Grenzen ziehen ohne Obergrenze

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Die Normalisierung der „Flüchtlingskrise“

Von Ursula Kreft und Hans Uske. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)

Manche Begriffe haben eine kurze Halbwertzeit. Kaum jemand redet zurzeit noch von der „Obergrenze“, die 2015 existentiell wichtig war und gefühlte tausend Mal in Talkshows und Kommentaren diskutiert, bestimmt, verworfen und problematisiert wurde. Lebendig geblieben ist dagegen die „Flüchtlingskrise“, obwohl zurzeit nur noch wenige Flüchtlinge deutschen Boden erreichen. Was ist passiert? Und wird jetzt alles wieder normal?

 

„Flüchtlingskrise“: Die De-Normalisierung der Asylpolitik seit Sommer 2015

In Rückblicken auf den Sommer 2015 dominierten Anfang 2016 diskursive Ereignisse vom Typ des „Sommermärchens“ mit der Willkommenskultur der ehrenamtlichen Unterstützer/innen und Varianten der Parole „Wir schaffen das“. Die Ereignisse im Sommer 2015 waren aber auch der Beginn der De-Normalisierung der damals praktizierten Asylpolitik. Die Zahlen der Asylsuchenden waren zwar schon in der ersten Hälfte 2015 deutlich gestiegen, aber zunächst wurde die Situation in den Medien als „normal“ dargestellt, das heißt: Der Zuzug bewegte sich noch im Rahmen jener Grenzen, die 1993 durch den „Asylkompromiss“ gezogen worden waren. Einige Kommentare aus Politik, Verwaltung und Medien signalisierten aber schon im Sommer 2015, dass die allgemein akzeptierte Grenzziehung durch die „Dublin-Vereinbarungen“ – Asylsuchende bleiben in dem Land, in dem sie die EU zuerst betreten haben – nicht mehr funktionierte. Dadurch schien auch das „Schengen-Abkommen“ – Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen – seine Funktion in der Balance von „Offenheit“ und „Geschlossenheit“ nicht mehr zu erfüllen.

Die Zahlen der Asylsuchenden stiegen im Laufe des Sommers 2015 an. Durch immer wieder nach oben korrigierte Prognosen und durch Bilder von wandernden Gruppen, die sich zu langen Menschenschlangen formiert hatten, entstand bald der Eindruck eines exponentiellen, also potentiell unbegrenzten Wachstums der Asyl-Kurve. In den Medien wurden parallel zu den steigenden Zahlen Geschichten von Pro und Contra präsentiert: einerseits Pegida, Hogesa, Anschläge auf Wohnheime, andererseits freundliche Frauen mit Blumen am Bahnhof, die Verteilung von Brot und Tee, dankbare Flüchtlinge weinen vor Erleichterung. Ikonen entstanden, darunter der kleine Alan Kurdi, einsam und tot am Strand. Der Spiegel produzierte im August 2015ein doppeltes Titelbild:

Spiegel dunkles Deutschland Spiegel helles Deutschland

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das dunkle Deutschland (rechte Krawallmacher) und das helle (helfende Menschen) standen sich gegenüber. Der Bundespräsident warnte vor „Dunkeldeutschland“. Auch die Bild-Zeitung machte mit und hatte ein Herz für Flüchtlinge. In den Medien wurde berichtet, das Ausland bewundere uns. Deutschland habe die Ehre der EU gerettet. Trotz der Nazi-Vergangenheit: „Wir“ waren anscheinend Weltmeister in Nächstenliebe und durften uns darin sonnen. Die Flüchtlinge hereinzulassen war unter diesen diskursiven Umständen tatsächlich „alternativlos“.

Gleichzeitig wurden damit aber auch Diskurselemente aktiviert, die den „Alarm“ ausriefen und vor einer De-Normalisierung der Asylpolitik warnten. Immer mehr alarmierende Daten wurden verbreitet: Kommunen meldeten, sie wüssten nicht mehr, wie sie die Massen unterbringen sollten, Sportvereine und Schulen müssten ihre Turnhallen abgeben, Ehrenamtliche stünden vor dem Burnout. Die Zahlen wüchsen derart dramatisch, dass ein großer Teil der Ankömmlinge nicht mehr korrekt registriert werden könne. Schon damals wurde diskutiert, ob sich Terroristen im Schutz der nicht registrierten Massen einschleichen könnten. Die Alarmdaten sagten: Wir haben die Kontrolle verloren. Das exponentielle Wachstum signalisierte eine potentiell unkontrollierbare Dynamik, ein mögliches „Überschwappen“ ins Chaos. Andere EU-Länder weigerten sich, „Dublin“ wieder einzuführen oder zumindest Kontingente zu akzeptieren. „Wir“ standen nun allein da. „Wir“ wurden im Stich gelassen, obwohl wir uns so bemüht hatten.

