen über das Leben von Nichtpersonen zu stellen“, so daß „die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist, als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine Person ist.“ (S. 135) Singers Konsequenzen aus seinem Interessen-Quantifizierungsansatz (Quantifizierung von Qualität) gehen so weit, daß er auch vor der Tötung gesunder Kinder nicht halt gemacht sehen möchte. Ein Kind, das erst wenige Tage alt ist, ist ja nach seiner Definition keine Person, und Nicht-Personen dürfen getötet werden.

Damit habe ich nur einige Konsequenzen aus dem Singerschen Argumentationsgang benannt. Sollten dies nicht dazu taugen, diesen Ansatz prinzipiell in Frage zu stellen? Ich denke schon, denn diese Konsequenzen, die Singer unter Verweis auf deren Handlungsrelevanz zieht, sind unmittelbar aus diesem wissenschaftstheoretischen Ansatz abgeleitet. Unter diskursanalytischen Gesichtspunkten betrachtet, also im Hinblick auf die Auswirkungen des Singerschen Diskurses noch bedeutsamer aber ist die Tatsache, daß der Singersche Diskurs als wissenschaftlich gilt, also institutionalisiert und mit Macht ausgestattet ist. ((Durch die ständige Verwendung narrativer Strukturen in seinen Horrorszenarien, mit deren Hilfe er seine Argumentation begründen will, schert Singer im übrigen aus dem philosophischen Spezialdiskurs aus und bedient sich interdiskursiver, also unwissenschaftlicher Elemente. Sein Anspruch, sich mit der „Praktischen Ethik“ innerhalb eines wissenschaftlichen Spezialdiskurses zu bewegen, entpuppt sich dadurch als Etikettenschwindel.)) Er beansprucht als wissenschaftlicher Diskurs Autorität, verlangt Respekt, imponiert. Besonders jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen lassen sich durch die scheinbare Klarheit der Argumentation beeindrucken und kommen häufig zu dem Schluß: Die Konsequenzen gefallen mir zwar nicht, aber da sie wissenschaftlich begründet sind, muß man sie wohl akzeptieren. Das meine ich überhaupt nicht polemisch. Ich referiere authentische Erfahrungen!

Andererseits ist zu beobachten, daß die Singerschen Ideen vielen direkt oder indirekt betroffenen Menschen unmittelbar Angst machen. Sie attackieren den Text und die Personen, die ihn verteidigen, durchaus aggressiv mit verbalen und gelegentlich auch nichtverbalen Mitteln, und sie verhalten sich auf den ersten Blick ganz ähnlich wie die Verteidiger Singers, die ja keineswegs zimperlich mit ihren Gegnern umgehen. Die Motivation der Gegner Singers, aus der heraus agiert wird, ist aber eine andere als die der Verteidiger Singers: Das ist ihre sehr direkte oder indirekte Bedrohtheit an Leib und Leben. Zugleich ist zu konstatieren, daß man ihnen ihre Betroffenheit auch noch perverserweise zum Vorwurf macht, der Art, daß man sagt, ihre Betroffenheit hindere sie an klarer und rationaler Auseinandersetzung. Ich würde mir deshalb wünschen, die Kritik der Singer-Gegner sollte nach Möglichkeit gepaart sein mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zur Kritik der instrumentellen Singerschen Vernunft, vor deren praktischen Konsequenzen sie ja unmittelbare Angst haben müssen. Zu verwehren ist es aber m.E. keinem, sich ganz bewußt außerhalb des Singerschen Spezialdiskurses zu stellen und vehement die Konsequenzen aus Singers Spekulationen anzugreifen, die – wie ich gezeigt habe – ja durchaus ebenfalls außerhalb wissenschaftlicher Betätigungen angesiedelt sind. Das ist ihr gutes demokratisches Recht aller Betroffenen..

2. Zum Tenor bzw. Ton des Textes

Der Verfasser charakterisiert sich selbst in seinem Text als modern, aufgeschlossen, weit entfernt von jedem Rassismus, Chauvinismus und gar Nationalsozialismus, als aufgeklärt, als Tierfreund und Gegner von Tierversuchen, als frei von Tabus, als jemand, der sich um die Menschen in der Dritten Welt sorgt, als kapitalismus-kritisch etc. etc. Dies führt zusätzlich dazu, daß der Text gegen Kritik immunisiert wird und dient dem Zweck, den Eindruck der Glaubwürdigkeit und Lauterkeit der Argumentation dieses Textes zu erhöhen. Der Text erhält dadurch so etwas wie einen semantischen Humanitätsrahmen, der sich so auswirkt, daß die Argumente Singers als letztlich auch von Menschlichkeit etc. geleitet erscheinen. Seine Wirksamkeit auch für den wohlmeinenden wissenschaftlichen Anfänger wird dadurch nicht unerheblich vergrößert.

3. Die rhetorsch-sprachlichen Mittel des Singerschen Diskursfragments

Singers Text stellt eine Fundgrube für wirkungsvolle rhetorische Mittel und Tricks dar, die ich hier nur beispielhaft darstellen kann.

