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Philosophische Aufarbeitung: Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus

Konitzer, Werner/Bach, Johanna/Palme, David/Balzer, Jonas (Hg.)
2020
Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus
Frankfurt/M. und New York: Campus, 488 Seiten, 39,95
Euro.
ISBN: 978-3-59351-031-6

Rezension von Stefan Vennmann

Dass die Frage nach einer genuin nationalsozialistischen Moral und Ethik seit einigen Jahren ein umkämpftes Forschungsfeld bietet, zeigte meine im vorigen DISS-Journal erschienene Rezension zu Lothar Fritzes problematischem Buch Die Moral der Nationalsozialisten. Gegen die relativierenden Versuche dieses Buches bieten die im Folgenden vorgestellten Untersuchungen zu Vermeintlichen Gründe. Ethik und Ethiken des Nationalsozialismus eine andere, völlig abweichende Perspektive.

Die Studie folgt den ebenfalls am Fritz Bauer Institut in Frankfurt/M. entstandenen Bänden zur Moralisierung des Rechts (2014) und ‚Arbeit‘, ‚Volk‘, ‚Gemeinschaft‘ (2016). Letzterer trägt mit Ethik und Ethiken des Nationalsozialismus sogar den identischen Untertitel der vorliegenden Studie. Diese ist kein klassischer Sammelband, sondern vereint neben einer umfangreichen, hier im Fokus stehenden Einführung und philosophischen Einordnung der Herausgeber:innen zwanzig Originaltexte nationalsozialistischer Philosophen, Theologen und Pädagogen. Alle waren zwischen 1920 und 1942, teils von Parteilinie und Alltagsideologie abweichend, in den Nationalsozialismus involviert und versuchten Pflichten gegenüber Volk und Führer als Ethik zu begründen (273, 367).

Der Band stößt eine neue philosophische Reflexion über den Charakter der akademischen Philosophie im Nationalsozialismus an. Auch wenn es sich bei den ethischen Begründungszusammenhängen „nur um vermeintliche Gründe handeln“ (8) mag, die keine in der Vernunft begründeten Handlungen rechtfertigen, zeigen sich viele der Originaltexte von philosophischen Klassikern, besonders Kant, Fichte und Hegel, inspiriert, die nicht notwendigerweise unüberzeugend als mit „dem Nationalsozialismus vereinbar“ (62) interpretiert werden. Darüber hinaus folgt der Band auch ein politisch wichtiges Ziel: Er deckt die Verstrickung der akademischen Philosophie in die vermeintlich moralische Begründung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auf und fordert, „die Rolle der Institution Philosophie systematisch zu erforschen“ (76), um einen Teil zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen zu leisten.1

Die umfangreiche Rekonstruktion und Kritik der bisherigen Debatte zur nationalsozialistischen Moral liefert Einblicke, die eher historiographisch und ideologiegeschichtlich als moralphilosophisch vorgehen, und spart nicht an überzeugender Kritik zu Methodik und Quellennutzung der bisherigen Ansätze. Besonders die am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung durchgeführten Forschungen und deren fragwürdige „Nähe zur Sprache der Quellen“ (25) werden als problematisch hervorgehoben. Eine Kritik, die im Kontext des Buches von Lothar Fritze fast zu harmlos scheint. Leider findet John K. Roths instruktives Buch Ethics during and after the Holocaust. The Shadow of Birkenau (2005) keinen Eingang in die Diskussion des Forschungsstandes, der sich nicht nur mit einigen der auch hier prominent genannten Forscher:innen auseinandersetzt, sondern ebenso wie die Herausgeber:innen auf „die handlungsanleitende Normativität im Nationalsozialismus“ (34) eingeht und darüber hinaus auch Ansätze einer politischen Aufarbeitung entwickelt, die mit den hier zusammengestellten Texten sicher präzisiert werden könnten.

Die Methodik des Bandes folgt einer kritischen Einordnung der Philosophie im Kontext des Nationalsozialismus und entwickelt sich vor allem anhand der Versäumnisse der bisherigen Debatte, die Probleme der Datenerhebung sowie der normativen Prämissen der Forschenden reflektiert. Es reiche daher nicht aus, den Nationalsozialismus abstrakt als falsch oder moralisch schlecht einzuordnen, sondern die Kritik müsse aus der spezifischen Begründungsstruktur seiner Moral heraus erklärt und kritisiert werden (36). Vor diesem Hintergrund sind auch die Auswahlkriterien der versammelten Texte überzeugend dargelegt, denn an ihnen lässt sich exemplarisch zeigen, dass es sich um Momente von Moralbegründung und nicht um „bloße Ideologie“ handelt (37).

Die ‚deutsche Pflicht‘ zur Vernichtung

Die abgedruckten Originaltexte unterscheiden sich dabei inhaltlich und formal sehr stark, gemeinsam ist ihnen aber die moralphilosophische Begründung einer notwendigen Partizipation an einer zukunftsträchtigen Aufgabe, die teils auf christlich-theologischen (251, 346, 389, 464), teils auf germanisch-mythologischen Prämissen aufbaut (60). Dieser Bezug auf eine zu erfüllende Aufgabe für die politische Realisierung der nationalsozialistischen Weltanschauung ergibt sich dabei allerdings nicht aus der demagogischen Unterwerfung unter Volk und Führer. Vielmehr generiere die je individuelle Involvierung in die nationalsozialistische Gemeinschaft selbst Handlungsfähigkeit, durch die sich die Volksgemeinschaft verewigen könne.

