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Liberale Traditionen und Faschismus

Ein israelischer Historiker thematisiert einen brisanten Zusammenhang

Ishay Landa
Der Lehrling und sein Meister
Liberale Tradition und Faschismus.
Berlin: Karl Dietz Verlag, 407 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-320-02383-6

Rezension von Helmut Kellershohn

Als Herbert Marcuse 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung seinen Artikel Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung veröffentlichte, legte er seinen Ausführungen drei Überlegungen zugrunde. Erstens ging er von einer „Kontinuitätsthese“ (Heinz Gess) aus, der zufolge „die Wendung vom liberalistischen zum total-autoritären Staat sich auf dem Boden derselben Gesellschaftsordnung“ vollzogen habe und der Faschismus trotz heftigster Kritik am Liberalismus wesentliche Elemente der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bejahe. „Der total autoritäre Staat“ verkörpere nur „die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Theorie und Organisation der Gesellschaft“. Zweitens beruhe diese ‚Theorie’ darauf, dass aus dem Weltbild des Liberalismus „entscheidende Momente aufgegriffen und in der von den veränderten ökonomisch-sozialen Verhältnissen geforderten Weise umgedeutet und weiterentwickelt“ würden. Ja, der Liberalismus habe selbst, gewissermaßen in einer Phase der Selbstkritik (vor dem Hintergrund der Krise), autoritäre Ideen aus sich selbst heraus „erzeugt“, so dass also Umdeutung und Selbsttransformation Hand in Hand gingen. Drittens beabsichtigte Marcuse, diesen diskursiven Prozess auf dem Feld des Kulturellen und speziell in der zeitgenössischen Philosophie nachzuvollziehen.

76 Jahre nach Marcuse legte der israelische Historiker Ishay Landa eine bemerkenswerte Studie The Apprentice‘s Sorcerer. Liberal Tradition and Fascism (Leiden/Boston: Koninklijke Britt NV 2010) vor, die an Marcuse anknüpft, ohne diesen zu erwähnen. Das ist bedauerlich, schmälert jedoch nicht das Verdienst der Studie, die jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt (ein Auszug erschien in der Jungen Welt), zumal sie ideengeschichtlich weit ausholt, um die Schnittmengen zwischen Liberalismus und Faschismus zu klären.

Motiviert ist die Studie durch den sog. „neuen Konsens“ in der Geschichtswissenschaft, wie er durch die Arbeiten von Zeev Sternhell, Roger Griffin oder Roger Eatwell verkörpert wird und auf der Devise beruht, man müsse „die Faschisten beim Wort nehmen“ und „die faschistische Ideologie in den Mittelpunkt der Debatte stellen“ (9) statt sie funktionalistisch von vornherein „auf ihren vermeintlichen Klassencharakter“ zu reduzieren. Auch für Landa liegt der „Fokus“ der Untersuchung auf der Ideologie (249), wogegen er sich allerdings wendet, könnte man kritisch als Methode der bloßen ‚Verdopplung‘ bezeichnen, während der Historiker vor der schwierigen Entscheidung stünde, „wann genau er sie [die Faschisten] beim Wort nehmen sollte und wann nicht“ (25). Historiker sollten zudem hinterfragen, „was Worte konkret umschreiben und welche politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Kräfte, Institutionen und Projekte mit bestimmten Worten zurückgedrängt oder gefördert werden sollten“ (15). Landa fordert also die Analyse der Bedeutungen in ihren jeweiligen historischen Kontext. Sein Vorwurf an Sternhell („Weder rechts noch links“) geht dahin, dass er die Anrufung des Sozialismus in der faschistischen Propaganda doch wohl zu wortwörtlich nehmen würde und „fast ausschließlich die sozialistischen Wurzeln des Faschismus“ (13) im Auge habe, „während traditionelle rechte Motive eine unvergleichlich kleinere Rolle spielten“ (13). Landa bemerkt hier eine Nähe zu früheren Mainstream-Interpretationen, die totalitarismustheoretisch die „Wahlverwandtschaft“ (11) von Sozialismus/Kommunismus und Faschismus als gleichermaßen antiliberale Projekte betonten. Dagegen setzt Landa ganz im Sinne Marcuses auf die „These einer ideologischen, sozialen und historischen Verwandtschaft zwischen dem Liberalismus und dem Faschismus“ (17). Er wolle nachweisen,