Die Forderung nach einer „Obergrenze“ wurde zwar mehrheitlich abgelehnt, regte aber nun auch die Ablehnenden dazu an, darüber nachzudenken, wie man sicherstellen könne, dass trotz fehlender Obergrenze Grenzen gesetzt werden könnten, wenn man es wolle oder müsse. Der Begriff „Flüchtlingskrise“ wurde schon im Herbst 2015 so breit akzeptiert, dass sogar Unterstützer/innen von Flüchtlingen ihn ohne Bedenken als wahre Beschreibung der Lage verwenden konnten. Die „Krise“ war medial und politisch verkündet und akzeptiert worden und musste nun auch bewältigt werden.

Mehrere Optionen zur Bewältigung wurden in den Medien diskutiert: schnellere Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, Vermehrung der sicheren Herkunftsländer, ein Deal mit der Türkei, bessere Überwachung der europäischen Außengrenzen, effektivere Verfolgung und Bestrafung der „Schlepperbanden“, weniger Geld oder nur Naturalien für Flüchtlinge etc. Merkel verlor und Seehofer gewann allmählich an Beliebtheit im Spiegel-Ranking. In der SPD wusste man nicht so recht, wie man sich verhalten sollte. Dann kam die Silvesternacht von Köln. Sex and Crime and Refugees. Die perfekte mediale Mischung.

Nach der Konfrontation zwischen „hellem“ und „dunklem“ Deutschland wurde durch „Silvester in Köln“ ein Fixpunkt für einen möglichen Konsens gefunden: Das Bild der fremden Männer, die in Gruppen Frauen belästigen, vergewaltigen, bestehlen – und die Polizei hat komplett die Kontrolle verloren. Der anhand der Flüchtlingszahlen konstruierte Kontrollverlust konnte nun auch durch Bilder und exemplarische Geschichten veranschaulicht und mit tradierten Elementen („schwarze Hände packen weiße Frau“ im Focus-Titel) verbunden werden. Die Medien meldeten, derartige Scheußlichkeiten seien hierzulande bisher unbekannt gewesen. Aber im „arabischen Raum“ sei dies üblich. Mit den Flüchtlingsmassen waren anscheinend unkontrollierbare „arabische“ Bedrohungen eingewandert. Und der Spiegel titelte zu Recht „Auf der Kippe“.

Grenzen ziehen ohne Obergrenzen

Jürgen Link unterscheidet in seiner Normalismustheorie zwischen flexiblem Normalismus und Protonormalismus. Sobald im flexiblen Normalismus die Daten signalisieren, dass die Entwicklung in einem Bereich zum chaotischen „Überschwappen“ tendiert, Kurven „aus dem Ruder laufen“ könnten, Kontrollverlust droht und die Kollektivsymbolik Denormalisierungsalarm auslöst, werden protonormalistische Elemente aus dem Fundus hervorgeholt. Flexibles Handeln wird als unverantwortliches „Laissez Faire“ beargwöhnt, das dem Zusammenbruch aller Regeln Vorschub leistet. Die Einführung starrer Grenzen mit „zero tolerance“ wird als Lösung der Krise und als Rückkehr zur Normalität präsentiert. Die Medien inszenieren die Suche nach „angemessener Normalität“ als Debatte mit Pro und Contra. Was ist zu viel? Was ist zu wenig?

Wenn aber in der „Flüchtlingskrise“ starre Obergrenzen nicht gewollt bzw. nur zu einem zu hohen Preis zu haben sind, müssen an anderer Stelle darauf bezogene protonormalistische Grenzen gesetzt werden. Damit wird kollektivsymbolisch ein Gegengewicht erzeugt, das den Menschen die Gewissheit vermittelt, dass alles in einigermaßen normalen Bahnen weiterläuft. Dieser Mechanismus war schon seit dem Sommer 2015 zu beobachten. Er hat seit „Silvester in Köln“ eine neue Dynamik erhalten. Denn die feste Obergrenze kann zwar gefordert, aber weiterhin weder exakt bestimmt noch in der Praxis durchgesetzt werden. Man weiß nicht, welche neuen Wege die Flüchtlinge benutzen werden. Man kann allenfalls darüber nachdenken, in der Zukunft flexible Zielvereinbarungen einzuführen, also die Zahlen der in Deutschland aufgenommenen Flüchtlinge floaten zu lassen. Dies setzt aber voraus, dass die Nachbarländer mitmachen beim Floating der Flüchtlinge. Diese Lösung war bisher nicht durchsetzbar.

