“Ausnahmezustände und Denormalisierungsängste
Krise und Zukunft der Demokratie”
Colloquium
vom 10. bis 12. November 2006 in der Akademie Frankenwarte
Vom 10. bis 12.11.2006 fand das diesjährige 19. Colloquium
des DISS in Verbindung mit der Gesellschaft für politische Bildung auf der
Frankenwarte in Würzburg statt.
Sein Thema „Ausnahmezustände und Denormalisierungsängste.
Krise und Zukunft der Demokratie“. Vor dem Hintergrund der Diskussionen über
Jacques Derrida’s Überlegungen zu den „Wunden“ der neuen Weltordnung entstand
ein Programm, das sich mit den wichtigsten Themen des Derridaschen „telegramms“
befassen konnte.
In dem Eröffnungsvortrag „Lässt sich der Notstand
‚normalisieren’? Normalismustheoretische Überlegungen“ konkretisierte Prof.
Dr. Jürgen Link (Universität Dortmund) in einem ersten Schritt den Begriff
des Ausnahmezustands bzw. des Notstandes anhand seiner Antithese: der
repräsentativen parlamentarischen Demokratie westlichen Typs. Notstandsregime
seien immer vor dem Hintergrund dieser Systeme zu bestimmen. Mit Blick auf den
Nieder- und Untergang der Weimarer Republik kann konstatiert werden, dass die
heutigen Eliten einen Vergleich der derzeitigen Krise mit Weimar vehement
ablehnen. Jürgen Link sieht aktuelle Tendenzen zur Denormalisierung im Bereich
der Ökonomie in Gestalt von Massenarbeitslosigkeit und im Bereich des
Parlamentarismus durch Schwächung der „Mitte-Position“. Daneben stecke der
Sozialstaat in einer Normalitätskrise, was sich im massiven Abbau der sozialen
Sicherung und der Entstehung eines Prekariats manifestiere. Darauf versuchten
die Massenmedien mit der Propagierung einer „Fun-Kultur“ kompensierend
einzuwirken. Hinzu komme, dass der Konflikt zwischen reichen und armen Ländern,
der auch als ein Konflikt von Ländern zu begreifen sei, die einer
unterschiedlichen Normalitätsklassen angehören und der zunehmend in kriegerische
Auseinandersetzungen münde, zu massiven Denormalisierungen in den reichen
Ländern in Form von Militarisierung führe. Dennoch sei die aktuelle Situation in
Deutschland nicht mit der vor dem Faschismus zu vergleichen.
Dies sei auch deshalb so, weil der dominante Normalismus
kein Proto-, sondern ein Flexibilitätsnormalismus sei, bei dem die Grenzen der
Normalität äußerst flexibel seien. Selbst der Terroranschlag vom 11.9.2001 habe
diese Dominanz nicht zurückdrängen können. Allerdings seien partielle
Notstandssektoren vor allem im Bereich der Grenzsicherung und des Flugverkehrs
sowie bei der Einwanderung zu konstatieren. Auch sei die Frage zu stellen, ob
die im Sozialsektor mit Hartz IV und den sich daran anschließenden restriktiven
Maßnahmen nicht auch als Notstandsmaßnahmen zu begreifen seien. So sei es z.B.
symptomatisch, dass die hegemoniale Klasse die angeblich nicht existierende
Unterschicht für nicht normal halte. Insgesamt haben wir es zur Zeit mit einem
„gespaltenen“ Normalismus zu tun, der deshalb in hohem Masse prekär sei, weil
Proto- und Flexibilitätsnormalismus auf unterschiedliche Subjektivitäten
rekurrieren, die sich mittel- bis langfristig nicht miteinander vereinbaren
ließen.
