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Anmerkungen und Zusammenfassungen zu Tino Heims „Metamorphosen des Kapitals“

Von Wolfgang Kastrup und Helmut Kellershohn

 

Tino Heims Dissertation (2011, TU Dresden) erschien 2013 unter dem Titel „Metamorphosen des Kapitals. Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu“ im Transcript-Verlag. Es handelt sich um ein Mammutwerk (670 Seiten), dessen Anspruch darin besteht, die Theorieentwürfe dreier Klassiker in Beziehung zu setzen, um die Analyse der Veränderungsprozesse des modernen Kapitalismus zu ermöglichen. Ausgehend von einer Kritik des oberflächlichen, zumeist moralisierenden Rekurses auf den Kapitalismusbegriff im Rahmen medialer und wissenschaftlicher Verarbeitungen der jüngsten Finanzkrisen stellt sich Heim die Aufgabe, durch die miteinander verwobene Rekonstruktion der Theorieprogramme von Marx, Bourdieu und Foucault (MFB) allererst die theoretischen Voraussetzungen zu schaffen für ein Begreifen der gegenwärtigen Entwicklungen kapitalistischer Vergesellschaftung.1 Das ist insofern ein komplexes Unterfangen, als dies auch die Kritik vorherrschender Rezeptionsweisen der drei Klassiker impliziert, um „grundlegende Gemeinsamkeiten in den Forschungsgegenständen und den Analysemethoden“ (37) jenseits zweifellos vorhandener unterschiedlicher Perspektivierungen freizulegen. Es geht nicht um Vereinheitlichung, sondern um die Vermittlung unterschiedlicher Kategoriensysteme für die vertiefende Begründung einer analytisch-kritischen Sozialwissenschaft.

Wir konzentrieren uns im Folgenden auf ausgewählte Kapitel des Buches, die hinsichtlich der von Heim verfolgten Aufgabenstellung grundlegend bzw. für unsere eigenen Forschungsinteressen von Bedeutung sind. Ansonsten betrachten wir unseren zugegebenermaßen eingeschränkten Zugriff als Anregung für potenzielle LeserInnen, die gewaltige Leistung Tino Heims durch die Lektüre seines Werkes zu würdigen.

Wir rekonstruieren also zunächst das Kapitel II („Theoriedispositionen und Problembezüge“), in dem Heim in mehreren Schritten den „theoriesystematischen Vorlauf“ (ebd.) seiner Arbeit, den theoretischen Rahmen entwickelt. Im zweiten Teil gehen wir näher auf das Kapital V ein, das mit einem synchronen Blick auf Bourdieu und Marx „Funktionen und Metamorphosen der kapitalistischen Klassenverhältnisse“ entwirft.

Teil I: Der theoretische Rahmen

I. Heim geht in vier Schritten vor. Zunächst arbeitet er heraus, dass MFB einen „geteilten Gegenstandsbezug und ein gemeinsames Problemfeld“ (43) aufweisen. Aus den verschiedensten Gründen muss man bei Marx von einem unabgeschlossenen wissenschaftlichen Projekt ausgehen, das dem Gegenstand kapitalistische Gesellschaft gewidmet ist. Im Kapital hat Marx die Kernstrukturen kapitalistischer Ökonomie analysiert, in ihrem „idealen Durchschnitt“, wie er betont. Es geht also weder primär um die historische Genese kapitalistischer Ökonomie (obwohl im Kapital historische Rückgriffe und Verweise bzw. Illustrationen gemacht oder etwa in den Grundrissen vorkapitalistische Gesellschaftsformationen thematisiert werden), noch um die Analyse einer konkreten kapitalistischen Gesellschaft, sondern um das Begreifen der grundlegenden Strukturen und Tendenzen, die mit dem Kapitalverhältnis im Allgemeinen immanent verbunden sind, sowie der Art und Weise, wie sie an der Oberfläche dem Betrachter erscheinen. „Unmittelbar gesellschaftliche Realitäten oder historische Entwicklungen“ ließen sich daraus, so betont Heim, nicht deduzieren (46, Fn. 2).

Heims These ist nun, dass Foucault und Bourdieu zum „Problemhorizont“ sowohl der Genese als auch der „immanenten Strukturen und Prozesslogiken kapitalistischer Gesellschaften“ (46) wesentliche Beiträge geleistet haben. Zusammenfassend heißt es, beide hätten an die marxschen Analysen angeknüpft: „an Fragen nach der historischen Genese und der gesellschaftlichen Funktion von Systemen ‚der Produktion von Produzenten’ (Bourdieu) bzw. nach den Genealogien und Funktionen von Techniken der Subjektformierungen, die dem kapitalistischen Verwertungsprozess vorausgesetzt sind (Foucault), an Fragen nach den historischen ‚Akzeptabilitätsbedingungen’ solcher Systeme der Subjektformierung und nach den ‚Bruchlinien ihres Auftauchens’ (Foucault) und nicht zuletzt an den Fragen nach den sozialen Kämpfen, die innerhalb gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse auf deren Verstetigung oder Veränderung zielen.“ (49)

II. Im zweiten Schritt wendet sich Heim den Forschungsprogrammen zu. Hier rekapituliert er zunächst das marxsche Programm des Historischen Materialismus, wobei er überzeugend herausarbeitet, dass es sich hierbei nicht um ein geschlossenes weltanschauliches Gebilde handelt und auch nicht um ein Konzept klar umrissener Hierarchisierungen und Determinationen, wie dem Basis-Überbau-Modell allzu oft unterstellt wird. Vielmehr handelt es sich um ein Set (Marx spricht von „Leitfaden“) von „Forschungsfragen und Perspektivierungen“ (55), denen empirisch und nicht mit vorgefassten Spekulationen nachgegangen werden müsse. Die entscheidenden Stichworte sind hier, bezogen auf das Zusammenspiel der ökonomischen, politischen, rechtlichen, ideologischen, religiösen oder ästhetischen Verhältnisse in einer Gesellschaftsformation, Begriffe wie strukturelle Abhängigkeit, Wechselwirkung, relative Autonomie und Entsprechung (vgl. Bourdieus Begriff der Homologie).

