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Die Wirkmächtigkeit von Diskursen

Wie der Aushandelungsprozess um die (Il)Legitimität eines Kunstwerks einen Stadtteil verändert

Von Junus el-Naggar, Araththy Logeswaran und Deniz Greschner. Erschienen in DISS-Journal (39) 2020

Im Auftrag der Dortmunder Einrichtung „Das Soziale Zentrum“ sprayte ein Team aus sieben Künstler*innen im November 2019 im Dortmunder Norden an der Häuserfassade eines alten Kinos ein Graffito, das einen Gorilla und den Schriftzug „Welcome to the Jungle“ zeigt. Das Graffito sollte den Stadtteil attraktiver gestalten und seinen „laut[en], schrill[en], bunt[en]“ (Soziales Zentrum Dortmund 2019) Charakter zum Vorschein bringen. Das aggressive Gorilla-Motiv wurde in der Stadtgesellschaft kontrovers diskutiert, viele Bewohner*innen empfanden das Bild des schreienden Affen als rassistisch. Die Kritik traf die Künstler*innen gemäß einer weiteren Stellungnahme überraschend (vgl. ebd.).

Dieser Beitrag widmet sich dem Zusammenhang zwischen der Diskussion um vermeintlichen Rassismus und diskursiven Kontinuitäten sowie der Wirkmächtigkeit diskursiver Aushandlungsprozesse.

Kontinuitäten von (rassistischem) Wissen

Wir sind alle Rassist*innen. Denn rassistisch ist nicht nur die offensichtliche Beschimpfung einer Person, sondern beispielsweise auch die reflexartige und meist unbewusste Vermutung, der*die Gesprächspartner*in of Colour spreche gebrochenes Deutsch oder gehe einer nicht-akademischen Tätigkeit nach ((Fereidooni vertritt in einem Interview mit dem Bildungsträger Ufuq e.V. die These, dass Sprache in diesem Kontext weniger relevant ist als Herkunft. Siehe hierzu: https://www.ufuq.de/was-ist-gutes-deutsch/)). Menschen verfügen über einen rassistischen Wissensbestand, der zum Großteil generationsübergreifend weitergegeben wurde und wird. Zunächst wollen wir eine zeitgemäße Begriffsbestimmung von Rassismus anführen, um aufbauend darauf auf das tradierte Wissen eingehen zu können: „Rassismus ist ein System kollektiver Bilder, Erzählungen und gesellschaftlicher Institutionen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren.“ (Rommelspacher 2002, 132). Der hier genannte historische Aspekt verweist auf die traditionelle Weitergabe dieses Wissens. In diesem Zusammenhang wird oft von einem „kollektiven Erbe“ gesprochen (Arndt 2017, 44). Schon Foucault hatte gefordert, „die historischen Bedingungen kennen[zulernen], die eine bestimmte Art der Begriffsbildung motivieren. Wir brauchen ein geschichtliches Bewusstsein der Situation, in der wir leben.“ (Foucault 2019a, 241) Mark Terkessidis bezieht sich auf Michel Foucaults Vorüberlegungen der „unterdrückten Wissensarten“. Gemäß Terkessidis spricht Foucault davon, dass Kategorien erst durch eine bestimmte Praxis etabliert werden müssen, worüber dann Wissen produziert wird. Diesen Komplex von Wissen und Macht bezeichnet der Begründer der Diskursanalyse als „Dispositiv“. ((Zur näheren Ausführung des Begriffs siehe Foucault 1978.)) Diesen gedanklichen Ansatz greift Terkessidis in Zusammenhang von Rassismus auf und bezeichnet den „verbreiteten gesellschaftlichen Wissensbestand (…) als ‚rassistisches Wissen‘“. (Terkessidis 2004, 10). Das rassistische Wissen hat immer einen Gegenstand, der hier auch als ein Objekt bezeichnet werden kann. Als sogenannte Objekte sind beispielsweise „die Türk*innen“, „die Araber*innen“ oder „die Afrikaner*innen“ anzuführen, die durch Diskurse erst geschaffen werden (ebd.). Es sind sozial konstruierte Kategorien, die mit „rassistischem Wissen“ gefüllt werden. Rassismus hat eine vielschichtige Verflechtung aus Strukturen und Wissen hervorgebracht, in der Menschen sozialisiert werden (Arndt 2017, 43). Das produzierte (rassistische) Wissen ist nicht temporär und zerfällt nicht ohne Weiteres, sondern wird tradiert. Assmann bezeichnet die Tradition und die wiederholte Weitergabe eines kollektiven Wissens als „kulturelles Gedächtnis“ (Assmann 1988, 15f.).