dass viele jener schockierenden und extremistischen Positionen des Faschismus, die gewöhnlich als Angriffe auf den Liberalismus betrachtet werden – die Verachtung der Demokratie, die Diktatur, der Angriff auf den Rationalismus und die wissenschaftliche Objektivität, die Propaganda, der chauvinistische Nationalismus und der imperialistische und rassistische Krieg –, außerhalb des liberalen Settings historisch undenkbar sind. Der Faschismus war das organische Ergebnis von Entwicklungen, die im Wesentlichen, also nicht vollständig, innerhalb der liberalen Gesellschaft und Ideologie stattfanden. Er war ein extremer Versuch, die Krise des Liberalismus zu lösen, indem man seine inneren Widersprüche durchbricht, und die Bourgeoisie auf diese Weise vor sich selbst zu retten.“ (17)

Mit der Krise des Liberalismus meint Landa die historische Spaltung des Liberalismus in einen wirtschaftsliberalen und politischen Flügel: auf der einen Seite die Apologeten des „Sondereigentums an Produktionsmitteln“ (Ludwig von Mises), die potenzielle oder tatsächliche ‚Übergriffe‘ des Staates im Zeitalter der „Massendemokratie“ befürchteten (z.B. Steuerprogression), ihre ärgsten Feinde in den Parteien der Arbeiterbewegung erblickten und den Faschismus als Nothelfer betrachteten; auf der anderen Seite die Liberalen, die bereit waren, aus welchen Gründen auch immer, die Öffnung der politischen Institutionen für die ‚Massen‘ und ihren Repräsentanten, z.B. durch das allgemeine Wahlrecht, zu akzeptieren. Landa konzentriert sich auf die Ersteren und auf die „tief verwurzelten Determinanten“ (27) des Wirtschaftsliberalismus seit John Locke für autoritäre Lösungen, an die der Faschismus anknüpfen konnte, indem er sich zum Retter der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aufschwang.

Die Studie Landas gliedert sich grob in zwei Teile. Im ersten Teil erläutert er zunächst die „liberale Spaltung“ und das Programm der Wirtschaftsliberalen, die Wirtschaft von der (demokratischen) Politik zu trennen (Kap. 1); es folgen drei Abschnitte, in denen Landa Konzepte vorstellt, mit denen „Antiliberale“ unterschiedlicher Couleur (u.a. Spengler, Hitler, Moeller van den Bruck, Schmitt) sich als Verteidiger der bürgerlichen Eigentumsordnung profilieren wollten, auch und gerade dann, wenn sie sich als „Sozialisten“ gerierten. Im zweiten Teil (Kap. 5 und 6) dekonstruiert der Autor einige „Mythen“, die den Gegensatz zwischen Liberalismus und Faschismus überbetonen (z.B. Kosmopolitismus vs. Nationalismus, Individualismus vs. Kollektivismus). Im abschließenden Nachwort wirft Landa einen Blick auf die angebliche Immunität der nordwesteuropäischen Nationen (allen voran England) gegen den Faschismus, die den stabilen liberaldemokratischen Institutionen zu verdanken sei. Auch dieses Narrativ kritisiert Landa und verweist auf die ideologischen Austauschbeziehungen: Eugenik, Rassentheorien etc. sowie die positive Haltung relevanter Gruppierungen der englischen Eliten gegenüber dem Faschismus als einem Bollwerk gegen den Bolschewismus.

 

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines vom Ministerium für Kultur & Wissenschaft NRW geförderten und in das Netzwerk CoRE-NRW eingebundenen Projekts zur Neuen Rechten.

 

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 42 vom November 2021. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.