Auch wenn sich bei Foucault „gegensätzliche Positionierungen“ zu Marx finden lassen, geht Heim davon aus, dass er sich mit seinen Untersuchungen primär gegen den „zeitgenössischen Marxismus“ (57) gerichtet habe. Tatsächlich seien „Foucaults Problemstellungen, Leithypothesen und Methoden von einer Affinität zu marxschen Phänomenanalysen und Theorieansätzen geprägt“ (56) geblieben. Beide Ansätze ließen sich „in eine Verhältnis wechselseitiger Ergänzung“ bringen. Heim erläutert dies anhand einer Skizze des archäologisch-genealogischen Forschungsprogramms von Foucault. Die Archäologie ziele „auf das „Freilegen historisch aufeinander folgender und sich überdeckender Wissensformationen“ (59) und befrage die für sie konstitutiven Diskurse „auf die immanente Logik ihrer Regelmäßigkeiten“ (60) hin. Dass Wissensformationen nicht autonome Gebilde sind, dass es Zusammenhänge zwischen diskursiven Formationen und nichtdiskursiven Bereichen (Institutionen, politische Ereignisse, ökonomische Praktiken und Prozesse) gibt, dass sie insgesamt Bestandteil umfassender Gesellschaftsformationen sind, stand dabei für Foucault außer Frage, wodurch sich, so Heim, Bezüge zum marxschen Forschungsprogramm eröffneten.

Foucaults spätere Hinwendung zu genealogischen Untersuchungen sei denn auch weniger, so die These Heims, einem „blinden“ (61) nietzscheanischen Ansatz (der Begriff Genealogie stammt von Nietzsche) geschuldet, sondern erinnere mehr an eine marxsche Fragestellung. Die Erweiterung der Archäologie um eine sie gründende Analyse der Machtmechanismen, „die den menschlichen Körper und den ‚Gesellschaftskörper’ in Gestalt von Bevölkerung, Territorium und Ökonomie“ (60) beträfen“, ziele auf die Rekonstruktion „der historischen Genese der Systeme diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken […], in denen auch die Wissensformationen bedingt sind und aus denen sie erklärt werden sollen“ (61). Durch die Weigerung Foucaults, Erklärungen als Ableitung aus vorgefassten Setzungen (ökonomische Basis, Interessen der herrschenden Klasse) vorzunehmen, habe er zweifellos „unerwartete Wechselwirkungen und Bedingungsverhältnisse in den Blick bekommen, die zum Verständnis der Genese und Transformationen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung mehr […] als viele marxistische Studien“ (62) beitrügen.

Das Forschungsprogramm Bourdieus (auch er kein erklärter ‚Marxist’) verdankt sich Heim zu Folge ebenfalls marxschen Anstößen. Bourdieu hat sein Verhältnis zu Marx, aber auch zu Max Weber, einmal dahingehend beschrieben, dass man „die Autoren auf eine bestimmte Fragestellung hin lesen“ müsse, „um ihnen das Beste abzufordern, was sie geben können“. Sein Forschungsprogramm kennzeichnet Bourdieu „als ‚allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft’, die ‚das Kapital und den Profit in allen ihren Erscheinungsformen’ innerhalb der jeweiligen Ökonomie der Praxisformen erfassen soll“ (63; Bourdieu 1992, 45 u. 52). Dieses Programm operiert mit einem „erweiterten Ökonomiebegriff“ und einem entsprechend erweiterten Kapitalbegriff (s. Teil II). Heim betont, dass diese Erweiterung nicht einem generalisierten „neoklassischen Markt-Paradigma“ (63) bei Bourdieu geschuldet sei. Auch den Vorwurf, Bourdieu inflationiere den Kapitalbegriff (66), indem er von mehreren Kapitalsorten (ökonomisches, soziales, kulturelles, symbolisches Kapital) sowie, je nach Praxisfeld, etlichen Sonderformen ausgehe, weist Heim zurück. Es gäbe eine formale Nähe zu Marx in der Bestimmung des Kapitalbegriffs als „akkumulierte Arbeit“ bzw. Arbeitszeit (66). Kapital sei für Bourdieu, ebenso wie für Marx, nur dem Anschein nach eine „Sache oder Ressource“, sondern dahinter verberge sich ein historisch bestimmtes gesellschaftliches Produktionsverhältnis und damit ein Verhältnis „zwischen Individuen bzw. Klassen von Individuen“ (66), das sich dinglich darstelle.

Wenn nun Bourdieu die Kapitalstruktur in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern untersucht, gerade auch in solchen, die nicht in einem engeren Sinne ökonomisch ausgerichtet sind, und diese zueinander in Beziehung setzt, so vor allem deshalb, weil es ihm um die „zentrale Frage“ geht, „wie die Reproduktion sozialer und kultureller Voraussetzungen der Ökonomie – einschließlich der (symbolischen) Machtverhältnisse zwischen den Klassen – unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Ökonomie verläuft“ (65).

III. Im dritten Schritt untersucht Heim „geteilte Theoriedispositionen“. Darunter versteht er „Gemeinsamkeiten in der Form, in der Probleme formuliert und angegangen“ würden, und für die Heim Wittgensteins Begriff der „Familienähnlichkeit“ verwendet, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei nicht um klar definierte identische Eigenschaften handelt, sondern um ein Netz von „Affinitäten und Entsprechungsverhältnisse[n]“ (71).