Derzeit aber versuchten die hegemonialen Eliten mit einem
Mix von Normalitäten zurecht zu kommen. Das könne aber nicht funktionieren,
insbesondere dann nicht, wenn die Ausnahmezustände sichtbar gemacht würden und
damit eine Pseudo-Normalisierung verhindert werde. Dies liege natürlich vor
allem in der Hand der Medien, auf die jedoch auch gezielt eingewirkt werden
könne. Als Beispiel nannte Jürgen Link die ambivalente Haltung zur Rolle der
Bundeswehr in der Welt. Bisher seien die Militäreinsätze medial kaum ins Bild
gesetzt worden. Nun deute sich eine bedeutsame Umorientierung in der Weise an,
dass gefordert werde, häufiger und ausführlicher über die Härte der
Militäreinsätze zu berichten. Für eine demokratische Resistenz komme es nun
darauf an, dass derartige Visibilisierungen dazu genutzt werden, um die
Forderung nach Rückzug der Bundeswehr zu stärken, statt auf die Errichtung und
Festigung einer „Heimatfront“ zu setzen. Auf diese Weise könnte das schleichende
Gleiten in eine (Pseudo-)Normalisierung partieller Notstände verhindert werden.
An diese Ausführungen schloss der Beitrag von Prof. Dr.
Gerhard Bäcker (Universität Duisburg-Essen) zum Thema „Normalisierung der
Armut“ an. Er stellte dar, auf welche Weise in der Armutsforschung das Phänomen
der Armut gemessen wird und präzisierte auf diese Weise die
normalismustheoretischen Ausführungen seines Vorredners. Im Anschluss an seine
Ursachenanalyse, bei der er den Faktor Arbeit als den zentralen Indikator für
Armut und Reichtum herausstellte, betonte er in seinen Schlussfolgerungen, dass
es vor allem der Disziplinierungscharakter der Sozialpolitik sei, der diese
innerhalb der letzten Jahre als neues Element kennzeichne. Auch wenn von
Anreizen die Rede sei, mit denen Personen in den Arbeitsmarkt integriert werden
sollten, so liege faktisch ein Zwang vor, der nicht nur arbeitslose Personen
unter Druck setze, sondern auch diejenigen, die noch über Arbeit verfügen. Dies
lasse sich an den zunehmenden freiwilligen Verzichtsleistungen von Belegschaften
erkennen, die zudem allerdings keine Garantie dafür seien, nicht in den Sog von
Armut zu geraten.
In seinem Vortrag „Biopolitik und die Doktrin der Ausnahme.
Analyse und Kritik der Angewandten Ethik“ beleuchtete Dr. Jobst Paul (DISS
Duisburg) die so genannte angewandte Ethik, einen neueren Sproß der
utilitaristischen Philosophie. Als ‚Dienstleistung’ hat sie sich im Vorfeld von
Privatwirtschaft und Realpolitik positioniert und wendet ihre – teilweise der
Scholastik entlehnte – Methodik u. a. auf Biopolitik, Wirtschaft, Medien und
Umwelt, aber auch Krieg, Terror oder Folter an. Im Gegensatz zur
Verfassungstradition, in der Grundwerte, z.B. das Lebensrecht, als Regel
bestimmt und Ausnahmen geächtet werden, betrachtet die angewandte Ethik
Grundwerte als Werte unter anderen. In kasuistischen ‚Güterabwägungen’ wird
erkundet, bis zu welchem Grad der Verstoß gegen Grundwerte jeweils ‚ethisch
akzeptabel’ ist. Nach dem 11.9.2001 hat insbesondere die amerikanische Regierung
zu Maßnahmen gegriffen, die die Handschrift einer entsprechenden
‚philosophischen’ Politikberatung tragen.
Der Beitrag von Dr. Susanne Spindler (Universität
Köln) thematisierte „Rassismus und Exklusion am Beispiel junger inhaftierter
Männer mit Migrationshintergrund“, also mit „eingeschlossenen Ausgeschlossenen“.
