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Wege durchs Dickicht

Vorschläge zur Durchführung von Diskursanalysen. Von Siegfried Jäger.

Erschienen in: Cleve, Gabi / Jäger, Margret / Ruth, Ina (Hg.) Schlank und (k)rank. Schlanke Körper – schlanke Gesellschaft. Forschungsbericht des DISS 1997, 168-178.

Um das ‘Gewimmel’ bzw. das ‘große Wuchern des Diskurses’ analysierbar zu machen, habe ich – orientiert an bzw. inspiriert durch Michel Foucault und in Auseinandersetzung mit einer Reihe von Rezeptionsbemühungen seiner Theorie – einige analytische Kategorien und insgesamt ein Verfahren zu entwickeln versucht, das wir in Duisburg in einer Reihe von empirischen Projekten ausprobiert haben und zu erweitern bemüht waren. Diese Kategorien vervollständigen die Foucaultschen und können dazu dienen, ein handhabbares Verfahren von Diskursanalyse zur Verfügung zu stellen.

Ich möchte im folgenden ganz knapp umreißen, wie dieses Verfahren aussieht. Dabei werde ich auch mögliche Berührungen mit dem Paderborner Projekt andeuten. ((Mit dem Paderborner Projekt ist hier das von der DFG geförderte Projekt „Die Ordnung der Geschlechterverhältnisse“ angesprochen. In diesem Projekt geht es um die Rekonstruktion der „Kulturkrise“ an der Wende zum 20. Jahrhundert.))

Das allgemeine Ziel von Diskursanalysen kann darin gesehen werden, einen Diskursstrang oder auch mehrere miteinander verschränkte Diskursstränge historisch und gegenwartsbezogen zu analysieren. Dabei sind auch vorsichtige Aussagen über die weitere Entwicklung der Diskurse in der Zukunft möglich. Diskurs fasse ich als „Fluß von ‘sozialen Wissensvorräten’ durch die Zeit“, der aus der Vergangenheit kommt, die Gegenwart bestimmt und in der Zukunft in wie auch modifizierter Form weiterfließt! Er formiert subjektives und kollektives Bewußtsein und übt insofern Macht aus. Denn subjektives und kollektives Bewußtsein sind die Grundlage für die Auseinandersetzung mit und die Neuformierung/ Weiterentwicklung/ Veränderung von Gesellschaft.

Diskursstränge sind thematisch einheitliche Diskursverläufe, die aus einer Vielzahl von Elementen, sogenannten Diskursfragmenten, zusammengesetzt sind. Diskursfragmente sind am ehesten mit Foucaults Aussagen in der „Archäologie des Wissens“ zu vergleichen. Sie sind häufig oder fast immer mit anderen thematischen Elementen verwoben, also solchen, die nicht direkt zum Thema gehören, also aus der Perspektive einer bestimmten Fragestellung zwar nicht uninteressant sein mögen, weil solche Hinweise Verschränkungen mit anderen Diskurssträngen enthalten können; durch diese Verschränkungen können besondere Effekte erzielt werden. Die außerhalb des Themas auftretenden Diskursfragmente können aber auch völlig nebensächlich und uninteressant sein bzw. aus der Perspektive einer bestimmten Fragestellung als sonstiges diskursives Material angesehen werden und zunächst unbeachtet bleiben.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß Diskursanalyse mit einer präzisen Bestimmung und Begründung ihres Gegenstandes, ihres Themas, wenn man so will, zu beginnen hat. Die zu untersuchenden Diskursstränge sind thematisch möglichst genau gegenüber sonstigen Diskurssträngen abzugrenzen. Foucault würde hier vielleicht von der Notwendigkeit der genauen Verortung des Referentials sprechen.

Zu beachten ist ferner, daß Diskursstränge auf unterschiedlichen Diskursebenen angesiedelt sind, also auf der Ebene der Politik, der Medien, des Alltags etc. Diese Diskursebenen beeinflussen einander und vermischen sich gelegentlich, etwa wenn Politiker in den Medien Interviews geben oder in einem Medium einen Gastkommentar abliefern. Es ist also als zweites zu benennen, auf welcher Diskursebene der zu untersuchende Diskursstrang bzw. die zu untersuchenden Diskursstränge angesiedelt sind.

Auch die Bestimmung des Ortes, von dem aus jemand oder auch eine Zeitung oder Zeitschrift am Diskurs teilnimmt, dürfte wichtig sein. Wir bezeichnen diesen Ort als Diskursposition. Diese Diskursposition ist in der Regel erst aufgrund der vorgenommenen Analyse des Gegenstandes zu bestimmen.