Die Theorieansätze von MFB versteht Heim im weitesten Sinne als Theorien der Praxis bzw. weist ihnen einen praxeologischen Status (72) zu, in Abgrenzung zu strukturalistischen und systemtheoretischen Ansätzen auf der einen und handlungstheoretischen und phänomenologischen Ansätzen auf der anderen Seite. Als Bezugspunkt (73) dienen Heim die marxschen Feuerbachthesen, Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis und Foucaults Untersuchungen zur Disziplin oder Biopolitik sowie dessen Behandlung von Diskursen als Praktiken, „die systematisch die Regeln bilden, von denen sie sprechen“ (Archäologie des Wissens). Im Einzelnen beschreibt Heim drei Dispositionen.

1. Anthropologiekritik und methodischer Antiindividualismus

Grundlage einer Theorie gesellschaftlicher Praxis bei Marx ist, seit dem Bruch mit Feuerbachs Anthropologie in der Deutschen Ideologie und den Feuerbachthesen, die „Zurückweisung jeder überhistorischen Wesensbestimmung des Menschen“ (75) als „Erklärungsgrundlage“ (78) für gesellschaftliche Zusammenhänge. „Auf den Punkt gebracht müssen anthropologische ‚Erklärungen’ entweder historisch besondere gesellschaftliche Formen als Ausdruck des menschlichen Wesens unterstellen, dann sind sie bloße Projektionen; oder aber sie abstrahieren von allen historischen Besonderheiten, dann gelangen sie […] zu formalen Bestimmungen, die zur Klärung der allgemeinen Bedingungen von Gesellschaft durchaus sinnvoll sein können, aber eben deshalb nichts zur Erklärung der je besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen.“ (79)

Auch das Rekurrieren auf Interessen, „Motive[ ]und Kognitionen der Individuen“ kann nicht überzeugen, insofern gesellschaftliche Verhältnisse, Praktiken und Diskurse diesen vorausgesetzt sind bzw. diese bestimmen. „Die Gesellschaft“, betont Marx, „besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen.“ (MEW 42, 189)

2. Historizität, Diskontinuität und Kontingenz

Die Kritik an Anthropologisierung und Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse führt zur Anerkennung ihrer Historizität und Diskontinuität. Foucault spricht mit Blick auf die Wissensformationen von dem ihr je eigenen „historische[n[ Apriori“ (Foucault 1974, 27). Gemeint sei damit, so Heim, „eine bestimmte Konfiguration und ‚Struktur’ des Wissens (Foucault 1991, 67), die das Erkennen und Sprechen in verschiedenen Diskursfeldern (Biologie, Ökonomie, Sprachwissenschaft etc.) in historisch spezifischer Form“ (81) organisiere. Deren Veränderung unterläge keinem „linearen Entwicklungsgang“, vielmehr sei die „diachrone Abfolge [von Wissenskonfigurationen] jeweils ‚durch eine Diskontinuität gebrochen’, die bewirkt, ‚dass die Dinge plötzlich nicht mehr auf die gleiche Weise perzipiert, beschrieben, genannt, charakterisiert, klassifiziert, gelernt werden’ (Foucault 1974, 269).“ Das sei nicht im Sinne einer „klaren Schnittlinie“ (81) zu verstehen, nämlich nicht so, als ob „es zwischen verschiedenen Formationen keine Kontinuitäten einzelner Begriffe, Techniken und Phänomene gäbe, sondern dass die Zusammenhänge, in denen diese Element konfiguriert sind und in denen sie ihre historische Funktion haben, grundverschieden“ (82) seien. Wogegen sich Foucault darüber hinaus wende, seien jedwede Teleologie und „jede Form universaler Entwicklungsschemata und Geschichtsgesetze“ (82), d.h. er betone die „Kontingenz historischer Verläufe […], in denen erst das Zusammentreffen heterogener Praktiken und Ereignisse jene Konfigurationen hervorbringt, die spezifische Formationen kennzeichnen“ (82). Dieses Verständnis historischer Abläufe präge auch Foucaults spätere genealogische und machtanalytische Untersuchungen, „dort aufs engste verknüpft mit einer Geschichte der Strategien und Kämpfe, in denen sich eine spezifische Form des Wissens und der Praktiken“ (83) durchsetze.

Bei Bourdieu entdeckt Heim ein ähnliches Verständnis, z.B. in der Kontrastierung seiner ethnologischen Studien zu den vorkapitalistischen Verhältnissen in Algerien mit seinen späteren Erkundungen zu „kapitalistischen Praxisformen und Logiken“ (83). Heim weiter: „Auch die Studien zur Ausdifferenzierung verschiedener (religiöser, politischer, kultureller etc.) Produktionsfelder arbeiten die Kontingenz des Zusammentreffens historischer Ereignisse und Strategien heraus, in denen sich feldspezifische Logiken und Kräfteverhältnisse ausgebildet haben.“ (83)

Was Marx anbetrifft, so sieht Heim durchaus auch in dessen Hauptwerk (wie noch stärker im Spätwerk von Engels) geschichtsphilosophisch inspirierte Aussagen. Gleichwohl dürfe man etwa den Gesetzesbegriff von Marx im Kapital nicht im Sinne einer „teleologischen Kausalmechanik“ (83) und auch nicht im Sinne eines „Universalgesetze(s)“ verstehen. Marx schränke den Gegenstandbereich der von ihm entdeckten Gesetzmäßigkeiten erstens auf „eine historische Gesellschaftsformation und auf deren Ökonomie“ (83) ein. Und zweitens würden sie nur der „Tendenz nach“ (MEW 25, 184) gelten, seien also keine „monokausalen Entwicklungslinien“ (83) und legten „keine Ereignisfolgen“ (84; Heinrich 1991, 139) fest. „Die wirkliche Geschichte muss immer von Menschen gemacht werden und ist in ihrem Ausgang offen.“ (Heinrich). Und Friedrich Engels schreibt: Es seien „unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht“ (MEW 37, 464).