Die Analyse ihrer Biographien zeige, wie sich verschiedene Formen von Exklusion,
die über Ethnizität, Geschlecht und Klasse hergestellt wird, überlagern und
Ungleichheit verstärken. Ein besonderer Fokus liege auf der Entwicklung von
Männlichkeit und Körperlichkeit. Diese würden sowohl in der gesellschaftlichen
Zuschreibung als auch in der Selbstzuschreibung der Jugendlichen besonders
wichtig für ihren Ausschluss aus der Gesellschaft: In der Konstruktion des
„bedrohlichen Anderen“ dienten sie als Zielscheibe für die Jugendlichen selbst
werden sie zur letzten verbleibenden Ressource.
Denormalisierungstendenzen im internationalen Feld
thematisierte Prof. Dr. Mohssen Massarrat (Universität Osnabrück). In
seinem Beitrag „Atomare Aufrüstung durch den Iran und das politische Vorgehen
westlicher Staaten“ stellte er sich in einem ersten Schritt die Frage, warum der
Iran den atomaren Kreislauf ankurbele. Das häufig vorgetragene Energieargument
sei unbegründet. Vielmehr spielten Sicherheitsargumente eine große Rolle. Der
Iran fühle sich militärisch ‚umzingelt’ und wolle unter Ausnutzung legaler
Lücken ein ‚Gleichgewicht des Schreckens’ herstellen. Die zweite Frage danach,
warum die USA eine solche Atompolitik des Irans unbedingt unterbinden wollen,
beantworte sich zum einen aus ihrer langfristigen und strategischen
Partnerschaft mit Israel, aber auch damit, dass vor allem nach dem 11.9.2001 ein
Bestreben der USA vorliege, in der Region amerika-kritische Regierungen durch
solche zu ersetzen, die den USA freundschaftlich verbunden seien. Insofern mache
sich die USA die aktuelle Atompolitik des Irans zunutze, als sie den weltweiten
Druck auf Iran verstärke bis hin zu einer möglichen militärischen
Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang bedauerte Mohssen Massarrat, dass die
derzeitige Bundesregierung eine Beteiligung an einem solchen Krieg offiziell
(noch) nicht ausgeschlossen habe. Zu berücksichtigen sei, dass im Falle eines
militärischen Konflikts mit dem Iran auch europäische Interessen massiv verletzt
würden, z.B. auf dem Gebiet der Energieversorgung. Die Frage eines Auswegs aus
dieser Konfliktsituation müsse die generelle Konfliktstruktur im Nahen und
Mittleren Osten berücksichtigen. Der Atomkonflikt sei aus anderen Konflikten
hervorgegangen und auch als Reaktion auf die israelische Hegemonialposition in
der Region zu verstehen. Auch die Unterstützung der Hisbollah durch den Iran
habe damit zu tun. Der Iran strebe an, durch militärische Allianzen Israel
direkt bedrohen zu können. Andererseits seien Libanon und Hisbollah das Ergebnis
des Palästina-Konflikt. Auch Ägypten und die Situation im Irak seien
einzubeziehen. Bei einer Teilung des Irak werde der Kurdistankonflikt brisant,
der wiederum den Iran und die Türkei tangieren und dort nationalistischen Kräfte
stärken könnte. Schließlich seien auch die bisher nicht sichtbaren Konflikte
zwischen Sunniten und Schiiten zu berücksichtigen, die aufgrund des Terrors im
Irak aufgebrochen seien. Diese Konflikte tangierten den Iran und den Libanon
sowie auch Jordanien und Saudi-Arabien. Um zu einer friedlichen Perspektive in
der Region zu gelangen, müsse deshalb eine Konferenz auf die weltpolitische
Agenda gesetzt werden, die analog der KSZE versuchen sollte, die drohende
Politik der ‚verbrannten Erde’ zu verhindern. An dieser Konferenz sollten alle
beteiligten Staaten ohne Vorbedingungen teilnehmen. Mohssen Massarrat räumte
durchaus ein, dass eine solche Konferenz von vielen als utopisch angesehen
werde. Das könne und sollte jedoch kein Hindernis sein, dafür innerhalb der
Friedensbewegung zu werben, um einem Chaos in der Region vorzubeugen.