Singer wählt ständig Formulierungen, durch die er seine Aussgagen relativiert:

So schreibt er Z.B.: Dies – gemeint ist sein Text – „ist nicht die einzig mögliche Auffassung von Ethik, aber es ist eine, die plausibel ist.“ (S. 18) Scheinbar tolerant verweist Singer darauf, daß es auch (ein paar) andere Positionen gebe, seine sei aber eine plausible. Hier wird deutlich, daß es Singer nicht darum geht, seine Position wirklich wissenschaftlich und in Auseinandersetzung mit anderen, auch für ihn plausiblen Positionen zu begründen. Und deren gibt es ja seit Platon die Hülle und die Fülle. Es geht ihm, wie er weiter schreibt, „lediglich“ um eine „Darlegung der Annahmen“, die dem Text zugrundeliegen (S. 18), deren Plausibilität oder gar Richtigkeit aber bloße Behauptung bleibt. Daß diese Annahmen und Plausibilitäten gravierende praktische Konsequenzen haben, hätte ihn veranlassen müssen, ihre Richtigkeit in Auseinandersetzung mit anderen Positionen explizit zu begründen. Die damit auf ihn zukommenden Einwände tut Singer aber völlig cool ab, indem er formuliert: „Wer aber glaubt, diese undiskutierten Einwände würden meine Position widerlegen, dem kann ich nur sagen, …“ (S. 18) Singer relativiert, um sich gegen Kritik zu immunisieren.

Eine ähnliche Immunisierungsstrategie enthält die folgende Äußerung: „Dies bürdet meines Erachtens denen die Beweislast auf, die über den Utilitarismus hinauszugehen trachten.“ (S. 24) Das wirkt locker vom Hocker und naßforsch, wenn man bedenkt, daß der Utilitarismus nur eine und zudem höchst umstrittene philosophische Position darstellt. Ich verweise dazu z.B. auf das soeben erschienene Buch des Hamburger Philosophen Ulrich Steinvorth mit dem Titel „Klassische und moderne Ethik“.

Weitere Beispiele sind: „Ich neige zu einer utilitaristischen Position…“ (S. 25) „Ich werde den Utilitarismus nicht als die einzige erwägenswerte ethische Position betrachten …“(ebd.), was er dann aber doch tut, indem er kurz und knapp und außerordentlich selektiv andere Positionen anreißt, meist zudem auch noch in völlig entstellender Weise, und dann vom Tisch fegt. Oder indem er auf die „relativen Vorzüge“ (ebd.) der utilitaristischen und nicht utlitaristischen Positionen verweist oder bemerkt: „Zugegeben, das alles ist spekulativ.“ (S. 136).

Höchst umstrittene wissenschaftliche Positionen, wie die von Arthur Jensen, die er aber für seine Argumentation braucht, werden ebenfalls verbal relativiert und als „ausgesprochen vorsichtige Behauptung“ (S. 39) charakterisiert, ohne daß er wirklich Farbe bekennt. So heißt es etwa: „Angenommen, Jensen hat recht – bedeutet das…“ (S.39). Ein weiteres geradezu klassisches Beispiel lautet: „Ich sage nicht, daß das stimmt, auch nicht, daß es überhaupt wahrscheinlich ist, aber es kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.“ (S. 62)

Singers Sprach-Duktus ist vielfach nur als autoritär zu bezeichenen. So formuliert er z.B.: „Es ist eine offene Tatsache, daß die Menschen verschieden sind…“(S. 28) Oder: „Es wurde nachgewiesen, daß Aggressionen entsprechend dem Niveau der Sexualhormone variieren und daß Frauen aggressiver werden, wenn sie männliche Hormone empfangen.“ (S. 47f.) Dabei gehe ich hier nur auf den Duktus ein, der aber um so unangenehmer ist, als die Behauptung, die hier aufgestellt ist, völlig haltlos ist. Ein weiteres Beispiel: „In diesem Kapitel haben wir gesehen, daß die einzige mögliche Basis für die Behauptung, alle Menschen seien gleich, das Prinzip der gleichen Interessenerwägung ist.“ (S. 63) Haben wir das wirklich gesehen? Oder will uns der Autor nur vereinnahmen? Gerade hier gibt es ja nun eine Viezahl anderer Positionen und Herleitungen. Oder: „Nach der … akzeptierten Erörterung des vorhergehenden Kapitels …“ (S. 107) Haben wir wirklich akzeptiert, und was, wenn nicht? Sehr autoritär wirkt auch: „Auf jeden Fall kenne ich kein besseres Argument zur Verteidigung dieses angeblichen Rechts als Tooleys Argument.“ (S. 115) Tooleys Argument ist, „daß die Fähigkeit, die eigene Zukunft ins Auge zu fassen, die notwendige Bedingung für den Besitz eines ernstzunehmenden Rechts auf Leben ist.“ (bei Singer S. 115) Gibt es wirklich kein besseres Argument, ist man geneigt zu fragen, oder will uns der Text hier nur autoritär übertölpeln? Gelegentlich ist der Ton des Textes nur als herablassend zu bezeichnen: „Gewiss gibt es soziale Konditionierung …“ (S. 46) Oder: „Dazu ist allerdings eine Bereitschaft nötig, den Argumenten zu folgen, wohin auch immer sie führen …“ (S. 71) Viele Passagen wirken einfach zynisch, z.B.: „Daß die Opfer nach der Ermordung nicht mehr da sind, um sich darüber zu beklagen, daß ihre Präferenzen nicht beachtet worden sind, ist unerheblich.“ (S. 112)

