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30 Jahre Rostock-Lichtenhagen

Der Rassismus ist noch nicht überwunden

Von Heiko Kauffmann

[Red.] Das folgende Interview anlässlich des 30. Jahrestages der Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen hat uns Heiko Kauffmann, Mitbegründer und langjähriger Sprecher von PRO ASYL, freundlicherweise zur Verfügung gestellt.1 Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die Broschüre des DISS von 1992 „SchlagZeilen. Rostock: Rassismus in den Medien“, die in der DISS-Bibliothek online einsehbar ist.2

Vor 30 Jahren fand im Rostocker Ortsteil Lichtenhagen das größte rassistische Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte statt. Vom 22. bis 26. August 1992 griffen hunderte Rechtsextreme die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) an und setzten das danebengelegene Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in Brand – nur knapp entkamen die dort lebenden Menschen dem Tod. Tausende Zuschauer*innen applaudierten, die Polizei versagte dabei, die Angegriffenen zu schützen, und die Politiker*innen missbrauchten den Vorfall im Nachgang, um die Grundgesetzänderung im Jahre 1993 zu legitimieren.

Heiko, du warst damals ein paar Tage nach dem Pogrom direkt vor Ort, als Inlandsreferent von terre des hommes und als Vorstandsmitglied von PRO ASYL. Wie hast du die Tage erlebt?

Das war ja nicht der erste rechtsradikale Anschlag. Aber die Dimension mit bürgerkriegsähnlichen Ausmaßen war derart schockierend, dass ich kurz danach hinfuhr um zu schauen, wie wir helfen und was wir tun können. Ich traf auf eine sehr bedrohliche Atmosphäre, aber auch auf Erschöpfung bei den Bewohnern der Stadt. Die waren misstrauisch, in sich gekehrt oder feindselig. Die Stimmung war so niedergedrückt, dass man am liebsten gleich wieder gehen wollte. Da trafen unverhohlener Hass und Feindseligkeit bei den einen auf Scham und Trauer bei den anderen. Das ging tief auseinander, die Stadt war total polarisiert.

Wie sah es in dem Wohnheim aus, das angegriffen worden war?

Ich war erschüttert über das Ausmaß der Zerstörung – es war, als ob Bomben in das Wohnheim gefallen wären. Die Flure waren beschädigt, alles war schwarz. Wir haben dann einen Projektzuschuss für den Wiederaufbau eines Büros in dem Wohnheim gegeben, das als Treffpunkt für die Vietnamesen diente. Unmittelbar nach dem Pogrom gründeten die Bewohner*innen dann den Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach. Das muss man sich mal überlegen: Die Vietnamesen beschlossen, auf die Mehrheitsgesellschaft, von der sie gerade angegriffen wurden, zuzugehen und sich für ein besseres Zusammenleben einzusetzen. Der Verein leistet bis heute großartige Arbeit.

Wie erklärst du dir, dass der rassistische Mob tagelang so frei walten konnte?

Die politische und gesellschaftliche Stimmung war damals im gesamten Bundesgebiet derart polarisiert und aufgeheizt, wie ich es in meinem ganzen Leben nicht wieder erlebt habe. Bereits seit Mitte der 1980er Jahre hatten politische und mediale Kampagnen mit einer rücksichtslosen Instrumentalisierung von Flüchtlingen eine Asyldebatte vom Zaun gebrochen, die die Stimmung im Land anheizte. Wöchentlich las man von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. Ein schlimmer Vorläufer war Hoyerswerda im September 1991, wo Hunderte von Migranten angegriffen und gejagt wurden und nicht von der Polizei geschützt, sondern letztendlich evakuiert wurden. Das feierte der rechte Mob in einer Weise, dass er den Begriff der „ersten ausländerfreien Stadt Deutschlands“ bemühte, der in Anlehnung an den Begriff „die erste judenfreie Stadt Deutschlands“ an wirklich dunkle Zeiten erinnerte.