3. Praxeologie als Überwindung theoretischer Dichotomien

Eine weitere Theoriedisposition erkennt Heim in dem Bestreben von MFB, Dichotomien in der soziologischen Theoriebildung zu überwinden, z.B. solche wie Individuum-Gesellschaft, Handlung-Struktur, materiell-symbolisch. Derartige Dichotomien führten oft zu „Entgegensetzungen von Freiheit und Zwang, von objektiv zu erklärender Funktion und subjektivem Sinn, von instrumentell-funktionaler Sachdimension und sinnhafter Sozialdimension“ (85). MFB bevorzugten dagegen eine „antidualistische Theoriedisposition“ und suchten die „praxeologische Auflösung zentraler soziologischer Dichotomien“ (85).

3.1 Subjektivismus/Objektivismus

Bourdieu unterscheidet (zum Teil holzschnittartig, wie Heim moniert) subjektivistische Theorieansätze wie Phänomenologie, symbolischer Interaktionismus oder Ethnomethodologie (auch Rational Choice) von objektivistischen Ansätzen wie Strukturalismus und Funktionalismus. Während erstere sich auf „interpretativ-verstehende“ (86) Verfahren konzentrierten, orientiert an den „Primärerfahrungen“ der Akteure und den Sinnsetzungen ihres Handelns, vollzöge die zweite Gruppe einen „epistemologischen Bruch mit den lebensweltlichen Primärverständnissen“ (86) und versuche, „die in objektiven Zusammenhängen emergierenden Strukturen und Funktionen zu objektivieren, die als Realität sui generis (jenseits der Sinnsetzungen der Handlungsagenten) erst durch wissenschaftliche Konstruktionsarbeit erschließbar“ (86) seien.

Gegenüber der ersten Gruppe verweist Heim auf die Bedeutung, die Bourdieu wie Foucault dem Körper zuweisen. „Als Objekt gesellschaftlicher Zurichtung wie als Subjekt praktischen Agierens, als Objekt von Sinnzuschreibungen wie als Subjekt des praktischen Erkennens und Erzeugens von Sinn, sind der Körper und die ihm eingeschriebenen Verhaltens- und Wahrnehmungsdispositionen den Handlungen wie den Intentionen und Reflexionen präreflexiv vorausgesetzt.“ (87) Und: „Indem Subjektformierung […] am Körper festgemacht wird, wird die soziale Genese von Dispositionen jenseits bewusstseinsfixierter Modelle analysierbar. Zugleich wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Handlungen einen sozialen Sinn (Bourdieu 1987) jenseits der Kognitionen, der Motive und des Wissens der Akteure implizieren.“ (87f.) Die praxeologische Perspektive, so Heim, setze einen Bruch „mit allen ‚präkonstruierten’ Repräsentationen“ (88; Bourdieu 1976, 149) voraus, ebenso wie „eine theoretische Konstruktion objektiver Beziehungen, in denen die Individuen unabhängig von ihrem Wissen positioniert“ (88) seien.

Gegenüber rein objektivistischen Ansätzen aber wendet Bourdieu ein, dass Modell und Realität miteinander vertauscht würden, also „theoretisch objektivierte Strukturen, Funktionen und Gesetzmäßigkeiten zu die Praktiken mechanisch determinierenden Ursachen“ (88) erklärt würden. Heim demonstriert dies am Strukturalismus à la Althusser. Die Akteure würden hier „im Grenzfall zur Randbedingung einer mysteriösen ‚Fähigkeit der Struktur, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu entwickeln und andere Strukturen zu determinieren’ (Bourdieu 1987, 78)“ (88). Struktur, Gesellschaft würden zu einer Art automatischem Subjekt.

Eine praxeologische Erkenntnisperspektive versucht beides zu vermeiden und bricht mit einer objektivistischen Sichtweise, indem sie erstens „weder beim Individuum noch bei der Gesellschaft als vorausgesetztem Subjekt“ ansetzt, „sondern bei den Relationen, die sich zwischen immer schon vergesellschafteten Individuen im wechselseitigen Einwirken ihrer Handlungen aufeinander herstellen“ (90). Zweitens folgt sie einer ‚Dialektik’ von Struktur und Handlung. „Strukturen“, so Heim, „sind nichts anderes als Relationen, die sich in einem System von Elementen (Handlungen, Aussagen etc.) herstellen […]. Handlungen sind in relational definierten Möglichkeitsräumen strukturell bedingt. Indem sie auf andere Elemente einwirken, produzieren und verschieben sie aber die Relationen, so dass ihre Wechselwirkungen ihrerseits die ‚Struktur’ bedingen.“ (92)

3.2 Materielle und symbolische Formen der Praxis

Hier wiederholt Heim bereits Bekanntes aus dem Abschnitt über Forschungsprogramme. Er hält fest, „dass Marx’ ‚Materialismus’ die ‚ideellen’ bzw. kulturellen und symbolischen Formen des gesellschaftlichen Lebens nicht einseitig auf Reflexe des ‚Materiellen’ reduziert und umgekehrt Foucault keinen Erzeugungsidealismus vertritt, in dem ‚die Diskurse’ die materielle Wirklichkeit bestimmen. Insofern lässt sich gerade an diesen Ansätzen herausarbeiten, wie praxeologische Theoriedispositionen die Bipolarität von materiell/ideell auflösen.“ (95)

