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Mit Marx für die ‚Volksgemeinschaft‘?

Über das wundersame Interesse neurechter Vordenker an Marx

Von Helmut Kellershohn. Erschienen in DISS-Journal 37 (2019)

Das Interesse an Marx war im Gedenkjahr 2018 verständlicherweise sehr groß. Gleichwohl mag es den einen oder anderen verwundern, wenn sich ein Verlag aus dem Umfeld des Instituts für Staatspolitik auf die Spuren von Marx begibt, um zu ergründen, „welche Ansätze dieses großen Philosophen von rechts genutzt werden können“ (10). ((Kaiser, Benedikt/Benoist, Alain de/Fusaro, Diego: Marx von rechts, Dresden: Jungeuropa Verlag 2018 (mit einem Vorwort von Philip Stein).))  Ist doch dieses Ansinnen erklärtermaßen mit viel Ärger verbunden, weniger in Hinblick auf intellektuelle Linke, die sich darob indigniert auf ihr Erstgeburtsrecht am alten Marx berufen könnten. Diesbezüglich sind der Verlagschef Philip Stein im Vorwort und Benedikt Kaiser in einem der Hauptartikel („Marx von rechts? Ausgangspunkte für einen Neubeginn“) ziemlich beruhigt, weil sie sowieso den meisten Intellektuellen, die sich als links verstehen, den Willen und den Ernst absprechen, mit dem Erbe von Marx etwas anfangen zu wollen. Nein, Ärger und „Unruhe“ (14) drohen im eigenen Haus, im Milieu der „heterogenen Neue[n] Rechte[n]“ (7) und in dem erweiterten Spektrum der sogenannten „Mosaik-Rechte[n]“ (7). ((Der Begriff „Mosaik-Rechte“ – eine Analogiebildung zum Begriff der „Mosaik-Linken“ (Hans-Jürgen Urban) – steht für die Gesamtheit rechter Organisationen, Bewegungen und intellektueller Zirkel, während der Begriff „Neue Rechte“ Stein zufolge das Segment der „Vordenker“ bezeichnet.)) Denn seitdem die AfD als der bislang erfolgreichsten Formation der Rechten in den bundesrepublikanischen Parlamenten sitzt, ist sie genötigt, auch etwas zu dem sagen zu müssen, was gemeinhin als die ‚soziale Frage‘ bezeichnet wird, zumal viele ehemalige Wähler und Wählerinnen der Sozialdemokratie und der Partei Die Linke, für die die „soziale Frage“ kein Relikt des 19. Jahrhunderts ist, ihre Stimme der AfD gegeben haben. Die Berufung auf Marx, für die Rechte laut Kaiser traditionell „das rote Tuch“ (34) schlechthin, könnte sich hier, so Stein (7), als „Spaltpilz“ in einem Feld erweisen, in dem „wirtschaftsliberale Parlamentarier“ (der AfD) auf der einen und „grundsätzliche, sozial orientierte Aktivisten“ (was auch immer das heißen mag) in und im Umfeld der AfD auf der anderen Seite bislang um einen „Minimalkonsens“ in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik ringen.

Auf dem Prüfstand steht also der behauptete Nutzen für die besagte „Mosaik-Rechte“, wenn sich Rechtsintellektuelle auf Marx berufen, die sich darüber im Klaren sind, dass sie mit anderen Gruppierungen der Neuen Rechten, diesen Spezialisten für ideologische Konzepte und strategische Optionen, um Einfluss und Wirkung konkurrieren. Ihr Augenmerk richten sie speziell auf die Hayekianer und Friedman- Anhänger „innerhalb der liberalkonservativen Sphäre“ (15) der Neuen Rechten (gemeint ist vor allem die Junge Freiheit). Das Buch Marx von rechts ist daher im wahrsten Sinne des Wortes als „Streitschrift“ (Siegfried Gerlich) zu verstehen; und um dem Nachdruck zu verleihen, hat sich der Verlag der Mithilfe eines international bekannten Protagonisten der Neuen Rechten bzw. der Nouvelle Droite in Frankreich, nämlich Alain de Benoist, versichert, sekundiert von dem italienischen Philosophen Diego Fusaro, einem Schüler des mittlerweile verstorbenen Ex- Marxisten Constanzo Preve. – Wir gehen im Folgenden auf das Vorwort von Philip Stein ein, weil es recht deutlich die Intention des Buches aus der Sicht des Verlegers umreißt.