Besonders wichtig ist uns die Form oder Struktur des Diskursstranges. Sie kann grob oft bereits an Rubrik und Textsorte festgemacht werden, genauer aber durch eine primär linguistisch verfahrende Feinanalyse (s.u.).

Kurz und knapp könnte man sagen, daß es bei der Verortung eines Diskursstranges auf das Wer, Was, Wie, Wann und Wo ankommt, also auf das Subjekt der Aussage, das Referential oder die Aussage selbst, auf ihre Struktur oder Form, den Zeitpunkt oder auch Zeitraum und auf den extradiskursiven Rahmen, in dem sich der Diskursstrang bewegt. Den Bezug von Wie und Was könnte man daher auch als innerdiskursiv und die Relation von Subjekt und Rahmen als extradiskursiv bezeichnen.

Es scheint mir weiterhin sinnvoll zu sein, mit Jürgen Link zwischen wissenschaftlichen Diskursen, die er Spezialdiskurse nennt, und anderen Diskursen zu unterscheiden, die in ihrer Gesamtheit von ihm als Interdiskurs bezeichnet werden. Dies deshalb, weil diese Bereiche einander beeinflussen und durch dringen können. So kann etwa ein Interdiskursstrang über Geschlechter durchaus theoretische Ausführungen etwa eines sozialwissenschaftlichen Spezialdiskurses beeinflussen oder gar bestimmen.

Damit sind die Kategorien bereitgestellt, die die Verortung des Diskursstranges ermöglichen. Eine solche Verortung und Bestimmung des zu untersuchenden Gegenstandes oder Themas ist nun keineswegs so einfach, wie sich dies hier auf den ersten Blick darstellen mag. Geht es etwa um die Frage, wie in Politik, Medien oder Alltag Rassismus verbreitet ist und in welchen Formen er auftritt, so versteht es sich, daß man nicht mit dem Begriff von Rassismus als einer Art Lupe auf die Suche geht und nach dem Auftreten dieses Ideologems fahndet. Statt dessen ist der thematische Ort zu bestimmen, an dem solche Ideologeme überhaupt auftreten können. Dieser Ort ist in diesem Fall der Diskurs über Einwanderer, Flucht, Asyl etc. Dieser Diskurs(strang) ist dann das zu untersuchende Material, nicht etwa nur rassistische Aussagen.

Oder um das Paderborner Projekt „Die Ordnung der Geschlechterverhältnisse“ zu nennen: Hier soll der Diskurs über die „Kulturkrise“ an der Wende zum 20. Jahrhundert untersucht werden. Dabei ist von besonderem Interesse, welche Effekte von den dort vorgetragenen Argumenten ausgingen, diese Krise, die ja wohl als Krise der Gesellschaft insgesamt aufgefaßt werden soll, sei durch eine Femininisierung der Kultur verursacht worden.

Nach einer solchen Bestimmung des Gegenstandes der Untersuchung wäre aus meiner Perspektive nun die folgende Frage zu beantworten: Wie ist diese Fragestellung so zu operationalisieren, daß sie diskursanalytisch sinnvoll untersucht werden kann? Ich möchte das im folgenden knapp auf dem Hintergrund unserer methodologischen Überlegungen zu skizzieren versuchen.

Aufgerufen sind zum einen der Diskurs über Frauen und zum anderen der über Kultur bzw. Gesellschaft, und gefragt wird, wie sich diese beiden Diskursstränge miteinander verschränken bzw. ob sie sich so miteinander verschränken, daß der Eintritt von Frauen in die „Kultur“ als „Kulturkrise“ stigmatisiert wurde und welche Folgen dies für die weitere diskursive Konstituierung historischer und aktuell-gegenwärtiger Frauen- und vielleicht auch Männerbilder gehabt hat.