Eine physische Mauer rund um Deutschland ist zurzeit weder kollektivsymbolisch noch praktisch realisierbar. Strikte Kontrollen an den Grenzübergängen wären machbar, aber nur begrenzt wirksam, da sie die „Schlepperbanden“ dazu motivieren, die Preise zu erhöhen und innovative Wege zu finden, um Menschen über die grüne Grenze zu bringen. Großbritannien hat den Kanal, Schweden den Skagerrak als mögliche Barriere. Deutschland ist auf Grund seiner Geografie ein tendenziell „offenes“ Transitland und ein Gefangener seiner Prosperität, die für viele Menschen, die wegen akuter Lebensgefahr, aus Verzweiflung oder hoffnungsvoll eine neue Heimat suchen, attraktiv wirkt. Wer will schon nach Rumänien oder Griechenland, wenn er im Internet deren wirtschaftliche Situation recherchiert hat?

Die deutsche Wirtschaft ist es dann auch, die Finanzminister Schäuble mahnen lässt: Bloß keine Grenzziehungen in Europa. Die negativen Folgen für Wirtschaft und Arbeitsplätze wären enorm. Die Obergrenze funktioniert nicht, „weil wir ja in Wahrheit angesichts des Wahnsinns in der Welt keine genauen Zahlen kalkulieren können“, sagt Sigmar Gabriel. Wenn die Deutschen ihre Identität als „Exportweltmeister“ im Rahmen der Globalisierung erhalten wollen, sind sie auf einen reibungslosen Kontakt mit dieser wahnsinnig gewordenen Welt angewiesen. Der Versuch, die „Flüchtlingskrise“ über allgemeine strikte Grenzkontrollen in ganz Europa zu normalisieren, hätte wahrscheinlich de-normalisierende Folgen für die deutsche Wirtschaft. Der Dax könnte einbrechen, die europäische und die deutsche Wirtschaft könnten Schaden nehmen. Die Arbeitslosenzahlen in Deutschland könnten steigen. Die „Flüchtlingskrise“ muss auf andere Weise bewältigt werden. Und sie wird wahrscheinlich auf andere Weise bewältigt.

Perspektiven der Normalisierung

Sechs miteinander verbundene Wege zur Normalisierung zeichnen sich zurzeit ab:

1. Eine „Sicherung der Außengrenzen“ zu Wasser und zu Lande gilt als akzeptabel, aber eben keine Mauern rund um Deutschland, die durch eine starre Obergrenze errichtet würden. Es gibt zurzeit allenfalls punktuelle symbolische Grenzkontrollen an deutschen Grenzen. Im Wesentlichen werden die Grenzen aber an der Peripherie, auf dem Balkan und an den EU-Außengrenzen, dichtgemacht. Obergrenzen lassen sich damit zwar nicht herstellen – die Berichte über „Schlupflöcher“ vermehren sich bereits. Aber eine deutliche Verlangsamung des Zuzugs ist durchaus möglich. Dadurch entstehen zwar hässliche Bilder vom Elend im Lager und vom Tod im Meer, aber als deren Verursacher gelten die „Schlepper“. Außerdem signalisieren die Bilder den Flüchtlingen: Versucht es erst gar nicht. Ihr sucht Rettung, hier gibt es sie nicht.

2. „Dublin“ brachte für Deutschland den Vorteil, dass kaum ein Asylbewerber noch legal nach Deutschland einreisen konnte. Das Problem war ausgelagert worden zu den Schengen-Grenzländern, vor allem nach Südeuropa. Seitdem „Dublin“ nicht mehr reibungslos funktioniert, wird die Pufferzone weiter nach außen verlagert, indem man die Kriterien für „Sicherheit“ flexibilisiert. Mit Marokko, Algerien und Tunesien wird verhandelt, damit der Maghreb als sichere Herkunftsregion gilt. In Afghanistan und Libyen wird zwar gekämpft, aber in einigen Teilregionen soll es, wie man hört, doch nicht so schlimm sein, so dass Flüchtlinge auch dorthin zurückgeschickt werden könnten. Sogar mit dem Sudan hat die EU entsprechende Verhandlungen aufgenommen. Bald könnte ganz Afrika zum sicheren Herkunftskontinent ernannt werden. Die Behörden wären dann nicht gezwungen, alle Afrikaner/innen zurückzuschicken, aber sie könnten dies ohne juristische Probleme tun, falls „zu viele“ kommen oder wenn bestimmte Gruppen diskursiv als Bedrohung (aktuell: Männer aus dem Maghreb) markiert sind. Die Flüchtlingszahlen aus Afrika könnten nach Bedarf floaten, das Recht auf Asyl aber weiterhin propagiert werden.