Foucault hatte neben dem Regelmäßigen, den Analogien und Kontinuitäten des Gesagten gerade auch nach Brüchen in und Veränderungen von Diskursen gesucht. Diskurse haben zwar häufig eine Tradition und sind persistent, doch sie unterliegen auch einer steten Modifikation. Assmanns überhistorisches und statisches Kontinuitätsverständnis ist mit Foucaults Ideen daher nur eingeschränkt zu verbinden. Denn auf der Suche nach Kontinuitäten des Wissens im Assmannschen Sinne besteht die Gefahr, ebenjene erst im Suchprozess in den Untersuchungsgegenstand hineinzuprojizieren und dabei Inkohärenzen und Ambivalenzen zu übersehen. ((Vgl. dazu ausführlich: Hanke 2013, 100.)) Ein an der Universität Gießen eigens eingerichteter Sonderforschungsbereich befasste sich daher mit „Erinnerungskulturen“ (im Plural) und berücksichtigt im Gegensatz zu Assmann auch die Wandelbarkeit gesellschaftlicher Herausforderungen, die in Siegfried Jägers Terminologie mit dem sich wandelnden diskursiven Kontext vergleichbar ist, in dessen Rahmen Diskurse fließen. Außerdem werden statt dem eher homogenen und monolithischen Assmann-Gedächtnis auch die Konkurrenz beziehungsweise Deutungskämpfe verschiedener Akteur*innen um Erinnerungshoheit und Vergangenheitsdeutung berücksichtigt. Dieses Kontinuitätsverständnis liegt näher an Foucaults Gedankenwelt als Assmanns Ideen.

Somit darf nicht übersehen werden, dass rassistisches Wissen, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Argumentationsmuster sich über Jahrzehnte gewandelt haben. Nicht-Weiße wurden jedoch schon in Kolonien mit Wilden und Tieren gleichgesetzt, um Rassismus zu legitimieren und Hegemonie zu begründen.

„Wir nehmen gemeinsam an diesem Kampf teil“

In dieser Tradition exotisiert und animalisiert das Dortmunder Dschungel-Graffito den nicht-weißen Bevölkerungsanteil der Nordstadt. Das Graffito lässt sich im Kontext einer rassistischen historischen Tradition verorten und knüpft an gesellschaftlich verbreitetes Wissen über Nicht-Weiße an. Zu der in der Folge lauter gewordenen Kritik am Graffito wäre es nicht gekommen, wenn es im Dortmunder Süden gesprayt worden wäre. Auf die Idee des Bildes eines Gorillas, versehen mit einer Begrüßung im Dschungel, wären die Künstler*innen im Dortmunder Süden nicht gekommen. Dort wären die Künstler*innen aber vermutlich auch gar nicht auf die Idee gekommen, einen Gorilla zu sprühen, der in der Tradition von Sklaverei und Kolonialismus zu verorten ist, weil ein entsprechendes Wissen im Zusammenhang mit einem vornehmlich weißen Stadtteil nicht abgerufen wird. Die Kritik hängt zusammen mit dem vergleichsweise hohen nicht-weißen Bevölkerungsanteil und dem tradierten Wissen über diese Bevölkerungsgruppe. Mit ihr in Verbindung gebrachte Assoziationen äußern sich in Schriftzügen wie „wild“, „schrill“ und „laut“ ((In einer Stellungnahme beschrieben die Macher*innen des Graffitos selbst den Stadtteil als „laut, schrill, bunt“ (Soziales Zentrum Dortmund 25.11.2019).)) Sie sind historisch begründet und haben sich in Denk- und Handlungsmustern der Allgemeinheit manifestiert. Das Graffito kann sich nicht als ahistorisch verstehen, sondern steht in einer diskursiven Tradition.