3.3. Die Verschränkung von Sach- und Sozialdimension

Die Unterscheidung dieser beiden Dimensionen stammt von Niklas Luhmann. Sie würden häufig auseinandergerissen und komplementär vereinseitigt (100) dargestellt (z.B. Sartre vs. Althusser, Fn. 54, S. 100). „Auch die Binnenspannung sich befehdender marxistischer Strömungen beruht auf dieser Entgegensetzung einer – auf die Sozialdimension fokussierten – voluntaristisch-aktivistischen Theorie der Klassenkämpfe und eines sachlogisch-strukturalen Ansatzes, der soziale Konflikte und Kämpfe auf einen bloßen Ausdruck objektiver Sachgesetze gesellschaftlicher Entwicklung reduzierte.“ 100) MFB dagegen konzipierten das Verhältnis der beiden Dimensionen „als genetische und strukturelle Verschränkung sachlich-funktionaler Elemente des gesellschaftlichen Zusammenhangs mit sozialen Strategien, Kämpfen und Ungleichheitsverhältnissen“ (100).So bemerkt Heim z.B. mit Blick auf Bourdieu und Marx die geteilte Annahme, dass „die um sachliche Bezugsprobleme – etwa die gewinnorientierte Verwertung von Wert – aufgebauten funktionalen und sozialen Strukturen und Prozesslogiken und ihnen entsprechende Habitusformen sich nicht einer Logik der Sache folgend durchgesetzt haben, sondern in Strategien, Kämpfen und Interessenkoalitionen historisch durchgesetzt wurden“ (101). Ähnlich sieht das Heim etwa bezüglich der Durchsetzung von „Techniken und Strategien der Disziplin“ (101; weitere Beispiele 101f.).

3.4 ‚Dispositiv’ und ‚Habitus/Feld’ als Beispiele einer antidualistischen Begriffsarbeit

Die Überwindung von Dichotomien respektive die Verkopplung scheinbar getrennter oder gegensätzlicher Momente lässt sich Heim zufolge auch am Dispositivbegriff Foucaults bzw. am Verhältnis von Habitus und Feld bei Bourdieu aufzeigen (das marxsche Begriffspaar Produktionsverhältnisse/Produktivkräfte wird zwar angesprochen, aber nicht näher behandelt).

Ein Dispositiv (frz. dispositif) ist für Foucault „ein ‚entschieden heterogenes Ensemble’ (Foucault 1978, 119) verschiedenster Elemente (Diskurse, Gesetze, Architektur, Institutionen, Aussagen), die in relationalen Verknüpfungen methodisch und funktional zusammenwirken und sich dabei wechselseitig stützen. Diese vielfältigen Elemente […] bilden erst in ihren Verschränkungen und Wechselwirkungen in einer historischen und dynamischen Praxis ein Dispositiv wie etwa jenes der Disziplin.“ (104) Des Weiteren ist

Der Begriff Dispositiv „dient einerseits einer funktionalen Analyse“ (104), „insofern Dispositive auf Dysfunktionen und Funktionserfordernisse eines gesellschaftlichen Zusammenhangs reagieren“ (Sachdimension s.o.) und nur stabilisierend wirken, „wenn sie eine Funktionalität für diesen gewinnen“ (intendiert oder indirekt qua sekundärer Zweckmäßigkeit); andererseits (Sozialdimension s.o.) sind sie „Produkt und Medium sozialer Kämpfe“, die über die Art und Weise entscheiden, wie gesellschaftliche Problemlagen definiert werden.

Auch der Habitus-Begriff Bourdieus (s. Teil II) dient der Überwindung von Dichotomien, übrigens in direkter Anknüpfung an die marxschen Feuerbachthesen (104f., Fn. 58). Er bezeichnet „Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“ (104f; Bourdieu 1976, 165) Der Habitusbegriff vermittelt zwischen den jeweils einseitigen Sichtweisen vom Primat der Struktur (Strukturdeterminismus) bzw. vom Primat des Handelns (subjektivistische Konstitutionstheorie sozialer Ordnung). Er beinhaltet bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsschemata, die die im Prozess der Sozialisation (Familie, Bildungsinstutionen) in „einer weniger intellektuellen und bewussten als materiellen, körperlich-praktischen Einprägungsarbeit“ (105) verinnerlicht werden und in denen sich die „Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position“ innerhalb des sozialen Raumes niederschlägt.

Der verinnerlichte Habitus ist zugleich „ein Erzeugungsprinzip kreativer Handlungen“, womit angedeutet ist, dass der Habitus keine mechanische Verhaltensproduktionsmaschine ist. Der Habitus legt also einen Grenzraum möglicher Praktiken fest, wobei „Ausrichtung und Wirkung der vom Habitus generierten Praktiken“, wie Heim betont, „stets gleichermaßen auf die Bewältigung sachlicher Anforderungen und auf die Stellung im sozialen Raum bezogen“ (105) sind.

In dieser Hinsicht spielt der Feld-Begriff bei Bourdieu eine wichtige Rolle. Feld und Habitus sind korrelierende Begriffe, Felder als quasi-objektivierte Geschichte, Habitus als subjektiv inkorporierte Geschichte. Felder sind Resultat von gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozessen, Resultate gesellschaftlicher Arbeitsteilung bzw. Räume „besonderer Praxisformen zur Produktion und Distribution einer spezifischen Art von (materiellen oder symbolischen) Gütern“ (105). Sie sind einerseits bestimmt „durch Sachkategorien (Produkte, Produktionsformen, Funktionsgesetze) und sachliche (ökonomische, kulturelle, politische etc,) Bezugsprobleme“ (106); andererseits sind Felder „Kampffelder“, in denen durch Aktionen und Konflikte um die Bewahrung oder Veränderung der je spezifischen Kräfteverhältnisse gerungen wird (106). Die Stellung der Akteure wiederum hängt von klassenspezifischen Faktoren ab (Kapitalstruktur und –volumen der Akteure in Bezug auf die im Feld geforderten Einsätze, habituelle Dispositionen etc.).

