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Menschenrechte und Humanität sind nicht verhandelbar: „Ist der Geburtstag des Grundgesetzes Anlass zum Feiern?“

Von Heiko Kauffmann. Erschienen in DISS-Journal 37 (2019)

Ende vergangenen Jahres beging die Welt-gemeinschaft den 70. Geburtstag der Erklärung der Menschenrechte. In diesem Monat, am 23. Mai, begehen wir den 70. Geburtstag des Grundgesetzes. Ein Anlass zum Feiern? Oder eher ein Grund zur Mahnung und Erinnerung?! Menschenrechte und Flüchtlingsschutz sind derzeit weltweit bedroht; Menschen- und Grundrechte als unveräußerliche Grundlage demokratischer Gesellschaften werden derzeit auch in vielen Staaten Europas in Frage gestellt. Rechtspopulistische Regierungen und autoritäre Akteure versuchen, aus Ressentiments Profit zu schlagen; sie befeuern Ängste, mobilisieren Stimmungen, bauen Feindbilder und „Sündenböcke“ auf und betreiben den Abbau von Rechtsstaatlichkeit – in Ungarn, Polen, Österreich, Italien und anderen Ländern. Dabei hat uns das vergangene 20. Jahrhundert der Flüchtlinge, der Kriege und der Barbarei wie kein anderes zuvor offenbart, wie brüchig der Boden, wie dünn der Firnis der Zivilisation noch immer ist. Auch heute toben in der Welt über 30 Kriege und Konflikte, die Menschenrechte werden in weit über 100 Staaten verletzt – und noch immer ist kein Ende der Flucht, der Flucht von Millionen von Menschen, abs ehbar. Auf 69 Millionen weltweit ist 2018 die Gesamtzahl der Menschen gestiegen, die vor Verfolgung, Gewalt, Terror, Armut und Verlust ihrer Lebensgrundlagen fliehen mussten. Seit Jahren sterben Tausende von Flüchtlingen vor den Toren Europas, ertrinken im Mittelmeer! Und die europäische Politik schaut zu, kommt ihren völkerrecht-lichen und humanitären Schutzpflichten nicht nach; sie kriminalisiert und behindert die zivilen Seenotretter, beschlagnahmt ihre Schiffe und kooperiert mit ei-ner zwielichtigen gewalttätigen libyschen Küstenwache, welche die Flüchtlinge in die Folterlager Libyens zurückbringt! Die größte Schande Europas zu Beginn dieses Jahrhunderts – und gleichzeitig das größte Handlungs- und Glaubwürdigkeitsdefizit der Politik der europäischen Regierungen. Die gestiegenen Zahlen der Flüchtlinge sind nicht nur ein Abbild der Konflikt- und Krisensituationen in vielen Teilen der Welt, sondern auch ihrer Ursachen. Dazu gehören unter anderem eine aggressive Wirtschafts-, Agrar- und Handelspolitik der EU, Waffenlieferungen, militärische Kooperation sowie die Unterstützung von Regierungen mit schwersten Menschenrechtsverletzungen (Beispiel Libyen) durch die Europäische Union und auch durch die Politik der Bundesregierung. Es droht ein neues Jahrhundert der Flüchtlinge, das die Massenvertreibungen und den Terror des 20. Jahrhunderts noch in den Schatten stellen könnte: Wenn keine Korrekturen erfolgen und rechtliche, soziale und humanitäre Errungenschaften, die eine Antwort auf die schrecklichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts waren, weiterhin auf den Altären der Macht und des Marktes geopfert werden. Um die Menschenrechte universell durchzusetzen, müssen heute alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die international bereits fixierten Völkerrechtsabkommen, Menschenrechtskonventionen und internationalen Flüchtlingsschutz-Standards endlich zur vollen Entfaltung zu bringen. Die wichtigste Lehre aus dem Scheitern der Staaten vor 1945 war der absolute Grundsatz der uneingeschränkten Bejahung und Bewahrung der Würde des Menschen – und zwar jedes Menschen (Menschenwürde-Gebot und Diskriminierungs-Verbot). Wer ein künftiges Europa ernsthaft und glaubwürdig als „einen Raum der Freiheit, Würde und Sicherheit in der Tradition europäischer Werte“ gestalten will – wie es Bundesregierung, Grüne, Linke und Liberale einträchtig proklamieren – der muss diese Freiheit, diese Würde und diese Sicherheit allen hier lebenden Menschen zubilligen: Mensch gleich Mensch. Würde gleich Würde, Freiheit gleich Freiheit, Sicherheit gleich Sicherheit, Menschenrecht gleich Menschenrecht; denn daraus legitimiert sich unsere politische Ordnung: aus der Würde des Menschen und aus den Menschenrechten. Das muss gelebt werden, und danach muss gehandelt werden; sonst wird die politische Ordnung brüchig, ist ihre Legitimität in Frage gestellt. Was ist der Wert der Menschenrechte, wenn die Diskrepanz zwischen den verbürgten und verheißenen Rechten und der Realität ihrer Inanspruchnahme immer größer wird? Per Gesetz geregelte Herabsetzung oder Minderbewertung anderer oder einer Gruppe von Menschen schafft – immer – eine politische Atmosphäre, in der Populismus, Rechtsradikalismus und Rassismus gedeihen. Deshalb wäre zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes eine selbstkritische Analyse der Politik über eigene Verfehlungen durch Verbiegung und „politische Ver-zweckung“ von Grundrechten eher angebracht als eine heuchlerische Feiertagsrhetorik. Demokratie kann auch verspielt werden; die vielen Betriebsunfälle der Geschichte – gerade der deutschen – lehren, dass wir lernen müssen, rechtzeitig zu widerstehen. Auch die Demokratie ist keine Garantie zur Verhinderung der Barbarei, wenn wir sie nicht täglich verteidigen, sie leben, stets wachsam sind und den Anfängen wehren. Die Zivilgesellschaft ist heute stärker denn je gefordert, sich gegen Rassismus und Menschenverachtung zur Wehr zu setzen und sich jederzeit für eine offene freie und solidarische Gesellschaft einzusetzen. Menschen und Rechte sind unteilbar, Menschenrechte und Humanität sind unteilbar und nicht verhandelbar.