Mit Marx für eine „neurechte Theorie“?

Philip Stein diagnostiziert im Vorwort ein fundamentales Defizit der Gesamt-Rechten („Mosaik von rechts“), das angesichts der „Dynamik der Ereignisse“ (8) seit Beginn der „Migrationskrise“ (7) und deren politischen Folgen überdeckt worden sei, nämlich die notwendige, aber bislang uneingelöste „Genese einer neurechten Theorie als unabdingbares Fundament der politischen Praxis“ (8). Stein spricht zwei theoretische Problematiken an. Die erste ist ideologietheoretischer Natur und fragt nach dem Grund, warum sich im Bewusstsein der Menschen „Kapitalismus und Liberalismus“ (mit Thor von Waldstein hält er sie für „‘siamesische Zwillinge‘“) – „als einzig denkbare Lebens- und Gesellschaftsform – einem Naturgesetz gleich – als alternativlos etabliert“ (9) haben. Die zweite Problematik tangiert den eingangs angesprochenen „schwelende[n] Konflikt innerhalb der Neuen Rechten“ und stellt die auch strategisch relevante Frage, „ob wir für einen tiefgreifenden Neubeginn – das heißt auch die zunächst geistige Überwindung von Kapitalismus und Liberalismus als Ideologien der Vereinzelung – oder lediglich für eine Reform des Bestehenden streiten“ (9). Während Stein hinsichtlich des ersten Problemkreises auf die dann näher –in dem vorliegenden Sammelband – bei Benoist behandelte marxsche Theorie des Warenfetischismus („Karl Marx und der Warenfetischismus“, 65-78) verweist, plädiert er im zweiten Fall für einen radikalen Neubeginn und gegen einen Kompromiss, insofern dieser zum „Totengräber jeder idealistischen Hoffnung auf eine Wiederauferstehung der Gemeinschaft“ (10; Hervorh. im Orig.) würde.

Diese seltsame Formulierung, zumal er anschließend den Topos der „organischen Gemeinschaft“ (10) bemüht, impliziert die romantische Vorstellung, dass die Überwindung des Kapitalismus als Rückkehr zu einer ehemals existenten Gemeinschaft zu begreifen sei, der zudem als einer organischen quasi naturhafte Züge zukämen. Dass dies wenig mit Marx zu tun hat, hätte Stein bei Benoist nachlesen können. Dieser verweist auf den französischen Philosophen Denis Collin, der von drei utopischen Vorstellungen bezüglich des marxschen Kommunismus abrate: „der Utopie einer konfliktlosen Welt, der Utopie einer unbegrenzten Entwicklung der Produktivkräfte und der Vorstellung einer künftigen Gesellschaft, die als Rückkehr in den Garten Eden gestaltet werden soll“ (78).

Marx und Engels waren in der Tat keine utopischen Kommunisten, folglich konnten sie auch keine „idealistische Hoffnung“ hegen, nämlich in Hinblick auf das Ideal einer zukünftigen Gemeinschaft. Auch diesbezüglich hätte Stein, auf Seite 67 des Buches, den bekannten Satz von Marx und Engels aus der Deutschen Ideologie finden können, dass der Kommunismus kein „Zustand [sei], der hergestellt werden soll, [k]ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten“ habe, sondern „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ (vgl. MEW 3/35; Hervorh. bei Marx/Engels). Und diese „wirkliche Bewegung“ hängt sowohl von materiellen Bedingungen ab, die in den Widersprüchen der entwickelten kapitalistischen bzw. bürgerlichen Gesellschaftsformation zu suchen sind, als auch vom Willen, den Fähigkeiten und dem Zutrauen derjenigen, die deren Revolutionierung und Transformation anstreben. Sie tun dies nicht aus purem Idealismus, sondern weil die (Not-)Lage, in der sie sich befinden, und die Erkenntnis der Verhältnisse, unter denen sie agieren, sie zum Mittel der Revolution greifen lässt. Dass dies etwas mit Klassentheorie und Klassenkampf und mit der Rolle der Kommunisten zu tun hat, lässt sich im Kommunistischen Manifest nachlesen.

Auf die Lektüre dieses Manifests verzichtet Stein, während Benoist sich lieber – in einem weiteren Artikel zur „Wertkritik“ (79-94) – dem „esoterischen“ Marx der „Reifezeit“ (80) zuwendet und dabei in Anknüpfung an Robert Kurz so tut, als ob die Kritik der Politischen Ökonomie nichts zu Klassen und Klassenkampf zu sagen hätte.