3.5. Praxeologie als Wissenschaftstheorie

Im vierten Schritt geht Heim auf die „wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisse“ (107) von MFB ein. Gemeinsamkeiten entdeckt er hier, zunächst bei Bourdieu und Foucault, in dem Bezug auf die Epistemologie Gaston Bachelards und Georges Canguilhems, die den Gegensatz von Wissenschaft und Erfahrung/Wahrnehmung betont. Wissenschaft verfährt demnach grundsätzlich konstruktivistisch, Bourdieu bezeichnet seinen Ansatz als „konstruktivistischen Strukturalismus“, Foucault warnt vor der „Illusion der Erfahrung“ (Foucault 2001, 928).

Bei Marx sieht Heim einen Bruch seines Wissenschaftsverständnisses zwischen den Frühschriften, der Deutschen Ideologie und den Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie mit ihrer berühmten Unterscheidung zwischen „Wesen“ und „Erscheinung“, zwischen innerer „Kerngestalt“ und der „fertige[n] Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt“ (MEW 25, 219). Marx hat in der Einleitung zu den Grundrissen seine analytisch-synthetische Methode vorgestellt, die das Konkrete, das Ganze der ökonomischen Verhältnisse als eine „Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“ (MEW 13, 631) gedanklich zu reproduzieren beansprucht, auf dem Wege also einer begrifflichen Konstruktionsarbeit, die sich sowohl absetzt vom Empirismus der Vulgärökonomie als auch reiner Spekulation à la Hegel (110f.).

Heim beschließt den im engeren Sinne theoretischen Teil mit Ausführungen zum Verständnis einer analytisch-kritischen Sozialwissenschaft bei MFB. Im Kern sieht er deren Gemeinsamkeit in der Ablehnung eines normativen Kritikverständnisses, das die gesellschaftlichen Verhältnisse an normativ verstandenen Kategorien wie ‚Gleichheit’, ‚Freiheit’, ‚Gerechtigkeit’ oder ‚Mensch’, ‚Menschlichkeit’ und ‚Menschheit’ (133) bemisst, statt diese selbst als Momente (bestehender) gesellschaftlicher Praxis zu begreifen. Es geht – so Bourdieu – um die „exakte theoretische Analyse der Funktionsweise ökonomischer, politischer und ideologischer Strukturen“ (ebd.), deren Kritik in dem Nachweis ihrer „Ungleichgewichte, Widersprüche und damit Konfliktdynamiken und Veränderungspotenziale“ (134) bestünde. Heim nennt diesen Ansatz kritisch-funktionale Analyse, die wir im Weiteren mit Blick auf die Klassenverhältnisse im Kapitalismus weiterverfolgen.

Teil II: Klassenverhältnisse im Kapitalismus

Die gegenstandsbezogenen Analysen Heims beginnen mit einem längeren Abschnitt (Kapitel III), der der Marx’schen Darstellung einer kapitalistischen Ökonomie „im idealen Durchschnitt“ gewidmet ist. Das Begreifen der allgemeinen ‚Bewegungsgesetze’ der kapitalistischen Wirtschaftsform gilt Heim als Voraussetzung „für die Analyse von Hauptlinien der Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung“ (212), um die es dann in den weiteren Kapiteln geht. In Kapitel IV erarbeitet er die Genealogien kapitalistischer Vergesellschaftung unter Bezug auf Foucault und Marx. Im Kapitel V geht es um Funktionen und Metamorphosen der kapitalistischen Klassenverhältnisse bei Marx und Bourdieu. Hierauf wollen wir näher eingehen.

Klassenanalysen, auch solche in der Tradition des Marxismus stehende, kommen, so Heim, nicht an der Theorie von Bourdieu vorbei. Denn trotz der Distanz zwischen Bourdieu und dem „Marxismus“ gebe es „theoretische Konvergenzen und wechselseitige Ergänzungspotenziale beider Ansätze“ (423). Das Besondere des Klassenbegriffs müsse in drei Momenten gesehen werden: Es handle sich sowohl um einen ökonomischen als auch soziologischen Funktionsbegriff, und drittens biete er als Begriff die Möglichkeit, „Ungleichheiten, soziale Bewegungen und Konfliktdynamiken“ zu analysieren (425). In Anlehnung an Marx, der ja im Kapital auch keine reale kapitalistische Gesellschaft gekennzeichnet habe, sondern „ein Modell der Logik des Kapitalverhältnisses im ideellen Durchschnitt“, seien Klassen keine „realen sozialen Klassen“, sondern, laut Marx, „Personifikationen ökonomischer Kategorien“. Sie kämen nur „als Träger typischer Funktionen des Kapitalverhältnisses in Betracht“ (439). Mit Ausnahme der „historisch-rekonstruktiven Kapitel“ analysiere Marx „überhaupt keine sozialen Klassen“, sondern über ein „ funktionelles Schema definierte objektive Klassen“ (440).