Flankiert wurde das Ganze seit Jahren von immer schärferen Gesetzen der Kohl-Regierung, die darauf abzielten, Flüchtlinge abzuschrecken. Mangelhafte medizinische Versorgung, Unterbringung in Sammellager mit oft katastrophalen Lebensumständen, ständiger psychischer Druck auf die Flüchtlinge aufgrund von Residenzpflicht und vielem mehr. Die Verelendung, Isolation und Zermürbung ist also nicht eine zwangsläufige Folge für das Flüchtlingsschicksal, sondern vom Gesetzgeber erwünscht herbeigeführt. Die staatliche Abschreckungspolitik bildet bis heute ein Netz aus Bevormundung, Entwürdigung und Kontrolle. Flüchtlinge werden in pauschaler Weise diskreditiert und oft über Jahre als Menschen mit niederen Rechten kenntlich gemacht und ausgegrenzt. Diese Gesetze schaffen dann Fakten, die ihrerseits das zugrundeliegende Bild von Flüchtlingen reproduzieren.

So war es auch in Rostock-Lichtenhagen…

Ja, die Bilder von Unrat vor der Flüchtlingsunterbringung waren ja nicht von den Flüchtlingen verschuldet, sondern der [Zustand – Red.] entstand, weil sie keine Unterkunft bekamen. Die campierten da seit Wochen und nichts tat sich. Diese Politik der Ausgrenzung, Stigmatisierung und Minderbewertung von Flüchtlingen macht auf diese Weise dann aus ihnen einen sozialen Gegner, einen Feind und einen Rechtlosen, lange bevor Gewalttäter und rechte Schlägertrupps ihren dumpfen Hass an ihnen ausüben.

Welche Bedeutung hatte dieser einschneidende Vorfall für die Arbeit von PRO ASYL?

Wir haben PRO ASYL 1986 ja in der ersten Hochphase der verbalen Anschläge auf das Grundrecht auf Asyl gegründet. Wir wollten der Einstimmung der deutschen Bevölkerung durch rechte Politik und rechte Medien etwas entgegensetzen und durch Aufklärung und Kampagnen deutlich machen: Flüchtlinge sind gefährdet – und nicht gefährlich. Nach Rostock-Lichtenhagen sind wir viel offensiver geworden. Wir haben die Rechtsberatung aufgebaut, haben das Instrument der Petitionen immer mehr genutzt, verstärkt öffentlichkeitswirksame Kampagnen initiiert, auf Aufklärung und Dokumentation gesetzt, uns in politische Gremien eingemischt und zuständige Politiker angesprochen. Und wir haben mit vielen Bündnissen zusammengearbeitet, um Rassismus zurückzudrängen. Diese Auseinandersetzung haben wir damals leider verloren: 1993, als das Grundrecht auf Asyl quasi abgeschafft wurde. Wir kamen nicht gegen diesen Sturm des Radikalismus an. Der Asylkompromiss war eine direkte Folge von Rostock-Lichtenhagen und diente der Politik dazu, den letzten Schuss auf das Asylgrundrecht abzugeben.

Rostock-Lichtenhagen ist nun 30 Jahre her. Warum spielt die Erinnerung daran noch heute so eine wichtige Rolle?

Es ist dringend notwendig, dass sich die Gesellschaft ihres eigenen Rassismus und der Gründe dafür bewusst wird. Das ist leider bis heute nicht in der notwendigen Weise geschehen. Wir haben mit Solingen, NSU, Halle, Hanau und vielen anderen schrecklichen Begebenheiten eine Kontinuität rechter und rassistischer Gewalt – ganz zu schweigen von den täglichen Angriffen und Herabsetzungen von Flüchtlingen. Aus Rostock-Lichtenhagen können wir lernen: Strukturelle und institutionelle Ungleichheiten verletzen nicht nur die Menschenwürde und die Menschenrechte der betroffenen Flüchtlinge, sondern sie sind auch Nährboden für Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Gewalt. Denn staatlicher und alltäglicher Rassismus bedingen einander.

Was ist jetzt dringend notwendig?

Nötig ist eine offensive und glaubwürdige Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus, die sich nicht auf das individuelle Verhalten verengt, sondern nach den staatlichen Anteilen fragt, sprich: nach institutionellen, strukturellen und gesetzlichen Ausgrenzungen und Diskriminierungen von Flüchtlingen. Das ist bis heute leider nie umfassend geschehen. Trotz vieler Anmahnungen – auch von UN-Gremien – haben alle Innenminister von Otto Schily bis Horst Seehofer auf diese Forderung stets nur patzig und empört reagiert. Erinnerung und Gedenken darf aber nicht zu einem symbolischen Ritual der politischen Entlastung werden. Kurz- und Langzeitfolgen des größten Pogroms in Deutschland seit 1945 müssen intensiver aufgearbeitet werden.

