- Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung - http://www.diss-duisburg.de -

Tierschutz und Judentum

Rezension von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal (39) 2020

Während der vergangenen Jahre, angesichts vieler Unsicher- und Unwägbarkeiten im Lebensmittelhandel, haben nicht nur koschere Restaurants, sondern insgesamt der Handel und Vertrieb koscherer Lebensmittel einen bemerkenswerten Aufschwung genommen.

Die drei Gründe liegen auf der Hand: Zum einen sorgt die Beaufsichtigung der gesamten Produktionskette, u.a. der Rohstoffe, der Zutaten, der Herstellung, des Vertriebs und der Lagerung durch jüdische Religionsbeamte für eine sonst kaum zu erreichende Bio-Qualität.

Zum anderen schafft die traditionelle Unterscheidung zwischen ‚fleischigen‘, ‚milchigen‘ und neutralen Lebensmitteln besonders für Veganer und Vegetarier (auch für Muslime) einen sicheren Zugang zu einer adäquaten Ernährung. Und schließlich haben sich angesichts der historischen Dauer und der geografischen Verbreitung der jüdischen Speisevorschriften besonders fantasievolle und raffinierte Küchen ausgebildet.

Diese praktischen Aspekte haben zwar auch für jüdische Veganer und Vegetarier Bedeutung, doch kommt bei ihnen ggf. eine Ebene hinzu. Denn da die Tier- und Umweltethik seit jeher zu den Kernthemen jüdischer Religiosität zählt, können Veganismus und Vegetarismus auch zur Bestimmung jüdischer Identität dienen.

Der Auslotung dieser Identität ist der Essayband Jewish Veganism and Vegetarianism (Herausgeber: Jacob Ari Labendz, Shmuly Yanklowitz) gewidmet, in dem 14 AutorInnen in der Dreifachrolle als kritische (1) und jüdische (2) Wissenschaftler und als praktizierende Veganer und Vegetarier (3) Kernaspekte des Themas sowohl aus historischer wie aktueller Sicht beleuchten. ((Ich stütze mich auf die Rezension von Jonathan Brumberg Kraus (Wheaton College, MA) unter: https://networks.h-net.org/node/28655/reviews/6094994/brumberg-kraus-labendz-and-yanklowitz-jewish-veganism-and.)) Als Ausgangspunkte dienen dabei einige für die Auslegungspraxis traditionell wichtige Fundstellen, so Genesis 1:26-30 u.a. zum Thema Pflanzen und die Vision aus Jesaia von Löwen und Lämmern. Hinzu kommen talmudische und posttalmudische Interpretationen, so das Verbot, Tieren Schmerz zuzufügen, das Junge ‚in der Milch der Mutter‘ zu garen oder die Brut von Vögeln zu entfernen.

Nachhaltige Wirkung ging auch von den gelehrten Schriften des Rabbi Kook aus (eigentlich: Rabbi Abraham Isaac Hakohen Kook, 1865-1935), dem ersten, ursprünglich aus Weißrussland stammenden Groß-Rabbiner von Jaffa und später von Jerusalem.

Sein Werk A Vision of Vegetarinism and Peace (1903) [https://www.jewishveg.org/AVisionofVegetarianismandPeace.pdf ] stellt nicht nur eine traditionell-orthodoxe Auslegung zu den jüdischen Ernährungsregeln dar, wie sie auch der Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888) in seinen Publikationen vorlegte – Kooks Werk ist auch eine Tierschutz-Proklamation.

Der Essay-Band von Labendz und Yanklowitz beleuchtet aber nicht nur die Vergangenheit, sondern greift auch aktuelle, darunter auch kritische Themen auf, wie die angelsächsische Schächt-Debatte (Nick Underwood), die Auseinandersetzungen zwischen diversen Fraktionen innerhalb der jüdischen Vegetarierbewegung, linguistische Kontraste zwischen der Tierschutzbewegung in den USA und Israel, künstlerisch-literarische Verarbeitungen des Themas – oder die enge Beziehung zwischen der vegetarischen Bewegung und jüdischen Punk-Rockern (Michael Croland). Selbst Peter Singers Tierschutz-Argumentationen finden eine Aufnahme.

Insgesamt bietet der Band die Möglichkeit, ausgehend von einem vermeintlich partikulären Thema in die Mitte der stets facettenreichen jüdischen Debatten um Ethik, Auslegung, Kultur und Lebenspraxis geführt zu werden.

 

Jacob Ari Labendz, Shmuly Yanklowitz
Jewish Veganism and Vegetarianism
Studies and New Directions
A multidisciplinary approach to the study of veganism, vegetarianism
and meat avoidance among Jews, both historical and contemporary
Albany: SUNY Press, 2019.
xxiii + 348 pp. $ 90.00 (cloth)
ISBN 978-1-4384-7361-1

Jobst Paul ist Mitarbeiter im DISS mit den Themenschwerpunkten Diskurs-, Rassismus- und Antisiemitismusforschung