Man könnte nun so vorgehen, daß man den Diskursstrang Frauen (als Diskurs über Frauen) und den Diskursstrang „Kultur“ in einem bestimmten Zeitraum in ihrem gesamten Umfang zu erfassen versucht. ((Zum Problem der Bewältigung großer Materialmengen bei Diskursanalysen allgemein vgl. den zweiten Teil dieser methodologischen Vorschläge.)) Das würde eine riesige Materialfülle erzeugen2, selbst wenn man sich auf den sozialwissenschaftlichen Spezialdiskurs beschränken würde und erst recht, wenn man den literarischen, zeitgenössisch-akademischen etc. Diskurs hinzunähme. Sinnvoll wäre dann etwa die folgende Einschränkung: Zu untersuchen sind sozialwissenschaftliche Texte aus der Zeit um die vorige Jahrhundertwende, in denen sowohl über Frauen wie über „Kultur“ gesprochen wird. Eine weitere m. E. sinnvolle Eingrenzung ergäbe sich, wenn man sich auf eine Auswahl hegemonialer wissenschaftlicher Zeitschriften beschränken würde – das wäre dann der (hegemoniale) Sektor der Diskursebene Medien des Spezialdiskurses Sozialwissenschaften. In dem zu ermittelnden Dossier (trad. Corpus) wären zunächst alle Aussagen (Diskursfragmente) über Frauen herauszufinden, alle Aussagen über „Kultur“ und damit auch alle Aussagen, in denen Frauen und Kultur zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Zu fragen wäre: Wie werden dort Frauen dargestellt, wie wird „Kultur“ dargestellt? Wie wird die Relation zwischen beiden indirekt und direkt formuliert? Eine solche Engführung des Dossiers wäre deshalb sinnvoll, weil man sagen könnte, daß dieses Material geeignet war, auch den gesamten Interdiskurs zu durchdringen und damit einen erheblichen Beitrag zur diskursiven Konstituierung des Subjekts Frau bis in die Gegenwart zu leisten geeignet war.

Aus dem Gesagten geht bereits hervor, daß bei der Bestimmung des zu untersuchenden Gegenstandes allein schon aus arbeitstechnischen Gründen und wegen der begrenzten Forschungskapazität gewisse Einschränkungen unerläßlich sind, die aber, wenn sie reflektiert vorgenommen werden, die Tragfähigkeit der zu erwartenden Aussagen nicht beeinträchtigen müssen. Ich will die damit verbundenen Probleme im folgenden knapp und ganz allgemein anreißen:

Meist wird man sich auf eine Diskursebene konzentrieren müssen, etwa die der Medien. In bestimmten Fällen können auch mehrere Ebenen parallel untersucht werden oder auch mehrere Sektoren einer Ebene (etwa Frauenzeitschriften, etwa Nachrichtensendungen im TV). Oft wird man nur einen Teilsektor der Diskursebene untersuchen können, etwa Printmedien oder Fernsehen. Es muß genau begründet werden, weshalb man sich diesem Sektor widmet: etwa weil er in besonderer Weise zu zeigen verspricht, wie ein Thema massenhaft verbreitet wird, oder: weil dieser Sektor bisher nicht untersucht worden ist (wobei dann selbstverständlich auf andere Sektoren, die bereits untersucht worden sind, eingegangen werden sollte).

Ein ‘synchroner’ Schnitt durch den Diskursstrang, der immer insofern zugleich diachron-historisch ist, als er ‘geworden’ ist, kann je nach Fragestellung und Diskursebene unterschiedlich aussehen. Bei Printmedien etwa zum Thema Biopolitik könnte ein ganzes Jahr genommen werden, weil auch beim gründlichen Lesen der betr. Zeitungen erst in einem längeren Zeitraum die Bandbreite des Diskursstranges qualitativ vollständig erfaßt sein dürfte. Bei der Darstellung der Frau in einem kleinen Sektor der Diskursebene Medien wie etwa dem Schlager dagegen reicht (wahrscheinlich) eine sehr kleine Anzahl von Beispielen, weil hier mit extremen exemplarischen Verdichtungen zu rechnen sein dürfte. (Das muß aber nachgewiesen werden!)

Wichtig ist es auch, die Unterthemen des zu untersuchenden Diskursstranges im jeweiligen Sektor der Diskursebene zu erfassen und (in etwa) den Oberthemen zuzuordnen, die in ihrer Gesamtheit den Diskursstrang der betreffenden Zeitung oder Zeitschrift bzw. des betreffenden Sektors der Diskursebene ausmachen.

Das Zusammenwirken mehrerer Diskursebenen bei der Regulation von (Massen-)Bewußtsein ist besonders spannend, aber ihre Analyse ist auch gewaltig arbeitsaufwendig. Hier wird man nach wohlbegründeten Exempla aus den verschiedenen Diskursebenen suchen müssen und deren Zusammenwirken exemplarisch aufzeigen.

