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Flucht als Deutungsmuster linker Aktivist_innen

Von Sina Kaiser. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)

Die Forschungsfrage der im Sommersemester 2014 fertiggestellten MA-Arbeit lautete: Wie gestalten sich objektive und subjektive Motive für politisches Engagement oder Protest im Flüchtlingsbereich von linken Aktivist_innen? Um zu verstehen, warum Menschen aktiv – also selbstverwaltet und selbstorganisiert – politisch partizipieren, bedarf es einer Verknüpfung der Soziologie und Politikwissenschaft mit der (Motivations-)Psychologie. Deutungsmuster bestimmen individuelle Motive in erheblichem Umfang. Auf dieser Grundlage wurden elf linke Aktivist_innen im Rahmen eines explorativen Forschungsdesigns interviewt. Die Datenauswertung erfolgte gemäß der Grounded Theory. Ungeachtet der angesprochenen Motive wurden verschiedene Leitgedanken zum Thema Flucht vergleichend skizziert. Grundvoraussetzung für ein Interview war zum einen, dass sie sich bezogen auf den Flüchtlingsbereich selbst als politisch aktiv beschreiben. Zum anderen war es erforderlich, dass sie sich dem linken Spektrum zuordnen und nicht an das Asyl- oder Ausländerrecht gebunden sind.

Überall werden politische Aktionen ins Leben gerufen, die Solidarität mit Asylsuchenden bekunden und menschenfeindlichen Ideologien entgegenstehen. Hinter Schlagworten wie „Refugees Welcome“ oder „Kein Mensch ist illegal“ verbergen sich subjektive Deutungsmuster zum Thema Flucht, die mitunter hinterfragt werden müssen.

Für die meisten Menschen befindet sich das skandalöse Geschehen an der EU-Außengrenze oder in den zum Teil überfüllten Sammelunterkünften in weiter Ferne. Andere hingegen werden durch diese von Demütigung und Willkür geprägten Verhältnisse in erheblichem Umfang beeinflusst, weshalb sie als kontextuale Voraussetzungen für eine politische Aktivierung verstanden werden können. In Anlehnung daran sollten linke Aktivist_innen in offenen Interviews angeregt werden, über Kernpunkte zum Thema Flucht zu berichten. Ziel war es, Deutungsmuster zum Thema Flucht vergleichend zu skizzieren. Deutungsmuster können dabei als „kulturelles Wissen verstanden [werden], das einem Gesellschaftsmitglied die Orientierung in der Welt, die Wahrnehmung von Gegenständen und Sachverhalten sowie den Umgang mit ihnen ermöglicht“ (Sackmann 1991: 199).

Insgesamt assoziieren die interviewten Aktivist_innen mit dem Ausdruck Flucht ein konfuses und diskussionswürdiges Verständnis. Hervorzuheben ist, dass alle Befragten zuerst an vermeintliche Gründe oder Ursachen denken, die individuelle Fluchtentscheidungen beeinflussen. Mögliche Konsequenzen sowie die Frage nach der Verantwortung werden zunächst außen vor gelassen. Die Entscheidung zur Flucht wird mit personenbezogenen Faktoren wie z.B. Eigenschaften, Fähigkeiten oder materiellen Ressourcen in Verbindung gebracht. In dem Fall, dass die Akteur_innenebene komplett außen vor bleibt, ergibt sich eine Stigmatisierung als Objekt. Die Aussagen der befragten Aktivist_innen lassen sich danach unterscheiden, inwieweit der Ausdruck Flucht mit Alternativlosigkeit, Chance oder Willensfreiheit assoziiert wird. Es zeigt sich, dass (potenzielle) Asylsuchende mehrheitlich als hilflose Opfer betrachtet werden, denen es zu helfen gilt. Die Wahrnehmung von Geflüchteten als entscheidungsfähige Akteur_innen trotz der jeweiligen Umstände ist selten. Eine der Interviewten erklärt, dass „Flucht, darauf wird ja auch immer hingewiesen, natürlich kein freiwilliger Prozess ist, man wird genötigt, alles, was man sich aufgebaut hat, möglicherweise sogar seine Familie zu verlassen“. Konträr dazu bezeichnet ein Aktivist Flucht als „Alternative zum Konflikt“ vor Ort und sagt, dass die „Menschen, die als Wirtschaftsflüchtlinge betitelt werden, (…) meist vor Ort verhungern“.

Dass Flucht trotz allem immer auch ein Ergebnis subjektiver Empfindungen, bewusster Überlegungen oder individueller Ressourcen darstellt, wird von der Mehrzahl der interviewten Aktivist_innen nicht berücksichtigt. Die Möglichkeit der aktiven Entscheidungsfindung und -umsetzung wird zugunsten einer passiv erlebten Zwangskonstellation vernachlässigt. Die subjektive Vorstellung von erträglichen oder unerträglichen Lebensumständen wird in verkürzter Form auf Asylsuchende übertragen. Diese Art der Negation von individuellen Faktoren markiert eine Objektivierung. Indem externen Faktoren undifferenziert die Dominanz zugesprochen wird, lässt sich eine Haltung erkennen, die Geflüchteten die Fähigkeit zur Selbstbestimmung sowie Eigenverantwortung abspricht. Der negative Fokus auf Ausweglosigkeit suggeriert Schwäche, Schutz- und Hilfebedürftigkeit. Eine differenzierte Wahrnehmung von Asylsuchenden steht einer einseitigen und verallgemeinernden Objektivierung gegenüber.

Bemerkenswert dabei ist, dass Geflüchtete vor allem seitens beruflicher Aktivist_innen (Stiftung, Partei, Wohlfahrt) undifferenziert hinsichtlich ihres vermeintlichen Opferstatus wahrgenommen wurden. Damit ist es vor allem diese Gruppe, die sich der Stigmata des vorherrschenden Fluchtdiskurses bedient.
Individuelle Fluchterfahrungen sollten im Diskurs mehr Beachtung finden, um der Stigmatisierung der Betroffenen als „Opfer“ entgegenzuwirken. Politisches Engagement und Protest müssen über eine theoretische Auseinandersetzung „über die Protagonist_innen des Geschehens“ hinausgehen. Stattdessen gilt es die Selbstorganisation Geflüchteter zu stärken, also ihre faktische Präsenz und Situation als solche anzunehmen und sie allumfassend einzubeziehen.

Literatur

Sackmann, Reinold (1991): Das Deutungsmuster „Generation“. In: Meuser, Michael/ Sackmann, Reinold (Hrsg.): Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft, S. 199-215.

Sina Kaiser ist Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle interkulturelle und komplexe Arbeitswelten (FinkA) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.