Ein interessanter rhetorischer Trick ist die Verwandlung von Meinungen, Ansichten und Spekulationen in Tatsachen. So heißt es etwa: „Einige Ärzte, die an schwerer Spina bifida leidende Kinder behandeln, sind der Meinung, das Leben mancher dieser Kinder sei so elend, daß es falsch wäre, eine Operation vorzunehmen, um sie am Leben zu erhalten.“ So weit die referierte Meinung. Im Text heißt es dann aber weiter: „Das bedeutet, daß ihr Leben nicht lebenswert ist.“ (S. 181) Ähnlich heißt es: „Es könnte sein, daß die Schwarzen für die Art von Studium, die ein angehender Arzt absolvieren muß, durchschnittlich weniger begabt sind. Ich sage nicht, daß das stimmt, auch nicht, daß es überhaupt wahrscheinlich ist, aber es kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.“ Und dann heißt es weiter: „Danach ist eine unverhältnismäßig kleine Anzahl von schwarzen Ärzten für sich genommen noch kein Beweis für die Diskriminierung der Schwarzen.“ (S. 62) So verwandelt man Wasser in Wein.

Interessant ist, wie der Text sich gegen den Vorwurf zu immunisieren versucht, er enthalte Argumente und Positionen, die ihn in die Nähe rassistischer, sexistischer und nationalsozialistischer Positionen stellten. Gerade bei diesen Versuchen werden in diesem Text aber gelegentlich Affinitäten zu Positionen sichtbar, von denen er sich zu distanzieren versucht. Zunächst erscheinen die Distanzierungen ganz eindeutig, so wenn gesagt wird, man solle zwar nicht lügen; dieser Regel immer stur zu folgen, könne jedoch Unheil bringen; so sei Lügen immer gerechtfertigt gewesen, wenn es darum gegangen sei, Juden vor der Gestapo zu schützen. (S. 11) Wer wollte in diesem Fall widersprechen? Interessant ist auch die folgende Passage, in der der Nazismus auf eine Weise dargestellt wird, wie man dies sonst nur an bestimmten Stammtischen zu hören bekommt. Da heißt es: „Erörtert man die Lehren, die aus dem Nazismus zu ziehen sind, ist es vor allem wichtig, einen offensichtlichen Trugschluß zu vermeiden. Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, daß alles, was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebensowenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen können. Wenn die Euthanasie aus irgendeinem Grund zwangsläufig zu den Greueltaten der Nazis führen würde, dann wäre das ein Grund, die Euthanasie zu verdammen. Aber ist für die Massenmorde der Nazis nicht eher der Rassismus verantwortlich zu machen als die Euthanasie?“ (S. 210f.) Der Text spielt hier völlig offen auf das sog. „Autobahn-Argument“ an, wie dies jede Verteidigung des Nationalsozialismus schon immer getan hat. Peinlich, weil völlig klar ist, daß die Autobahnen strategische Mittel der Hitlerschen Kriegsführung waren. Schlimm, daß hier die Nazi-Euthanasie gerechtfertigt wird, als Normalpraktik hingestellt wird, die ebensowenig wie Autobahnbau moralisch verdammt werden könne. Beim Leser bleibt die Rechtfertigung der Nazi-Euthanasie hängen, auch wenn es auf der nächsten Seite relativierend heißt: „Im Fall des Nazismus war es die rassistische Einstellung gegenüber >Nicht-Ariern< …, die die Massenvernichtung möglich machte.“ Sie sei auch nie freiwillig gewesen etc. [S. 212]. ((Aber auch Singer rechtfertigt Fälle nichtfreiwilliger Euthanasie bei „schwer mißgebildete(n) oder stark zurückgebliebene(n) Säuglinge(n, sowie Menschen, die durch Unfall, Krankheit oder hohes Alter die Fähigkeit auf Dauer verloren haben, das Entscheidungsproblem zu verstehen, ohne daß sie zuvor Euthanasie unter diesen Umständen gefordeert oder abgelehnt hätten.“ [S. 177f.]:)) Und er schließt: „Zwischen diesen Praktiken (der Nazis S.J.) und den Vorschlägen derer, die heute Euthanasie zu legalisieren versuchen, besteht keine analoge Verbindung.“ (ebd.) Solche Analogien werden aber im Text selbst suggeriert, auch wenn es zunächst heißt, rassistische Vorurteile seien heute, zumindest im öffentlichen Leben, unannehmbar. (S. 26) Solche scheinbar klaren Positionen werden fast durchgängig wieder verwässert. Das beginnt damit, daß von „rassischen Minderheiten“ überhaupt die Rede ist. (S. 9) Denn es ist erwiesen, daß die genetischen Unterschiede innerhalb sog. Rassen größer sind als die zwischen sog. Rassen (vgl. Lewontin, Kamin, Rose 1988, S. 96-102). Die Rede von menschlichen Rassen ist demnach wissenschaftlich unhaltbar. Oder aber, wenn es heißt, daß man ja einmal über das Einverständnis hinausgehen könne „daß eklatante Formen der Rassendiskrimination falsch sind“. (S. 27) Hier wird einmal so