Und wer ernsthaft und glaubhaft gegen Rechtsextremismus vorgehen will, muss Flüchtlingen und Migranten Rechte geben und endlich aufhören, sie zu Menschen zweiter Klasse zu machen. Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft und aus dem Geist von Gesetzen. Ich denke hier zum Beispiel an eine Rassismusstudie bei der Polizei und einer Untersuchung von deren Praktiken wie Racial Profiling – das wäre ein richtiger Ansatz gewesen, wurde aber vom damaligen Innenminister Seehofer zurückgewiesen.

Was forderst du anlässlich des Gedenktages konkret von der Bundesregierung und dem Parlament?

Die Ankerzentren, Großlager und Haftzentren, in denen schutzsuchende Menschen isoliert, zermürbt und häufig ihrer Würde und ihrer Rechte beraubt werden, gehören aufgelöst. Das diskriminierende Asylbewerberleistungsgesetz mit den schäbigsten Standards zum Leben – weit unterhalb des amtlich ermittelten Existenzminimums – muss abgeschafft werden. Für besonders wichtig halte ich die Einsetzung einer Enquete-Kommission aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, um institutionellen Rassismus in Deutschland zu untersuchen und zu überwinden. Und wenn man über die Grenzen der Bundesrepublik hinausschaut, muss endlich Schluss sein mit der politischen Inkaufnahme des Sterbens im Mittelmeer. Hier wäre eine parlamentarisch-zivilgesellschaftliche Initiative zur Gründung einer „Europäischen Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger“ sinnvoll – analog zur Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.

Derzeit erleben wir in Deutschland gesellschaftlich eine aufgeschlossene Stimmung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine und staatlich den Ansatz der Integration von Anfang an mit Aufenthaltsperspektiven und Zugang zu Bildung und Arbeit. Stimmt dich das hoffnungsvoll?

Natürlich ist das positiv. Was NGOs, Wissenschaftler und die UN seit Jahrzehnten predigen für eine gelingende Integration und für einen sozialen Frieden in der Gesellschaft – das ist hier geschehen. Es kann also gehen. Wir sehen jetzt auch, inwieweit in der Bevölkerung Hilfsbereitschaft da ist und die Realität des Lebens angenommen wird. Wir sind fern von populistischen Bewegungen gegen die Aufnahme von Ukrainern. Dass die Gesellschaft soweit gelernt hat, ist wunderbar.

Aber hat die Politik auch konsequent dazu gelernt? Warum gilt diese Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine mit ukrainischer Staatsangehörigkeit nicht in gleicher Weise für People of Color, die aus der Ukraine fliehen mussten, oder für Studenten aus Tschetschenien, die genau denselben Bedrohungen und denselben Bomben ausgesetzt waren? Deutschlands Umgang mit Flüchtlingen ist ein Spiegelbild des gesamtgesellschaftlich transportierten und akzeptierten Rassismus. Und nicht nur in Deutschland. Der schlimmste Rassismus der Europäischen Union ist, dass es nach 25 Jahren noch immer nicht gelungen ist, das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden. Die Kapazitäten und das Know-how, um dem Sterben ein Ende zu setzen, sind da. Aber es wird Sterben gelassen. Eines Tages werden wir von unseren Enkeln und Urenkeln gefragt werden: Was habt ihr, was hat die Gesellschaft und die Politik dagegen getan?

Heiko Kauffmann war 1986 Mitgründer der Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL, von 1994 bis 2002 Sprecher von PRO ASYL und bis 2012 Vorstandsmitglied. Zuvor war er Inlandsreferent beim Kinderhilfswerk terre des hommes und im Bundesvorstand von Amnesty International. Als Mitherausgeber veröffentlichte er mehrere Reader in der Edition DISS.

1 Zuerst online erschienen unter https://www.proasyl.de/news/30-jahre-rostock-lichtenhagen-der-rassismus-ist-noch-nicht-ueberwunden/.

2 https://www.diss-duisburg.de/wp-content/uploads/2016/04/DISS-SchlagZeilen-1992.pdf

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal#44 aus dem November 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.