3. Eine Verschärfung der Asylpolitik und eine Effektivierung ihrer Instrumente werden breit diskutiert und entsprechend in „Asylpaketen“ umgesetzt. Dazu gehören eine schnellere Ablehnung von Asylanträgen und schnellere Abschiebungen in die bereits erwähnten erweiterten „sicheren Herkunftsländer“, Abschiebung auch bei geringfügiger Kriminalität, Geldkürzungen, „Residenzpflicht“ zur Vermeidung so genannter „Ghettobildung“, Einschränkung des Familiennachzugs, Einsatz der Bundeswehr etc. Alle diese Maßnahmen sind quantifizierbare Grenzziehungen, die statistisch als Erfolge verbucht werden können. Allerdings kollidieren einige dieser Vorschläge mit der vierten Maßnahme.

4. Als vierte Maßnahme wird eine Intensivierung der Integrationspolitik diskutiert. Es gibt in Deutschland zurzeit kaum ein Ministerium im Bund und in den Ländern, das darauf verzichten könnte, Programme zur Integration anzukündigen oder auszuschreiben, insbesondere Arbeitsmarktprogramme, Bildungsprogramme, Wohnungsbauprogramme. Eine als „gelungen“ bewertete Integration könnte tatsächlich dazu beitragen, die Flüchtlingszahl kollektivsymbolisch zu normalisieren. Die Vorstellung, dass die frühere Integrationspolitik bei den Gastarbeitern und ihren Kindern und Enkeln versagt habe, gehört inzwischen zu den breit akzeptierten Erklärungsmustern für diverse Problemlagen. Das Erklärungsmuster interpretiert ausgewählte Statistiken (z. B. niedrigere Schulabschlüsse, überdurchschnittlicher Bezug von Hartz 4, Segregation von Wohngebieten) als „Alarmzeichen“ einer gescheiterten Integration der „Menschen mit Migrationshintergrund“. Es seien problematische „Parallelgesellschaften“ entstanden, die (sofern sie nicht nach rassistischen Mustern erklärt werden) einer mangelhaften Integrationspolitik zur Last gelegt werden. Eine intensivierte Integrationspolitik verspricht, dem Flüchtling das Fremdartig-Bedrohliche zu nehmen, einen Teil von ihm ins „Wir“ zu integrieren und damit auch die hohe Zahl der Fremden zu relativieren. Allerdings passen manche In-strumente der anderen Maßnahmen nicht zu dieser Vorstellung. Die vorgeschlagene „Residenzpflicht“ auch für anerkannte Flüchtlinge, passt ganz und gar nicht zur Forderung nach einer schnellen Arbeitsmarktintegration. Die Arbeitsvermittlung fordert alle Arbeitslosen zur „Mobilität“ auf: Die Bereitschaft zur Umsiedlung gilt als Beweis der Integrationsbereitschaft in den Arbeitsmarkt. Wer sich weigert, muss schlimmstenfalls Sperrzeiten in Kauf nehmen. Ausgerechnet für anerkannte Flüchtlinge mit Bleiberecht könnte das nun nicht gelten. Die geforderte Eindämmung des Familiennachzugs wiederum reduziert zwar die Zahl der Flüchtlinge, hält aber ausgerechnet die als weniger bedrohlich geltenden Frauen und Kinder fern. Um die Kontrolle über die Flüchtlingszahlen zu behalten, so der SPD-Vorsitzende Gabriel, „muss die Regel gelten: Frauen, Kinder und Familien zuerst“. Wer den Familiennachzug einschränkt, behindert die Familienbildung, die auf Grund des deutschen Familialismus erwünscht ist, weil sie als pazifizierend und integrierend gilt. Ein Zuwenig an Flüchtlingsmüttern fördert das Bild eines Zuviel an alleinstehenden jungen Flüchtlingsmännern, die spätestens seit Silvester als „sexuell frustriert“ oder als sexuell aggressiv und übergriffig markiert sind.