Diese individuelle Hingabe an die Arbeit für eine vermeintlich ‚harmonische Zukunft‘ (96, 126, 274) wird als Zweck moralischen Handeln inszeniert. Dieser Nachweis in Texten der akademischen Philosophie im Nationalsozialismus knüpft daher ideal an den relativ theorielosen, aber auf empirisch breite Dokumentation zurückgreifenden Begriff der völkischen ‚Selbstermächtigung‘ auf.2 Daher lässt sich auch innerhalb der Philosophie eine Ergänzung historischer und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung über den Nationalsozialismus finden, die sich von der oft noch vorherrschenden Annahme befreit, es handele sich beim Nationalsozialismus um ein völliges Abseits der modernen Ordnung, das auch nicht in moralischen Begriffen zu fassen sei, geschweige denn zu kritisieren sei.3 Vielmehr ergibt sich in der Vorstellung einer real zu erreichenden ‚deutschen Zukunft‘ eine Vorstellung subjektiv begründeter Handlungen, bei denen nicht „passive Mitgliedschaft, sondern ein aktives Identisch-Werden mit der Gemeinschaft“ (69) im Zentrum steht.

Oftmals mischt sich in den Texten die Exegese der philosophischen Klassiker nicht nur mit Rassenideologie, Blut-und-Boden-Mythos und eugenischen Züchtungsfantasien (422) zur theoretischen Begründung der Volksgemeinschaft nach innen (303, 344, 390, 412, 463). Auch der praktische Kampf nach außen, gegen die ‚russische Gefahr‘ (346), das Entfernen des „semitische[n] Einschlag[s]“ (460) und der Rechtfertigung des Vernichtungskrieges gegen den ‚jüdischen Bolschewismus‘ sind zentrales Thema der nationalsozialistischen Moral als ethischer Handlungsanleitung.

Die nationalsozialistischen Moralbegründungen distanzieren sich jedoch von Geschichtsinterpretationen, die „den Menschen keine besondere Rolle im Universum zuspreche[n]“ (318). Sie denken die Genese der Volksgemeinschaft zwar auch als vorpolitisches, biologisches Moment, das aufgrund der ‚Volkszugehörigkeit‘ Pflichten gegenüber den ‚Volksgenossen‘ begründet, allerdings reiche zur Erfüllung dieser Pflichten nicht der Befehl des Führers als verbindendes „Glied zwischen Staat, Partei und Volk“4 aus, sondern nur Pflichterfüllung erfordere individuellen Einsatz.

Praktische Möglichkeiten der philosophischen Kritik

Die Texte geben Aufschluss über eine noch weiter zu führende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Moralbegründung, in der erkennbar wird, dass es sich bei den Nazis eben nicht um der Moral unzugängliche ‚Barbaren‘ handelt. Ein solcher Ansatz der Auseinandersetzung mit der Moral des Nationalsozialismus verspricht einen kritischen Umgang, der auch für die gegenwärtige, akademische Philosophie als auch für die politische Kritik des Nationalsozialismus wichtig ist. Sie schützt vor der falschen Annahme, die Akteure des Nationalsozialismus als pathologischen Figuren zu beschreiben und „dem Nationalsozialismus einfach abzusprechen, auch nur in die Nähe ‚echter‘ Philosophie gekommen zu sein“ (76). Die Bestimmung des Nationalsozialismus als „Unstaat“5 oder „neue Ordnung“6, die den besonderen Charakter der nationalsozialistischen Gesellschaft hervorhebt, könnte unter Bezug auf seine philosophischen Begründungen ein exakteres Bild der nationalsozialistischen Gesellschaft, Politik und Ideologie vermitteln, wenn es in interdisziplinärer Auseinandersetzung in bestehende Theorieangebote integriert wird. Ein solches interdisziplinäres Projekt und die Reflexion mittels philosophischer Detailstudien zu unterstützen, „ist notwendig, will man verhindern, dass sie [die vermeintlichen Gründe der nationalsozialistischen Weltanschauung – S.V.] wieder an Überzeugungskraft gewinnen“ (76). Zu diesem wissenschaftlichen und politischen Kampf leistet der hier vorgelegte Band ein ideales Rüstzeug, das es zu stärken und zu pflegen gilt.

Stefan Vennmann promoviert an der Universität Duisburg-Essen und ist Mitarbeiter im AK Antiziganismus im DISS.

1 Darüber hinaus wird auf eine politisch wie wissenschaftlich interessante Kritik aktueller Philosophie verwiesen: Die blumige Sprache der NS-Metaphorik wird mit der semantischen Schwere postmoderner Autor:innen wie Žižek und Derrida und deren Inspiration durch Heidegger kontrastiert. Argumentiert wird, dass sich aus überkomplexer Lesbarkeit oder Absurdität der rhetorischen Mittel, die für eine Vielzahl der postmodernen Philosophie paradigmatisch sind, nicht automatisch ableiten ließe, es handele sich nicht um akademisch oder politisch relevante Dokumente, mit denen sich die Auseinandersetzung nicht lohne (55). Die Herausgeber:innen appellieren daher an die Berechtigung, die Texte als Teil der Philosophiegeschichte zu handhaben, die nicht durch den Nimbus der nationalsozialistischen Ideologie zum Tabu erklärt werden.

2 Wildt, Michael: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019, 289 sowie Wildt, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939, Hamburg 2007, 363 und Griffin, Roger: Fascism, Oxford 1995, 4.

3 Für diese Lesart steht jüngst exemplarisch Zimmermann, Rolf: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung der Moral aus historischer Erfahrung, Freiburg 2020.

4 Neumann, Franz L.: Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1833-1944, Frankfurt/M. 1998, 114.

5 Ebd., 16.

6 Pollock, Friedrich: Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung, in: Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt/M. 1984.

 

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 42 vom November 2021. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.