Die zapatistische Rebellion in Mexiko ist von Dr. Anne
Huffschmid (Berlin) diskursanalytisch untersucht worden In ihrem Beitrag
„Die ‚zapatistische Selbstbehauptung’ – ein Modell der Gegenwehr?“
charakterisierte sie diese Bewegung und ihre hybride Strategie aus diskursiven
und metaphorischen Verfremdungs- und Kopplungsmanövern. Dabei betonte sie die
interaktive Struktur dieser Strategie, die sich im Wechselspiel mit ihren
Resonanzen entwickele. Die zapatistischen Masken seien keine Maskerade, sondern
Kernelement einer politischen Strategie und „Diskursguerilla“, mit der gegen
hegemoniale Zuschreibungen und Redeweisen aufbegehrt wurde. Die Zapatisten haben
mit dieser Strategie den politischen Raum in Mexiko nachhaltig verändert und
demokratisiert. In ihrem Epilog stellte Anne Huffschmid aber auch fest, dass im
Jahr 2006 die Zapatisten auf der politischen Bühne kaum anzutreffen seien und
dass sie dort, wo sie sich politisch engagierten, ihre Strategie zugunsten eines
eher tradtionellen Politikkonzeptes aufgäben.
Auch im Vortrag von Dr. Ulrich Brieler (Leipzig) ging
es wesentlich um die Konzeption von Bewegungen gegen hegemoniale Strukturen. Mit
seinem Beitrag „Empire, Phantomstaaten und kommende Demokratie. Anmerkungen zur
Krise und Zukunft der Demokratie bei Jacques Derrida und Antonio Negri“
skizzierte er das aus seiner Sicht notwendige theoretische Arbeitsprogramm, das
zur Bewältigung der globalen Krisen zu absolvieren sei und mit dem den „neuen“
Herausforderungen zu begegnen sei. Die Arbeiten von Antonio Negri und Michael
Hardt „Empire“ und „Multitude“ gingen davon aus, dass ein Weltmarkt bereits
existiere und die Politik sich auf diesen Umstand zu beziehen habe. Es gehe also
um die Entwicklung einer politischen Struktur (Empire) und um die Entstehung
einer globalen Arbeiterklasse (Multitude). Dabei habe sich der Begriff der
Arbeit aufgrund der qualitativen Veränderungen ausdifferenziert in industrielle,
affektive und symbolisch-analytische Arbeit. Das von Jacques Derrida entwickelte
Konzept der „kommenden Demokratie“ sei gleichfalls ein wichtiger theoretischer
Impuls, der sich zudem mit dem Überlegungen von Negri/Hardt zusammen denken
ließe. Dieses Konzept zeichne sich durch den Denkstil einer radikalen Kritik
aus. Die kommende Demokratie müsse für die Wanderungsbewegungen der Welt den
notwendigen Raum schaffen und damit Abschied von nationalstaatlichen Prinzipien
nehmen. Sie müsse Gerechtigkeit her- und sicherstellen und das Risiko einer
„beunruhigenden Freiheit“ eingehen. Insofern gehe es um die Herstelllung einer
neuen Internationalen, um eine Demokratie, in der es Messianizität ohne
Messianismus, Glauben ohne Religion gebe.
In einer Diskussionsrunde diskutierte Dr. Joannah Caborn
anhand von Thesen, die sie aus ihrer Studie „Schleichende Wende. Diskurse von
Nation und Erinnerung bei der Konstituierung der Berliner Republik“ gewonnen
hat, ihre Vorstellungen darüber, wie sich Diskursanalysen zu Dispositivanalysen
erweitern lassen. In dieser methodologisch ausgerichteten Debatte zeigte sich,
dass das Konzept von Diskurs- und Dispositivanalyse sich gut für die
Untersuchung von gesellschaftlichen Krisen, von Ausnahmezuständen und damit
verbundenen Denormalisierungen eignet.