Diskursives Wirkungspotential

Die in Foucaults Werk so zentralen Machtverhältnisse spielen in diskursive Aushandlungen stets hinein. Wer gehört und gelesen wird, hat auch Macht. Somit unterliegen Diskurse auch einer asymmetrischen Machtverteilung. „[W]ir nehmen gemeinsam an diesem Kampf teil. Der eine von uns gewinnt die Oberhand über den anderen, und die Ausweitung dieser Situation kann bestimmen, wie man sich zu verhalten hat, und kann das Verhalten oder Nicht-Verhalten des anderen beeinflussen.“ (Foucault 2019b, 307)

Wenn jedoch bestimmte Akteur*innen mit hoher Reichweite ihre Macht nutzen, um anderen Akteur*innen Gehör zu verschaffen – wie in diesem Fall beispielsweise der Bochumer Professor Karim Fereidooni im Rahmen einer Stellungnahme (vgl. Fereidooni 04.12.2019), haben nicht nur privilegierte Gruppen Zugang zu Deutungskämpfen in Diskursen. Fereidooni machte in seiner Stellungnahme auf die rassistischen Kontinuitäten aufmerksam, die das Graffito fortführt und regte weitere Akteur*innen an, sich zu dem Fall zu äußern (vgl. Greschner 16.12.2019), wodurch wiederum eine diskursive Dynamik entstand, die dazu führte, dass weitere Akteur*innen der Stadtgesellschaft wie Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und Kommunalpolitiker*innen auf den Diskurs aufmerksam wurden.

Rassismus bekämpfen heisst handlungsfähig bleiben

Am Beispiel der Rassismus-Diskussion und der letztlichen Entscheidung, das Gorilla-Graffiti zu entfernen, ist zu erkennen, dass Diskurse praktische Folgen haben und das Verlassen bestehender Muster bewirken können. Im Aushandlungsprozess um Diskurshoheit können gesellschaftliche Mobilisierungs- und Solidaritätsmomente entstehen, wie die Kolumne in den Ruhr-Nachrichten zeigt, die zum Sprachrohr der Nordstädter*innen wurde. Das Erkennen von Bildern, Sprache und Machtstrukturen, das bewusste Wahrnehmen ihrer (rassistischen) Bedeutung und die Reflexion der eigenen Diskursposition können zu einer Eindämmung der Reproduktion von Rassismus führen.

So können Gruppen mittels Ansätzen wie Empowerment und Powersharing Diskursdeutungen für sich nutzen und gegen Rassismus vorgehen. Die genannten Ansätze eignen sich als „machtkritische politische Konzepte, um solidarische Handlungsmöglichkeiten auf einer subjektiven und kollektiven Ebene im Kontext unterdrückerischer Strukturen zu entwickeln“ (Nassir-Shahnian 2020, 29). Empowerment ist ein politischer Handlungsansatz, der als Form des Widerstands gegen Rassismus gilt und der Selbstermächtigung rassistisch diskriminierter Personengruppen dient (vgl. Jagusch et al 2020, 10). Der Ansatz wurde geprägt von der Bürger*innenrechtsbewegung in den USA und betont eine selbstermächtigte Identitätswahrnehmung, die sich von dominierenden gesellschaftlichen Projektionen auf die „Anderen“ lösen will. Powersharing bezieht sich auf die Notwendigkeit, sich „die eigenen individuellen und strukturellen Positionen und Privilegien, die unsichtbaren und gleichzeitig beständig wirkmächtigen Platzanweisungen zu vergegenwärtigen und die sich daraus ergebenden Verantwortungen zu reflektieren“ (Jagusch et al 2020, 12). Durch Powersharing werden also Fragen wie „Wer spricht? Wer wird gehört und gelesen?“ neu verhandelt und somit Macht- und Ressourcenzugänge neu verteilt.