‚Volksgemeinschaft‘ als dritter Weg

Diese Wendung hat Methode und lässt sich bei Stein weiter verfolgen. Denn ihm geht es im Vorwort um etwas anderes: Er behauptet zwar, dass sich die Rechte „mit Hilfe von Marx“ eines „fundamentalen Neuanfangs“ (10) versichern könne. Und gibt sich lernwillig, weil man doch mit Marx lernen könne, „was den Kapitalismus im Innersten zusammenhält und welche Mechanismen diesem sich selbst steuernden Riesen zu seinem Siegeszug verholfen haben“ (11). Das Wissen freilich, das diesbezüglich bei Marx erworben werden könnte, ist bedeutungslos in Anbetracht des „Ziel[s]“, auf das die Mosaik- Rechte laut Stein „hinarbeiten“ sollte: „die Einheit“ (11; Hervorh. im Orig.).

Mit Einheit ist nicht nur die nationale Einheit gemeint. Stein und Kaiser verstehen sich als Vertreter einer „junge[n] Generation“, die sich als „paneuropäisch, kapitalismuskritisch, sozial“ (7) definiert, wobei der paneuropäische Gedanke nicht auf die Paneuropa-Bewegung eines Richard Coudenhove-Kalergie oder eines Otto von Habsburg rekurriert, sondern auf die Ideen des französischen Faschisten Pierre Drieu la Rochelle ((Drieu la Rochelle war seit 1936 (bis 1938) Mitglied des faschistischen Parti populaire français (PPF) des Ex-Kommunisten Jacques Doriot. Während des Krieges kollaborierte er mit den Nationalsozialisten, wovon er sich später, gegen Ende des Krieges, distanzierte. Im März 1945 beging er Selbstmord. Der Jungeuropa- Verlag publizierte 2016 Drieus Roman Gilles unter dem Titel Die Unzulänglichen, mit einem Vorwort von Benedikt Kaiser.)), von dem es in einer Anzeige des Jungeuropa-Verlages heißt, dass er „in zahlreichen Essays und Aufsätzen Bilder eines sozialistisch und föderalistisch grundierten ‚Eurofaschismus‘, der sich gegen (amerikanischen) Kapitalismus und (russischen) Kommunismus wandte“, entworfen habe.

Diese doppelte Frontstellung, die den diversen Anhängern eines Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus seit eh und je geläufig ist, findet sich auch bei Stein. Im Namen der „Einheit“, ob nun bezogen auf die nationale Einheit oder die „europäischen Gemeinschaften“ (11) ((Gegen den „nationalistischen oder souveränistischen Kurs“ in „weite[n] Teile[n] der politischen Rechten“ wendet sich Kaiser in seinem Vorwort zu Drieus Die Unzulänglichen und plädiert für „gesamteuropäische Konzepte jenseits stereotyper nationaler Floskeln und populistisch-kleinbürgerlicher Anti-Brüssel- Rhetorik“ und gegen das gaullistische „Europa der Vaterländer“.)), wendet er sich als Sprecher der „jungen europäischen Rechten“ einerseits gegen die „Profiteure[ ] der Ausbeutung“ (12). Ihnen möchte er „Einhalt […] gebieten“ und den – in Anführungszeichen gesetzten – Arbeitern „neue, zeitgemäße Formen der Teilhabe […] ermöglichen“ (12). Treuherzig versichert er, keineswegs einer „‘Versöhnung der Klassen‘ zu den Konditionen der herrschenden Elite“ (11) das Wort reden zu wollen. Aber er möchte, und nun kommt das Andererseits, „den dichotomisch gefassten ‚Klassenkampf ‘ innerhalb der europäischen Gemeinschaften“ abgewendet wissen, „an dessen Ende der Triumph einer soziologisch oder materiell gefassten bestimmten Schicht stünde“ (11), womit er wohl die zuvor angesprochenen Arbeiter bzw. das Proletariat des Kommunistischen Manifests meint. Denn wo es um die „Einheit“, das „Gemeinwohl“ (12), die „organische Gemeinschaft“ geht, könne „nicht fortwährend in einem von der Zeit überholten binären Klassensystem gedacht und gekämpft werden“ (12).