getan, als sei dies so ohne weiteres möglich, zum zweiten enthält dieser Satz das Implikat, daß nicht eklatante Formen des Rassismus nicht falsch seien. Eine nicht eklatante Form des Rassismus, also durchaus Rassismus, wird so unterschwellig als akzeptabel dargestellt. Dabei beruft sich der Text auf die Kronzeugen aller modernen Rassisten, die Wissenschaftler Arthur Jensen und Hans Jürgen Eysenck, worauf ich später noch zu sprechen kommen werde. Hier geht es ja zunächst nur um bestimmte rhetorische und diskursive Tricks und deren Wirkungen. Auch die folgende Passage zum Rassenproblem verdient wegen des darin enthaltenen Implikats genauere Beachtung: Da heißt es im Zusammenhang mit Singers Herleitung seines Gleichheitspostulats auf der Grundlage der gleichen Interessenerwägung: “ Es gibt eine andere mögliche Verteidigungslinie für die Annahme, daß es eine faktische Basis für ein Prinzip der Gleichheit gibt, das Rassismus und Sexismus verbietet. Wir können zugestehen, daß Menschen sich als Individuen unterscheiden, und doch darauf bestehen, daß es keine moralisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den Rassen und Geschlechtern gibt. Das Wissen, daß jemand schwarz oder weiß, weiblich oder männlich ist, befähigt uns nicht zu Schlüssen über Intelligenz, Gerechtigkeitssinn, Tiefe der Gefühle oder irgend etwas, das uns bevollmächtigen würde, sie oder ihn ungleich zu behandeln. Die rassistische Behauptung, die Weißen seien den Schwarzen in diesen Fähigkeiten überlegen, ist in diesem Sinne falsch. Die Unterschiede zwischen Individuen verlaufen nicht nach rassischen Linien, ja manche Schwarze sind den Weißen in allen diesen Hinsichten überlegen.“ (S. 30f.) Auch hier wird die Existenz von Rassen wiederum in Gestalt eines Implikats akzeptiert. Bestritten wird zwar, daß Rassenunterschiede mit moralisch zu bewertenden Unterschieden einhergehen, ausgeschlossen wird jedoch nicht, daß es andere Unterschiede gibt, welche auch immer. Einige weitere Beispiele: „Von diesem Standpunkt aus ist die Rasse unerheblich für die Interessenerwägung …“ (S. 33) „Daher zeigt das Prinzip der gleichen Interessenerwägung unmittelbar, weshalb die eklatantesten Formen des Rassismus, wie etwa jener der Nazis, ungerecht sind. “ (S. 34) Weniger eklatante Formen des Rassismus sind also gerecht, kann man schlußfolgern. Ferner heißt es z.B. „krassere Formen von Rassismus und Sexismus“ sind auszuschließen. (S. 35) Oder: Wir werden „vermutlich fortfahren, die Menschen mit ererbten Fähigkeiten am besten zu bezahlen …“ (S. 59), eine Feststellung, in die eingeht, daß die Gene für menschliche Fähigkeiten von ausschlaggebender Bedeutung sind, was ja höchst zweifelhaft ist. Solche Implikate, von denen es in diesem Texte eine ganze Fülle gibt, ja geradezu wimmelt, auch zu Themen wie angeblich größerer angeborener Aggressivität bei Männern, unterschiedlichen angeborenen visuell-räumlichen Fähigkeiten bei Männern und Frauen usw., haben enorme Wirkung auf das Bewußtsein der Rezipienten, wie die Verstehensforschung eindeutig nachgewiesen hat. Der Leser/Hörer löst diese Implikate i.R. auf, er vollzieht sogenannte Inferenzen, und speichert sie als Tatsachen ab. ((Vgl. dazu z.B. van Dijk 1980 und 1987)) Das mag nicht die Absicht des Verfassers gewesen sein, zugegeben, aber das macht einen Teil der Wirkung dieses Textes als Diskursfragment aus. Und nur darum geht es mir in diesem Zusammenmhang.

Zur Wirkung des Singerschen Textes trägt nun auch erheblich seine Sprache bei, die von ihm verwendeten Scenarien, seine Metaphern und Kollektivsymbole bis hin zur Vorliebe für bestimmte Verben, seine Versuche, den Leser durch das vereinnahmende „wir“ zu seiner Position hinüberzuziehen bis hin zur sehr fatalen Verwendung generischer Pronomina. Ich will hier nur einige knappe Verweise geben, die aber als exemplarisch gelten können.

a. Seine blutrünstigen Horrorscenarien beziehen sich ausnahmslos auf absolute Extremsituationen. Da werden Knochen zerschmettert, Schädel gespalten, schreckliche Unfälle geschildert und extreme Behinderungen ausgebreitet. Die Menschen werden in Entscheidungssituationen gestellt, wie mir das bisher nur von bestimmten Satiren auf Befragungen von Wehrdienstverweigerern bekannt war. Natürlich ist nicht zu bestreiten, daß es solche extremen Lebenssituationen gibt. Ich halte es nur für typisch, daß diese zur emotionalen Absicherung der Singerschen Argumentation instrumentalisiert werden, indem sie den schnellen Tod geradezu verklären.