Bourdieu knüpfe deutlich an Marx an, da sein Ansatz der Klassenanalyse mit der Analyse gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse verbunden sei (451). Der soziale Raum, in welchem sich Kapital und Klassen bei Bourdieu befänden, werde durch drei Dimensionen konstruiert: Erstens das Kapitalvolumen (gemeint ist damit die „Summe der Verfügungsmacht über verwertbare ökonomische und kulturelle Formen akkumulierter Arbeit“), zweitens die Kapitalstruktur (das bedeutet die „Zusammensetzung der verschiedenen Kapitalien“) und drittens die soziale Laufbahn, womit Auf- und Abstiegsmöglichkeiten angesprochen würden. Die erste Dimension, das Kapitalvolumen, ermögliche eine „vertikale Grobgliederung in obere (strukturell herrschende), mittlere und untere (strukturell beherrschte) Klassen“ (452). Die Kapitalstruktur als zweite Dimension, also die Verbindung und Gewichtung verschiedener Kapitalformen wie des ökonomischen und kulturellen Kapitals auf unterschiedlichen Polen, erlaube dann eine horizontale Einteilung der Klassen. Beispiel: Der Unternehmer als Mitglied einer Fraktion der herrschenden Klasse mit der Gewichtung auf dem ökonomischen Kapital und auf der anderen Seite der herrschenden Klasse die Fraktion der Kulturproduzenten und -vermittler mit der Gewichtung auf dem kulturellen Kapital (gemeint sind hier nach Heim beispielsweise Hochschullehrer, Kunstproduzenten und Intellektuelle). Bedingt durch eine „gleichgewichtigere Kapitalstruktur“ würden „freie Berufe und privatwirtschaftliche Führungskräfte in der Mitte stehen“. Mit der dritten Dimension, der sozialen Laufbahn, würden durch die damit verbundenen Auf- und Abstiegsmobilität weitere Fraktionierungen möglich (ebd.).

Für Bourdieu sei für die Bestimmung einer sozialen Klasse entscheidend, dass alle relevanten Merkmale in der Struktur ihrer Beziehungen gesehen würden. Diese „theoretisch objektivierbaren Beziehungen“ würden allerdings erst dann soziokulturell sichtbar, „wenn sie sich in besonderen symbolisch distinkten und distinktiven Praktiken und Einstellungen manifestieren“. Bourdieu habe dazu einen „Raum der Lebensstile“ (ein Präferenzsystem mit Vorlieben für Nahrung, Kunst, Kultur, Sport, Kleidung, Reisen etc.) geschaffen (453). Dieser unterscheide sich aber von der in Deutschland dominierenden soziologischen Milieuforschung dadurch, dass Bourdieu strukturelle Übereinstimmungen und Interdependenzbeziehungen zwischen Klassenlagen und Lebensstilen sehe, wobei hinzukomme, dass diese außerdem mit der „Analyse gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse verbunden“ seien (ebd.). Dieses Beispiel der Analyse des Klassenbegriffs und der Klassenverhältnisse mag erklären, weshalb Heim der Auffassung ist, dass Bourdieu marxsche Überlegungen aufgreife und weiterverfolge.

Es ist eine Stärke der Argumentation von Tino Heim, kapitalistische Verhältnisse nicht als individuelle Verfehlungen (Gier der Banker) oder moralisierende Kritiken („Raubtierkapitalismus“ oder „Turbokapitalismus“) zu erklären, sondern Ausbeutung und Reproduktion der Klassenverhältnisse mit ihren ungleichen Möglichkeiten als Ergebnis einer „sachlichen Logik“ zu analysieren, die die „formelle Freiheit und Gleichheit“ der Menschen voraussetze (457). Da Herrschaftsverhältnisse sich über „objektivierte gesellschaftliche Mechanismen“ reproduzierten, brauchten Herrschende nur noch in Ausnahmefällen zur Durchsetzung ihrer Klasseninteressen auf Gewalt zurückzugreifen. Heim sieht sowohl bei Marx wie bei Bourdieu, dass die Darlegung der Klassenverhältnisse als objektiven Herrschaftsverhältnissen „keine direkte soziale, politische und rechtliche Subordination“ wie in der Ständegesellschaft beinhalte (458). Der Autor fährt fort: „Die Reproduktion der Dominanzverhältnisse greift dabei mit den sachlichen Funktionslogiken von Ökonomie, Politik, Bildung, Kulturproduktion etc. derart ineinander, dass die strukturellen Dominanzverhältnisse unabhängig von intentionalen, auf Individuen zurechenbaren Herrschaftsakten bestehen“ (ebd.). Dass die Subalternen die bestehende Ordnung quasi naturgesetzlich akzeptieren und sich fügen, habe Marx nicht nur mit dem „stumme(n) Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ erklärt, sondern auch mit kulturellen und symbolischen Bedeutungen (ebd.). Ein Bezug auf Gramscis Hegemonietheorie wäre in diesem Zusammenhang vielleicht noch angebracht gewesen.

Es sei Bourdieu wie auch Marx darum gegangen, soziale Verhältnisse erkennbar werden zu lassen: einerseits Habitusprägungen und kulturelle Werteabstufungen in der Verbindung mit objektiven Aufgaben der gesellschaftlichen Felder (z.B. Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst, Religion) und andererseits, und dies vor allem in der Krise, „symbolische Praktiken der Distinktion“, auf die als „Fluchtpunkt der Legimitationsbeschaffung“ zurückgegriffen würde. Beispiele seien hier die vermehrten Gründungen von Stiftungen, das Werben um Mäzene, Spenden an Kliniken, Bildungs- und Kultureinrichtungen, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen (464).

Die Reproduktion der Klassenverhältnisse und die damit einhergehende sozialstrukturelle Ungleichheit seien eine notwendige Bedingung kapitalistischer Produktion. So zeige sich in der soziologischen Debatte um Inklusion und Exklusion der „blinde Fleck“ der Systemtheorie, die eingestandene Ratlosigkeit, die nach wie vor bestehenden krassen Unterschiede der Lebenschancen und ihrer Reproduktion erklären zu können. Ursache sei, dass diese Reproduktion sozialer Ungleichheit nicht in einem funktionalen gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werde. Blende man diesen aus, bleibe nur die Artikulation von Mitleid und die Forderung nach humanitären Gesten gegenüber notleidenden Bevölkerungskreisen (498). Diesen Zusammenhang immer wieder deutlich herauszustellen, auch darin liegt die Stärke der Analyse von Heim.