Das Problem vervielfältigt sich selbstverständlich, wenn das Zusammenwirken verschiedener Diskursstränge untersucht werden soll. Ich möchte nun überblickhaft die Vorgehensweise unseres Verfahrens der Diskursanalyse skizzieren:

Vorgehensweise

Als Vorgehensweise für eine (einfache) Diskursanalyse bietet sich an:

a) Definition der Fragestellung und Bestimmung des Diskursstranges, in dem diese Fragestellung virulent werden kann

b) knappe Charakterisierung (des Sektors) der Diskursebene, etwa sozialwissenschaftliche Zeitschriften, Print-Medien, Frauenzeitschriften, Schlager, Videofilm etc.

c) Erschließen und Aufbereiten der Materialbasis bzw. Erstellung des Dossiers bzw. des Corpus (s.u.: Analyseleitfaden zur Materialaufbereitung)

d) Auswertung der Materialaufbereitung in Hinblick auf den zu analysierenden Diskursstrang (s. u. Analyseleitfaden zur Materialaufbereitung, Pkt. 1)

e) Feinanalyse eines oder mehrerer für den Sektor bzw. etwa auch für die Diskursposition der Zeitung etc. möglichst typischen Artikels (bzw. Diskursfragments), der/das selbstverständlich einem bestimmten Oberthema zuzuordnen ist (s. Analyseleitfaden zu Materialaufbereitung, Pkt. 2)

f) Es folgt die Gesamtanalyse des (gesamten) Diskursstranges im betreffenden Sektor bzw. in der betreffenden Zeitung oder Zeitschrift etc. Das bedeutet: Es werden alle bisher erzielten wesentlichen Ergebnisse reflektiert und einer Gesamtaussage über den Diskursstrang in der betreffenden Zeitung oder Zeitschrift bzw. des untersuchten Sektors zugeführt. Die über diesem abschließenden Teil schwebende Frage könnte etwa lauten: ‘Welchen Beitrag leistet die betreffende Zeitung etwa zur Durchsetzung biopolitischer Konzepte und Praxen in der BRD in der Gegenwart und welche weitere Entwicklung ist vermutlich zu erwarten?’ Wiederum auf das Paderborner Projekt gemünzt, könnte sie lauten: ‘Welchen Beitrag zur Konstituierung des aktuellen Frauenbildes leistet die Verschränkung des Diskursstranges Frauen mit dem Diskursstrang Kultur bzw. Gesellschaft in sozialwissenschaftlichen Zeitschriften der Jahrhundertwende, und wie wird sich dieses vermutlich in nächster Zukunft weiterentwickeln?’ ((Zur Frage des kritischen Potentials von Diskursanalyse bzw. der nach den Kriterien der Kritik vgl. Jäger 1997))

Für die Materialaufbereitung von Diskurssträngen und einzelnen Diskursfragmenten haben wir verschiedene Analyseleitfäden entwickelt, von denen ich im folgenden eine Variante darstelle, die vor allem bei Medienanalysen sinnvoll einzusetzen ist.

Materialaufbereitungen sind Basis und Herzstück der anschließenden Diskursanalyse. Von einer sorgfältigen Erfassung und Aufbereitung des Materials hängt die Diskursanalyse wesentlich ab. Es empfiehlt sich vor allem bei größeren Projekten mit mehreren MitarbeiterInnen, daß bei der Materialaufbereitung der jeweilige Analyseleitfaden in der gleichen Reihenfolge ‘abgearbeitet’ wird, ohne daß dabei schematisch vorgegangen werden sollte. Das deshalb, weil die synoptische Analyse (= vergleichend-zusammenfassende Analyse) im Anschluß an die einzelnen Untersuchungen z.B. eines jeweiligen Zeitungs- und Zeitschriftenjahrgangs darauf angewiesen ist, die Ergebnisse systematisch nebeneinanderzustellen. In die Materialaufbereitungen können/sollten immer schon Einfälle und Interpretationsansätze eingehen, und zwar immer dann, wenn man solche Einfälle/ Ideen hat. Solche interpretativen Passagen sollten aber besonders gekennzeichnet werden, z.B. durch Unterstreichungen, Kursivdruck etc.