b. Sehr auffällig ist die in diesem Text weit ausgespannte Tier-Metaphorik, vor allem in Verbindung mit destruktiven Konnotationen. Sie werden insbesondere verwendet, um werdende Kinder, Neugeborene, Schwerstgeschädigte jeden Alters aus der menschlichen Gemeinschaft auszugrenzen. Nur ein Beispiel: „So scheint es, daß etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine Person ist.“ (S. 135) ((Zur Tier-Metaphorik bei Singer vgl. Paul 1990))

c. Zur Erzeugung eines „gewaltästhetischen Klimas“ durch den Singerschen Text trägt erheblich bei, daß Verben aus dem Wortfeld des Tötens in einer Zahl vorkommen, die auch nicht annähernd durch das gestellte Thema bedingt erscheint. Ich zitiere dazu nur eine einzige Passage, die sich in Tod, Agonie und Folter geradezu suhlt.: „Der einzige Fall, wo das Bevormundungsargument überhaupt plausibel ist, liegt dann vor, wenn die Person, die getötet werden soll, nicht erkennt, welche Agonie ihr in der Zukunft bevorsteht, und daß sie diese, falls sie jetzt nicht getötet wird, bis zum bitteren Ende wird durchstehen müssen. Aus diesen Gründen mag man eine Person töten, die – obwohl sie es noch nicht merkt – in die Hände von mörderischen Sadisten gefallen ist, die sie zu Tode foltern werden.“ (S. 200) Das hört sich an wie das Drehbuch zu einem Sado-Horrorfilm und beinhaltete, aufs die Situation im sog. Dritten Reich angewandt, daß die Bevölkerung die Juden ermordet hätte, um sie vor der Ermordung durch die KZ-Schergen zu beschützen.

d. In einigen Passagen verwendet Singer das weibliche Personalpronomen „sie“, während er sonst durchgängig das männliche Pronomen gebraucht. Er begründet dieses Verfahren als Beispiel für umgekehrte Diskriminierung und schlägt vor, „eine Zeitlang das „sie“ so zu verwenden, daß es weiblich und männlich einschließt.“ (S. 69) An ganz wenigen Stellen des Textes tauchen dann auch weibliche Pronomen auf. Ein Beispiel findet sich in der folgenden Passage, ebenfalls einem Horror-Scenario: „Angenommen, das Opfer eines Verkehrsunfalls liegt mehrere Monate im Koma. Große Teile des Gehirns sind zerstört, und es besteht keine Aussicht auf Genesung; nur ein Atmungsgerät und intravenöse Ernährung halten die Frau am Leben. Die Eltern besuchen sie täglich, und sie leiden offensichtlich unter der großen Nervenbelastung. Von all dem weiß die Ärztin des Opfers, als sie eines Tages bemerkt, daß sich der Stöpsel des Atmungsgeräts gelöst hat. Wenn sie ihn nicht wieder einsetzt, wird das Opfer sterben. Nachdem sie über die Situation nachgedacht hat, entscheidet sie sich dafür, ihn nicht wieder einzusetzen.“ In einem direkt folgenden „Fall“ gibt eine Ärztin einer Patientin eine tödliche Injektion. (S. 205f.) Ein weiteres Beispiel: „Gesetzt den Fall, jemand ist unheilbar krank; sie leidet unter unerträglichen, nicht zu lindernden Schmerzen und bittet ihre Ärzte, sie mögen ihr Leben beenden.“ (S. 190) Ganz selten setzt Singer auch weibliche Pronomina gegen die Regeln der überlieferten Grammatik ein: Ein Beispiel: „Wem diese Feststellung zu schroff erscheint, die möge sich selbst fragen, ob …“ (S. 189) Ich will das nicht überinterpretieren: aber dieser pötzliche Rollenwechsel übt starke Wirkung aus, emotionalisiert die Aussage und bezieht ganz bewußt auch die weibliche Leserschaft ein, indem auch Frauen als Opfer und als Täterinnen markiert werden, so daß ich, ohne mich auf psychologische Spekulationen einlassen zu wollen, doch sagen möchte, daß hier ein weiteres rhetorisches Mittel vorliegt, mit dem die Suggestivität dieses Textes verstärkt wird. ((Singer hat sich auch mit Problemen feministiscgher Linguistik auseinandergesetzt (vgl. S. 68 f.), die beklagt, daß Frauen in der Sprache häufig nicht vorkommen. Singer läßt hier Frauen in der Regel in Gestalt femininer Pronomina durchaus auftreten, aber seltsam eklektisch. So ferner nur S. 1o5, 190, 193f., 205, 221, 223, 225, 232, 276) Auf eine genauere Auseinandersetzung mit Singers Befassung mit Sexismus in der „Praktischen Ethik“ muß ich hier verzichten. Sie ist allerdings ähnlich aufschlußreich wie seine Auseinandersetzung mit dem Rassismus.))