5. Zur Vermeidung der Obergrenze gehört auch, einige Flüchtlinge „geordnet“ und „geregelt“ ins Land zu lassen. Hält der Deal mit der Türkei, dann könnte sich die Flüchtlingsidylle ähnlich wiederholen, wie sie im Frühjahr medial inszeniert wurde. Einige ausgewählte (!) Familien (!) aus Flüchtlingslagern der Türkei wurden geordnet (!) nach Deutschland eingeflogen und in Friedland (!), dem symbolisch hoch akzeptierten Auffanglager für „echte“ Verfolgte aus dem kalten Krieg, registriert (!). Normaler und kollektivsymbolisch positiver könnte die Einreise kaum ablaufen. Allerdings tauchten in der Debatte gleich drei Probleme auf: Erstens wurde Deutschland angeblich abhängig von der Politik Erdogans, was als Zeichen von „Schwäche“ gilt und nicht gut vermittelbar ist. Zweitens könnte die ausgehandelte Aufhebung der Visapflicht dazu beitragen, dass Kurden und andere Oppositionelle als Asylbewerber per Flugzeug deutschen Boden erreichen. Laut „Dublin“ wären sie dann legal antragsberechtigt. Drittens wurde bereits darüber berichtet, dass die Türken nicht die gewünschten Ärzte und Facharbeiter aus den Lagern lassen, sondern nur Kranke und Traumatisierte. Diese Vermischung von „Asyl“ und „Einwanderung“ verweist auf die Bedeutung der „Integration“ als Instrument der Normalisierung. Eine utilitaristische Trennung in „Nützliche“ und „nicht Nützliche“ bestimmt implizit fast alle Debatten zur Integration von Flüchtlingen.

6. Auch Grenzziehungen gegenüber anderen Ausländergruppen können zur Normalisierung der „Flüchtlingskrise“ beitragen. Die Vorschläge von Premierminister Cameron im Vorfeld des Brexit, EU-Ausländern mehrere Jahre lang keine Sozialhilfe mehr zu gewähren, verstoßen zwar gegen die bisher hochgehaltene Freizügigkeit in Europa. Sie wurden aber den Briten bereitwillig zugestanden, nicht nur um den Partner in der EU zu halten. Auch wenn die Briten gehen, die Regelung wird sich wohl EU-weit auf Dauer durchsetzen. Deutschland kann auf diese Weise einen Teil der Roma aus Rumänien und Bulgarien zur Rückkehr zwingen oder den weiteren Zuzug verringern. Diese Folgen sind statistisch gut erfassbar und können auf der symbolischen Ebene als Ausgleich für steigende Flüchtlingszahlen präsentiert werden. Wir tauschen die als „Sozialschmarotzer“ markierten Armen vom Balkan gegen syrische Flüchtlinge, die im Diskurs als arbeitswillige und integrationsfähige Facharbeiter und Akademiker verortet werden. Zur Zeit jedenfalls.

Einige Schlussfolgerungen

1. Lässt sich mit diesen Maßnahmen die „Flüchtlingskrise“ normalisieren? Für einige, aber nicht für alle Parallelgesellschaften dieser Gesellschaft. Wer der „Lügenpresse“ nicht mehr glaubt, der glaubt auch ihren Statistiken nicht. AfD-Wähler werden die Statistiken von Thilo Sarrazin bevorzugen, der messerscharf beweist, dass die Migranten Deutschland längst in den Untergang getrieben haben. In dieser statistischen Parallelgesellschaft wird auch keine Obergrenze für Zufriedenheit sorgen, weil für AfD- und Pegida-Anhänger längst klar ist, dass die Obergrenze bereits seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten überschritten wurde. Normal war vorge-stern oder vor 30 Jahren oder noch früher. Die Fremden haben längst alles aus dem Lot gebracht. Selbst rigide Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen könnten aus der Sicht dieser Diskursposition die Normalität nicht wiederherstellen. Normalität entstünde aus dieser Sicht allenfalls in der statistisch erfassbaren und öffentlich sichtbaren Rücknahme der „Überfremdung“ durch öffentliche Massenabschiebungen, landesweite Moscheeverbote und eine deutlich sichtbare institutionalisierte Diskriminierung „abweichender“ Bevölkerungsgruppen.