Marx habe die politischen Formen nicht nur als „Reflex der Ökonomie“ gesehen, sondern auch als eine „Voraussetzung jeder Veränderung der ökonomischen Verhältnisse“. Diese Formen seien „autonom“, da z.B. Verfassung und Regierung nicht direkt von der Art des Wirtschaftens abhingen; diese Autonomie sei aber „relativ im Verhältnis zur Totalität, in dem politische und ökonomische Formen vereinbar sein müssen“ (478). Bei dieser Analyse der relativen Autonomie der Politik geht Heim leider nicht auf Nicos Poulantzas ein, der dazu eine Theorie des kapitalistischen Staates entwickelt hat.

Für Heim ist es kurios, wenn ausgerechnet die Theorien von Marx und Bourdieu oft als statisch und deterministisch charakterisiert würden, obwohl doch beide Theorien auf „relationalen und dynamischen Analysekategorien“ aufbauten, mit denen „dynamische Prozesse, Krisen und Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse“ analysiert würden (551). Um eine Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft als überholt zu markieren, hätten auch griffige Zeitdiagnosen gedient, mit Stichworten wie Konsum-, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile bzw. postindustrielle und postkapitalistische Gesellschaft. Als Widerlegung wäre auch die simple These „Klassenstruktur = Arbeit vs. Kapital = Elend = Revolution“ benutzt worden, um den Umkehrschluss nahe zu legen: „nicht Revolution = nicht Elend = nicht Arbeit vs. Kapital = keine Klassenstruktur“ (553).

Es sei auch ein Fehler zu behaupten, Klassenverhältnisse beinhalteten statische Sozialmilieus; vielmehr seien sie im Gegenteil ein „dynamisches Kraftfeld funktioneller und sozialer Relationen, die in variierender Form immer neu reproduziert werden“ (ebd.). Sozialmilieus sollten als Korrelat des Klassenbegriffs gesehen werden, als, laut Michael Vester, „Alltagsebene der Klassenpraxis“ (564).

Die Logik globalisierter Finanzmärkte und ihre strukturelle Dominanz gegenüber der Politik seien weder naturwüchsig entstanden, noch seien Entscheidungen Einzelner von deren guten oder bösen Willen abhängig. Die auf „marktkonforme Demokratie“ eingeschworenen Regierungen agierten auf die antizipierten Reaktionen „der Märkte“ (ein Begriff, der nach Bourdieu ebenso wie beispielsweise Profit, Börsennotierung und öffentliche Meinung Fetische sind, „Produkte einer sozialen Konstruktionsarbeit“) und Rating-Agenturen (vgl. 580). Die Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa habe die Handlungsoptionen der Mitgliedsstaaten soweit beschnitten, dass diesen nur die neoliberalen Instrumente der Privatisierung, des Sozialdumpings, des Lohnabbaus und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes verblieben, um im Namen der Haushaltskonsolidierung und der Geldwertstabilität am Ausverkauf der sozialen Errungenschaften mitzuwirken, so Bourdieu (vgl. 582). Folgen seien u.a. die Erosion der Mittelschicht und die Prekarisierung der Erwerbsarbeit. Ein deregulierter Finanzmarkt erfordere nach Bourdieu einen deregulierten Arbeitsmarkt und damit prekarisierte Arbeitsverhältnisse (583). So wird deutlich, dass in vielen Ländern der herrschende neoliberale Konsens die Anforderungen der Wirtschafts- und Finanzkrise an den Menschen als scheinbare Alternativlosigkeit exekutiert und ideologisch legitimiert.

Vermittlung, nicht Abgrenzung

Klassentheorien und -analysen oder solche Analysen, die als Vorstufen dazu betrachtet werden können, treffen den Nerv der bürgerlichen Öffentlichkeit, wie die Aufgeregtheit um das kürzlich in den USA erschiene Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty („Capital in the Twenty-First Century“) beweist. Die FAZ schwankt zwischen Lob im Feuilleton (08.05.2014) und heftiger Kritik im Wirtschaftsteil (15.05.2014). Jürgen Ritsert („Soziale Klassen“, Münster 1998) hat dargelegt, wie viel Gehirnschmalz deutsche Soziologen nach 1945 aufwandten, um den Klassenbegriff aus den Sozialwissenschaften an den Universitäten fern zu halten.

Es ist das große Verdienst von Heim, aufgezeigt zu haben, wie produktiv die Arbeit an den theoretischen Verbindungen von Marx, Foucault und Bourdieu für die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge, sowohl in ihrer historischen Genese als auch in den sachlogischen Funktionen, sein kann. Robin Mohan hat in seiner Rezension im Argument 306 darauf verwiesen, dass „die Zeiten strenger Abgrenzungen […] zu Ende zu gehen“ scheinen (vgl. dazu auch Hanna Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx, Bielefeld 2010). Wir schließen uns dem an.

Literatur

Bourdieu, Pierre:

1976: Entwurf zu einer Theorie der Praxis, Frankfurt/Main.

1987: Sozialer Sinn. Kritik der Theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main.

1992: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg.

Foucault, Michel:

1974: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main.

1978: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin.

1991: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/Main.

2001: Dits et Ecrits. Schriften, Band 1 (1965-1969), Frankfurt/Main.

Heinrich, Michael:

1991: Die Wissenschaft vom Wert, Hamburg.

1 „…, dass die Verknüpfung der Theorieansätze sowie der soziologischen und historischen Analysen von Marx, Foucault und Bourdieu ein produktiveres und differenzierteres Verständnis moderner (kapitalistischer) Gesellschaften und ihrer historischen Entwicklungslinien und Transformationen bis in die Gegenwart ermöglicht, als zahlreiche soziologische ‚Gesellschaftsdiagnosen’ der letzten Jahrzehnte.“ (19)

Dieser Beitrag erschien in einer gekürzten Fassung im DISS-Journal 27: „Metamorphosen des Kapitals“