Diese und andere Beobachtungen lassen m.E. den Schluß zu, daß der Text bewußt auf Wirkung aus ist, mit Theater- und Horroreffekten arbeitet, eine (fragwürdige) und völlig unausgegorene Position um fast jeden Preis und mit fast jedem Mittel durchsetzen möchte. Auch dies dürfte ihn dafür geeignet gemacht haben, zum Paradepferd für die oben skizzierte „Zeit“-Kampagne zu avancieren.

4. Die Quellen aus denen sich der Text speist und die Auswirkungen bezüglich der Legitimation rechtsextremer Diskurse

Eher in Form einer knappen Skizze möchte ich auf die Affinitäten der Texte von Singer, Jensen und Eysenck zum Rechtsextremismus verweisen. Singers Text operiert mit zentralen Argumenten von Arthur Jensen und Hans-Jürgen Eysenck. Diese aber fungieren als die Kronzeugen der „rassistischen Internationale“, wie Michael Billig eindrucksvoll nachweist. Sie widersprechen den rassistischen Argumenten der rechtsextremen Presse nicht etwa, sondern lassen sich z.B. in „Nation Europa“, einem in der Bundesrepublik erscheinenden rechtsextremen Zentralorgan, seit Jahren regelmäßig zitieren, um nicht zu sagen: feiern. Darüberhinaus geben sie solchen Organen Interviews, schreiben darin etc. Eysenck stellt sich zudem rückhaltlos hinter rechtsextreme Theorie-Zirkel wie z.B. das Kasseler Thule-Seminar. Zu dem von dessen Leiter herausgegebenen Buch mit dem Titel „Das unvergängliche Erbe“ verfaßte er das Vorwort, in dem er gegen die Gleichheit der Menschen wettert, indem er sie als „unhaltbare ideologische Doktrin“ abtut. (in Krebs 1981, S. 12) Im gleichen Buch findet sich ein offen rassistischer Artikel von einem Jörg Rieck „Zur Debatte der Vererblichkeit der Intelligenz“, der sich in vielen Zitaten und in mehr als 50 Anmerkungen auf Arbeiten von Jensen und Eysenck stützt. Rieck plädiert hier u.a. mehr oder minder verdeckt für die genetische Verbesserung des Volkes durch Auslese. Der Name Jörg Rieck steht wahrscheinlich als Pseudonym für den Neo-Faschisten Jürgen Rieger, dessen Kernthese lautet: „Die Geschichte ist eine Geschichte von Rassenkämpfen.“ (Billig 1981, S. 118) Neuestes Beispiel für die immer noch anhaltenden rechtsextremen Aktivitäten von Eysenck: In der April-Ausgabe der rechtsextremen Nationalzeitung von 1990 schreibt Eysenck einen Artikel, in dem er Sigmund Freud der Verschlagenheit und mangelnder Aufrichtigkeit zeiht, wobei zugleich auf Freuds jüdische Herkunft verwiesen wird. Stolz verkündet die in letzter Zeit immer offener antisemitisch auftretende Deutsche Nationalzeitung, die von dem bekannten Alt-Rechten und Führer der Deutschen Volksunion Dr. Gerhard Frey herausgegeben wird, daß Hans-Jürgen Eysenck „seit längerer Zeit zum Mitarbeiterstab der Deutschen Nationalzeitung und des Deutschen Anzeigers gehört.“ ((Auf der gleichen Seite dieser Ausgabe der National-Zeitung wird darauf hingewiesen, daß Ibrahim Böhme „jüdischen Geblüts“ sei.))

Arthur Jensen gehört u.a. seit vielen Jahren dem Wissenschaftlichen Beirat der rassistischen Zeitschrift „Neue Anthropologie“ an, die von der „Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung“ herausgegeben wird und in der er regelmäßig veröffentlicht. ((Hier veröffentlichte er u.a. neben bekannten Rechtsextremisten wie J. Rieger, Pierre Krebs, Alain de Benoist, Christian Mattausch etc. z.B. im Jg. 1974: Zur stammesgeschichtlichen und individuellen Entwicklung der Intelligenz; 1976: Eine Zweifaktorentheorie des familiären Schwachsinns; 1977: Die falschen Anschuldigungen gegen Sir Ceryl Burt; 1978: Der gegenwärtige Stand der IQ-Kontroverse.))