2. Andererseits ist es aus unserer Sicht erstaunlich, wie sehr die „Flüchtlingskrise“ die Gesellschaft polarisiert hat. Neben allen Ängsten, Anfeindungen und Grenzforderungen hat sich parallel dazu eine Willkommenskultur etabliert, die vielerorts weiter existiert. Das war schon mal anders. Vor 30 Jahren, kurz vor der Gründung des DISS, haben die beiden Autor/innen dieses Artikels sowie Gründungsmitglieder des Instituts eine Broschüre verfasst mit dem Titel „Auf der Flucht. Asyl – ein Lehrstück über Rassismus in der Bundesrepublik“. ((Devantié, Reiner / Gawel, Christoph/ Jäger, Siegfried / Jäger, Margret / Kreft, Ursula / Uske, Hans: Auf der Flucht. Asyl – ein Lehrstück über Rassismus in der Bundesrepublik, Duisburg, 1986.)) Damals hatte die DDR kurzzeitig die Mauer für Asylbewerber geöffnet, was in Medien und Politik für „Asylantenströme“, „Asylantenfluten“ und ähnliche Bedrohungsszenarien sorgte. Erst als die Mauer wieder dicht und das „Asylantenloch“ geschlossen war, trat wieder Normalität ein. Auffallend ist, dass damals fast alle Äußerungen in den Medien und der Politik einig waren bei der Forderung, das „Schlupfloch“ in der Mauer zu schließen, und zwar sofort. Auch ein paar Jahre später bei der nächsten „Asylantenflut“ herrschte weitgehend Konsens darüber, dass „das Boot voll ist“ und dass ein „Asylkompromiss“ (faktisch die weitgehende Abschaffung des Asylrechts) das Boot davor bewahren müsse zu kentern. Die Normalität war damals schnell wieder hergestellt.

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3. In den letzten 30 Jahren hat sich in einem langen und widersprüchlichen Prozess ein gesellschaftlicher Konsens herausgebildet, bei dem die Feststellung „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ langsam durch Integrationsformeln ersetzt wurde. Statt „Ausländerpolitik“ gibt es seit Ende der 90er Jahre „Integrationspolitik“. Zwar wird deren Scheitern immer mal wieder an der einen oder anderen Stelle beklagt, grundsätzlich abgelehnt wird sie aber nur am rechten Rand. Die Debatten kreisen jetzt in der Regel um das „Wie“ der Integration und um die Kriterien des Gelingens. Dürfen die Mädchen Kopftücher tragen? Wie kann man Ghettos verhindern, Jugendliche vor Radikalisierung schützen? Gibt es einen Islam, der zu „Uns“ passt? Könnte Zuwanderung den demografischen Wandel abschwächen? Wie können „Wir“ sicherstellen, dass „die Richtigen“ einwandern? Was geschieht mit den Anderen?

4. Im Zuge dieser Entwicklung haben auch viele Kommunalverwaltungen diesen Paradigmenwechsel mitgemacht. Als wir vor ein paar Jahren zusammen mit der Verwaltung des Kreises Recklinghausen ein Projekt zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung durchgeführt haben, waren wir erstaunt, wie offen, interessiert und engagiert viele Beschäftigte aus Stadt- und Kreisverwaltungen an Diskussionen und einschlägigen Weiterbildungsveranstaltungen teilnahmen. Auch auf die Zunahme der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 haben sich viele Kommunen durchaus rechtzeitig und verantwortungsbewusst vorbereitet. Unterbringung und Betreuung konnten allerdings nur geschafft werden durch eine nicht immer reibungslose Zusammenarbeit mit Verbänden, Trägern, Kirchen, Beratungsstellen, Migrantenorganisationen, Schulen, Vereinen und vielen ehrenamtlich organisierten Unterstützer/innen, also durch Praktiken, die in der Politikwissenschaft unter dem Begriff „Governance“ diskutiert werden.

5. Für eine antirassistische Flüchtlingspolitik bedeutet dies, dass es durchaus auf mehreren Ebenen Ansatzpunkte gibt. Skandalisierungen des Flüchtlingselends an den Zäunen und auf dem Mittelmeer gehören ebenso dazu wie die konkrete Unterstützung von Akteur/innen vor Ort. Viele Integrationsprojekte sind sinnvoll, weil sie einzelnen Menschen handfeste Unterstützung bieten, obwohl alle Maßnahmen auch als Bausteine genutzt werden in der Normalisierungsstrategie zur „Flüchtlingskrise“ und daher politisch angreifbar sind. Und auch der „Kampf um die Köpfe“, die Aufklärung durch Argumente, ist nicht schon deshalb sinnlos, weil viele Menschen dadurch nicht erreichbar sind.