Sowohl Empowerment als auch Powersharing können in Aushandlungsprozessen als Interventionsformen dienen. Im Falle des Graffitos in der Nordstadt dienten die Konzepte des Empowerments und des Powersharings zur Bewältigung und Adressierung von Rassismus. Über eine alternative Gestaltung der Mauer werden die Bewohner*innen der Nordstadt im Rahmen eines Workshops entscheiden, der eigens zwecks des Graffitos in einer Gesamtschule der Nordstadt stattfinden wird. Ein solcher Workshop empowert die betroffenen Teilnehmer*innen.

Wenn privilegierte Personengruppen sich ihrer Macht bewusst werden und diese so einsetzen, dass Benachteiligte eine Bühne haben, ihre Bedarfe und Probleme zu adressieren, können sie einen Beitrag zum Funktionieren der Konzepte Empowerment und Powersharing leisten. Jedoch werden Macht und Ressourcen nicht ohne Weiteres neu verteilt. Die Verteilung findet immer wieder durch eine neue Aushandlung statt, idealerweise ohne einem „Paternalismus zu verfallen“ (Jagusch et. al, 2020: 9). Dies ist ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstermächtigung der von Rassismus Betroffenen. Der Diskurs wurde durch die Mehrheitsgesellschaft angestoßen. Wenn jedoch beispielsweise ein Jugendlicher of Colour, der dieses Graffito als rassistisch einordnet, sieht, dass es Stimmen in der Gesellschaft gibt, die ihm zustimmen und sich zum Rassismus äußern, dazu schreiben und darüber reden, dann beteiligt er sich idealerweise an Versammlungen oder an dem Workshop und ist somit Teil der Veränderung und vielleicht sogar eines Bruches des Diskurses.

Literatur

Arndt, Susan (2017): Rassismus. Eine viel zu lange Geschichte. In: Fereidooni, Karim / El, Meral (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden, S. 29–45.

Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main, S. 9–19.

Erll, Astrid (2017): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 3. Auflage. Stuttgart.

Fereidooni, Karim (04.12.2019): Stellungnahme zum „Kunstwerk“ in der Münsterstraße in Dortmund. Bochum.

Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin.

Foucault, Michel (2019a): „Subjekt und Macht“, In: Analytik der Macht. Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (2019b): „Ein Interview. Sex, Macht und die Politik der Identität“, In: Analytik der Macht. Frankfurt am Main.

Girnth, Heiko (2002): Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Tübingen.

Hanke, Christine (2013): Diskursanalyse zwischen Regelmäßigkeiten und Ereignishaftem – am Beispiel der Rassenanthropologie um 1900. In: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Opladen, S. 97–118.

Jagusch, Birgit / Chehata, Yasmine (2020): Empowerment und Powersharing: Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Weinheim.

Nassir-Shahnian, Natascha Anahita (2020): Powersharing: Es gibt nichts Gutes, außer wir tun es! Vom bewussten Umgang mit Privilegien und der Verantwortlichkeit für soziale (Un)Gerechtigkeit. In: Jagusch et al (2020): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Weinheim, S. 29–43.

Rommelspacher, Birgit (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt am Main.

Soziales Zentrum Dortmund (25.11.2019): Welcome to the Jungle. Erklärung zum Kunstprojekt Graffiti Münsterstr./ Ecke Leopoldstr.: https://soziales-zentrum.org/welcome-to-the-dungle/

Terkessidis, Mark (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld.

Junus el-Naggar, M.Ed. promoviert im Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück, forscht u.a. zu westlichen Islamdiskursen und medialen Islambildern und ist seit 2019 Promotionsstipendiat des Avicenna-Studienwerks.

Araththy Logeswaran, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IIT Osnabrück und promoviert im Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften zum Thema Diskriminierungserfahrungen von Musliminnen.

Deniz Greschner, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IIT Osnabrück und Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Dortmund im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften. Greschner promoviert in Osnabrück im Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften über muslimische Jugendorganisationen in Deutschland.