Obwohl Singer bestreitet, auf der „schiefen Bahn“ zu sein, dürfte eigentlich klar geworden sein, daß genau dies der Fall ist, daß er – ob er.s nun bewußt tut oder nicht – latent rechtsextremem Denken Vorschub leistet. Diskursanalytisch formuliert: In Singers Text werden die Arbeiten von Jensen und Eysenck insgesamt positiv gewürdigt und als solche in den philosophischen Spezialdiskurs eingespeist, der – wiederum – wie beschrieben, mit Hilfe der Medien in den allgemeinen Inter-Diskurs Eingang nimmt. Singers Text versucht sich zwar auch hier wieder zu immunisieren, wenn es heißt: „Ich befasse mich … mit den Implikationen dieser Theorien für die Idee der Gleichheit. Dazu ist es für uns nicht erforderlich, die Wahrheit der Theorien zu ermitteln.“ (S. 39) Aber er fährt wenig später fort: „Es wäre jedoch äußerst peinlich, wenn unser Skeptizismus in solchen Dingen uns dazu veranlaßte, diese Fragen zu vernachlässigen, diese Theorien sich dann aber überraschend als stichhaltig erwiesen und zu dem Ergebnis führen, daß eine verwirrte und unvorbereitete Öffentlichkeit aus ihnen Implikationen für das Ideal der Gleichheit herausläse, die sie gar nicht haben.“ (S. 40) Diese Implikationen sind aber längst herausgelesen worden und finden sich selbst in heute gängigen Schulbüchern und Lehrmitteln. ((Als ein Beispiel für viele vgl. „Politik 2“. Ein Arbeitsbuch für den Politikunterricht,(bearbeitet u.a. von dem rechtslastigen Bochumer Historiker Bernard Willms),Paderborn 1985)) Ganz davon abgesehen, verfährt Singers Text im folgenden so mit den Ansichten von Jensen und Eysenck, als wären sie durchaus stichhaltig. Zwar bestreitet er, daß die Annahmen Jensens und Eysencks die „echten Rassisten“, wie er sagt, ermutigen würden. Meine eigenen Untersuchungen zu Rassismus und Rechtsextremismus zeigen jedoch das genaue Gegenteil: Jensen und Eysenck sind die wichtigsten Kronzeugen aller Rassisten aller rechtsextremen Publikationen, und zwar international. Singers Gegenargumente sind demgegenüber mehr als schwach: Das erste bezieht sich auf den von Jensen zugestandenen, aber als relativ gering angesehenen Anteil von Umwelteinflüssen, das zweite darauf, daß ja nicht alle Schwarzen dümmer seien und das dritte darauf, daß das Prinzip der Gleichheit ja sowieso nicht auf wirklicher Gleichheit beruhe, sondern nur ein moralisches Prinzip darstelle.

Der Singersche Diskurs ist insgesamt geeignet, rechtsextreme und rassistische Diskurse abzusichern, ihre Glaubhaftigkeit zu stärken. Denn rechtsextreme Diskurse beziehen sich durchaus auf den Inter-Diskurs, sie greifen ihn auf, beziehen weitere Spezialdiskurse ein und versuchen mit ihren Mitteln den allgemeinen Diskurs zu beeinflussen. Und zwar nicht ohne Erfolg. Heute sehr verbreitete rassistische Ansichten über Minderheiten, wie sie teilweise auch in Gesetze einfließen, haben in den letzten Jahren an Boden gewonnen und in breiteren Kreisen der Bevölkerung weiter Fuß gefaßt, wie neueste Wahlanalysen und demographische Umfragen zeigen. Singers Beitrag dazu, ob er ihn gewollt hat oder nicht, ist unbestreitbar. Ob man ihn selbst als Rassisten bezeichnen kann, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls distanziert er sich heftig davon. Wenn ich aber davon ausgehe, wie dies z.B. der Rassismus-Begriff des englischen Soziologen Stuart Hall nahelegt (s. Hall 1989), Rassismus zu bestimmen als eine Einstellung, die körperliche und geistig-seelische Abweichungen vom sog. Normalen als negativ bewertet, muß jemand, der behinderte Menschen, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, zur Liquidierung empfiehlt, sich nicht über den Vorwurf des Rassismus wundern. ((In seiner Darstellung der Ereignisse um das Singer-Seminar an der Universität GH Duisburg im WS 1989/90 formulierte der Seminarleiter Hartmut Kliemt: „Vor allem das absurde Argument, Singer sei ein Rassist, weil er es immerhin für logisch möglich halte, daß es genetische Unterschiede zwischen Rassen geben könne, wurde wieder hervorgekramt. … Der zentrale Punkt, daß Singer den Kampf gegen den Rassismus gerade nicht von einer empirischen Bedingung abhängig machen, sondern aus normativen Gründen unabhängig von den Gegebenheiten der realen Welt führen möchte, wurde völlig klar.“ (Kliemt 1990, S. 4) Demgegenüber ist festzuhalten, daß Singer die Resultate der Jensenschen Untersuchung ausgiebig referiert und es immerhin für möglich hält, daß Jensens Theorie „sich überraschend als stichhaltig“ (S. 40) herausstellen könnte. Er hält die Richtigkeit der Singerschen Ergebnisse demnach nicht nur für logisch möglich, sondern durchaus für praktisch möglich. Überdies ist darauf zu verweisen, daß Singer vielfach bestimmte menschliche Fähigkeiten, die erlernt sind, als genetisch verankert ansieht. Legt man den Rassismus-Begriff, wie ihn z.B. Stuart Hall (z.B. Hall 1989) entwickelt hat, an diese Feststellung an, so muß auch diese Haltung als rassistisch angesehen werden. Bereits die Annahme, daß es menschliche Rassen gebe, die Singer durchweg vertritt, kann bereits als rassistisch bezeichnet werden (vgl. dazu Lewontin u.a. 1988). Möglicherweise verfügt Singer nur über einen sehr oberflächlichen Begriff von Rasse und Rassismus – genauere Definitionen fehlen bei ihm. Rasse ist bei ihm ausschließlich genetisch fixiert. Daß es auch einen kulturellen Rassismus gebe, der dann vorliege, wenn bestimmte Bräuche und Verhaltensweisen anderer Menschen als negativ angesehen werden und zur Legitimierung von Ausschließungspraxen verwendet werden (Vgl. Hall 1989), läßt Singer selbstverständlich völlig außer acht.))