Stein bestätigt damit, dass der „jungen europäischen Rechten“ keineswegs die Transformation des Kapitalismus am Herzen liegt, sondern ein wie auch immer moderierter Kapitalismus, der vermeintlich allen Seiten gerecht wird, tatsächlich aber nichts anderes ist als der alte Hut – ‚Volksgemeinschaft‘. In diesem Sinne gibt Stein abschließend einem anderen romanischen Faschisten das Wort, nämlich dem spanischen Faschisten José Antonio Primo de Rivera: „Teilung bedingt Haß. Haß und Teilung aber sind unvereinbar mit Brüderlichkeit. Und so erlischt in den Gliedern ein und desselben Volkes das Gefühl, Teil eines höheren Ganzen, einer hohen, allumfassenden, geschichtlichen Einheit zu sein.“ (12)

Die Parallele: Hitler über ‚Volksgemeinschaft‘

Eine derartige völkische ‚Synthese‘ hätte Stein allerdings auch in Hitlers Mein Kampf finden können. Unter dem Stichwort „Nationalisierung der Massen“ offeriert Hitler im ersten Buch die „nationale Volksgemeinschaft“ als höhere Einheit, als Form der ‚Aufhebung‘ der Klassengegensätze, und wendet sich gegen diejenigen, die den Begriff ‚Volksgemeinschaft‘ gezielt missverstehen würden.

„So sicher [einerseits] ein Arbeiter wider den Geist einer wirklichen Volksgemeinschaft sündigt, wenn er ohne Rücksicht auf das gemeinsame Wohl und den Bestand einer nationalen Wirtschaft, gestützt auf seine Macht, erpresserisch Forderungen stellt, so sehr aber bricht auch ein Unternehmer [andererseits] diese Gemeinschaft, wenn er durch unmenschliche und ausbeuterische Art seiner Betriebsführung die nationale Arbeitskraft mißbraucht und aus ihrem Schweiße Millionen erwuchert.“ (Mein Kampf 1941, 374)

Hitler teilt nach beiden Seiten aus, indem er gleichermaßen der ‚Volksgemeinschaft‘ unzuträgliches Verhalten moniert, auf der einen Seite „erpresserische Forderungen“ der Arbeiter, auf der anderen Seite ‚Mißbrauch‘ und ‚Wucher‘ der Unternehmer. Er unterstellt also, dass der alltägliche Gebrauch der Arbeitskraft durch die Unternehmer und das ‚Maßhalten‘ der Arbeiter z.B. bei ihren Lohnforderungen – Bedingung für das gedeihliche Funktionieren einer kapitalistischen Wirtschaft – im nationalen Interesse ist. Werden die als unmoralisch gebrandmarkten Extreme (‚Sünde‘, ‚Unmenschlichkeit‘) vermieden, ist die Volksgemeinschaft vermeintlich realisiert – allerdings bei gleichzeitiger Weiterexistenz der Klassen, ohne die es nun mal keine kapitalistische Wirtschaft gibt. Diese ‚Synthese‘, die offenbar ähnlich auch Stein vorschwebt, hat freilich weitere Implikationen, die Stein nicht anspricht, wohl aber Hitler. Die „Nationalisierung der Massen“ ist für Hitler gleichbedeutend mit der „Eingliederung der heute im internationalen Lager stehenden breiten Masse unseres Volkes in eine nationale Volksgemeinschaft“ (ebd., 372). Dies mache, so Hitler, die Ausschaltung der „internationalen volks- und vaterlandsfeindlichen Führung und Einstellung“ (ebd. 373) erforderlich, womit er auf die Organisationen der Arbeiterbewegung, insbesondere die Gewerkschaften zielt, die er sich (damals) allenfalls als „standesgemäße[ ] Interessenvertretung“ vorstellen konnte. Zweitens betont er mit antisemitischer Stoßrichtung die Notwendigkeit der „rassischen Erhaltung des [deutschen] Volkstums“ (ebd., 372), also die ‚rassische‘ Homogenität der Nation, in die die ‚breite Masse‘ integriert werden soll. Und drittens (vgl. ebd., 378f.) hebt er den antiparlamentarischen Charakter der NS-Bewegung und ihre nach dem Führerprinzip hierarchisch geordnete Organisation hervor, Ordnungsprinzipien, die auch für den zukünftigen Staatsumbau zu gelten hätten, womit die Definitionsmacht darüber, was die Volksgemeinschaft ausmacht, der Vollmacht und Autorität des Führers unterliegen würde.