Zusammenfassung und Ausblick

Singers Text ist nur ein Beispiel für viele, die rational zu begründen versuchen, daß menschliches Leben unter bestimmten Bedingungen vernichtet werden darf. Durch seine besondere Rhetorik und Ästhetik und vermittelt durch andere Medien und Institutionen konnte und kann dieser Diskurs Einfluß auf den allgemeinen Diskurs nehmen und dementsprechendes Handeln zur Folge haben.

Ich will mich nun abschließend ganz knapp der Frage zuwenden, wie ein Gegen-Diskurs aussehen müßte, der dazu beitragen könnte, die Richtung, die dieser Diskurs genommen hat, umzukehren. Dabei kann und darf es nicht darum gehen, irgendwelche Tabus zu errichten und Probleme wie Sterben und Schwerstbehinderung usw. zu verschweigen und sie damit der schlechten Praxis zu überantworten, die ja heute allenthalben zu beobachten ist. Natürlich kann es nicht darum gehen, diese Praxis zu rechtfertigen und z.B. das Töten von Menschen zu enttabuisieren. So wichtig es ist, daß heute Euthanasie immer noch gesetzlich verboten, und sich der Singersche Diskurs somit gegen bestehende Gesetze richtet, so wenig sinnvoll erscheint es mir, das damit einhergehende juristische Problem in den Mittelpunkt zu stellen. Stattdessen ist der Frage nachzugehen, wie der allgemeine gesellschaftliche Diskurs in eine Richtung umgelenkt werden kann, für die maßgeblich ist, daß menschliches Leben nicht vernichtet werden darf. Ich bin mir dessen bewußt, daß sich damit ein Feld eröffnet, das weit über den Singerschen Fragehorizont hinausreicht. Ich will nur andeuten, was ich meine und auf Verkehrstote, Drogen- und Alkoholtote, die vielfach noch praktizierte Todesstrafe, Umwelttote und die weltweit noch praktizierte Ausbildung zum Mord etc. verweisen. Ein Gegen-Diskurs für das Leben hätte die Schaffung eines Klimas zum Ziel, in dem selbstverständlich ist, daß menschliches Leben von Menschen nicht angetastet werden darf. Auf diesem Hintergrund würde sich die Frage nach sinnvollem und würdigem Leben und Sterben völlig anders stellen, als dies der geläufige Diskurs zu tun vermag. Unausweichlich ist, daß die Menschen sterblich sind, daß sie leiden, daß sie Glück empfinden, daß sie Trauer und Schmerz erleiden. Wenn wir fragen würden, wie Leben in einer wirklich humanen Gesellschaft beschaffen sein könnte, wären wir eher in der Lage, auch die Frage nach humanem Sterben, nach der Verminderung von Schmerz und Leid zu beantworten. Instrumentelle Lösungen gibt es dafür nicht.

 

Literatur:

Michael Billig: Die rassistische Internationale. Zur Renaissance der Rassenlehre in der modernen Psychologie, Frankfurt 1981

Teun van Dijk: Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung, München 1980

ders.: Communicating Racism, Los Angeles 1984

Hans-Jürgen Eysenck: Freud – Retter oder Scharlatan? Deutsche National-Zeitung Nr. 18 vom 27. April 1990, S. 7

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt 1974

Stuart Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, Das Argument 178 (1989), S. 913-921

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947

Brigitta Huhnke: Das Buch wird unkritisch nachgebetet, FR vom 11.1.1990, sowie: Wie Peter Singer deutsche Akademiker „schützen“ möchte, FR vom 19.4.1990

Hartmut Kliemt: Stellungnahme und Bericht zum „Singer-Seminar“, MS Duisburg 1990

Pierre Krebs:(Hg.): Das unvergängliche Erbe, Alternativen zum Prinzip der Gleichheit. Mit einem Vorwort von Hans-Jürgen Eysenck, Tübingen 1981

Richard C. Lewontin, Steven Rose und Leon J. Kamin: Die Gene sind es nicht … Biologie, Ideologie und menschliche Natur, München 1988

Jürgen Link: Kollektivsymbolik und Mediendiskurse, kultuRRevolution 1(1982), S. 6-20

ders.: Was ist und was bringt Diskurstaktik, kultuRRevolution 2 (1982), S. 60-65

Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963

ders.: Das Vergehen der Vergangenheit, Berlin 1987

Jobst Paul: Zur Erinnerung: Tier-Metaphern und Ausgrenzung. Anmerkungen zur sogenannten „Singer“-Debatte, Manuskript 1990

Jörg Rieck: Zur Debatte der Vererblichkeit der Intelligenz, in: Krebs (Hg.) 1981, S. 315-371 und 433-437

Peter Singer: Praktische Ethik, Stuttgart 1984

Ulrich Steinvorth: Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Moraltheorie, Reinbek 1990

Oliver Tolmein: Tödlicher „Zeit“-Geist, konkret 6 (1990), S. 20-23