1  Materialaufbereitung für die Analyse z.B. eines Diskursstranges einer Zeitung/Zeitschrift

1.1 Charakterisierung der Zeitung: Politische Verortung, Leserschaft, Auflage usw.

1.2 Überblick über (z.B.) den gesamten Jahrgang in Hinblick auf die zu untersuchende Thematik

1.2.1 Liste der erfaßten Artikel unter Angabe der bibliographischen Daten; Stichwort(en) zur Thematik; Angabe der journalistischen Textsorte; mögliche Besonderheiten; Angabe der Rubrik bei Wochenzeitungen/-zeitschriften

1.2.2 Zusammenfassender Überblick über die in der Zeitung/Zeitschrift angesprochenen/aufgegriffenen Themen; qualitative Bewertung; auffälliges Fehlen bestimmter Thematiken, die in den anderen ausgewerteten Zeitungen/Zeitschriften angesprochen wurden; zeitliche Präsentation und Häufungen bestimmter Thematiken in Hinblick auf mögliche diskursive Ereignisse

1.2.3 Zuordnung der Einzelthemen zu thematischen Bereichen (z.B. beim biopolitischen Diskursstrang etwa ‘Kranheit/Gesundheit’, ‘Geburt/Leben’, ‘Tod/Sterben, ‘Ernährung’, ‘Ökonomie’, ‘Bioethik/Menschenbild’ (dabei für die spätere Nachvollziehbarkeit die unter den ‘Oberthemen’ zusammengefaßten Themen jeweils nennen – die Zuordnung soll nicht nur numerisch erfolgen!)

1.3 Zusammenfassung von 1.1 und 1.2: Bestimmung der Diskursposition der Zeitung/Zeitschrift in Hinblick auf die untersuchte Thematik

2 Materialaufbereitung für die exemplarische Feinanalyse von Diskursfragmenten: eines für die Diskursposition der Zeitung möglichst typischen Artikels bzw. von Artikelserien.

2.1  Institutioneller Rahmen: ‘Kontext’

2.1.1 Begründung der Auswahl des Artikels

2.1.2  Autor (Funktion und Gewicht innerhalb der Zeitung, Spezialgebiete usw.)

2.1.3   Anlaß des Artikels

2.1.4  Welcher Rubrik ist der Artikel zugeordnet?

2.1.5  (Bei Interviews: Interviewsituation etc.)

2.2  Text-‘Oberfläche’

2.2.1 Grafische Gestaltung inkl. Bebilderung und Grafiken

2.2.2 Überschriften, Zwischenüberschriften

2.2.3 Gliederung des Artikels in Sinneinheiten

2.2.4 Im Artikel angesprochene Themen (Diskursfragmente) (ihre Berührungen, Überlappungen)

2.3 Sprachlich-rhetorische Mittel

2.3.1  Art und Form der Argumentation, Argumentationsstrategien

2.3.2 Logik und Komposition

2.3.3 Implikate und Anspielungen

2.3.4 Kollektivsymbolik bzw. ‘Bildlichkeit’: Symbolik, Metaphorik usw. in sprachlichen und graphischen Kontexten (Statistiken, Fotos, Bilder, Karikaturen etc.)

2.3.5 Redewendungen, Sprichwörter

2.3.6 Wortschatz und Stil

2.3.7 Akteure (Personen, Pronominalstruktur)

2.3.8 Referenzbezüge: Berufung auf die Wissenschaft(en), Angaben über die Quellen des Wissens o.ä.

2.4 Inhaltlich-ideologische Aussagen
(Die folgenden Fragestellungen hängen vom jeweiligen Thema ab. Hier sind einige erwähnt, die für eine Untersuchung des Themas Biopolitik in Printmedien entwickelt worden sind.)

2.4.1  Z.B.: Welche Art von Menschenbild setzt der Artikel voraus, vermittelt der Artikel?

2.4.2  Z.B.: Welche Art von Gesellschaftsverständnis setzt der Artikel voraus, vermittelt der Artikel?

2.4.3 Z.B.: Welche Art von Technikverständnis setzt der Artikel voraus, vermittelt der Artikel?

2.4.4 Z.B.: Welche Zukunftsperspektive entwirft der Artikel?

2.5 Sonstige Auffälligkeiten

2.6  Zusammenfassung: Verortung der Ergebnisse der Feinanalyse Diskursstrang (s. 1.3) Das ‘Argument’, die Kernaussage des gesamten Artikels; seine allgemeine ‘Botschaft’, ‘Message’

3  Diskurs(strang)verschränkungen
Solche Verschränkungen führen zu bestimmten diskursiven Effekten, die etwa zur Verstärkung, aber auch zur Relativierung bestimmter Aussagen beitragen können. ((Vgl. dazu M. Jäger 1997, wo eine solche Diskursverschränkung zwischen Einwanderungs- und Frauendiskurs überzeugend analysiert worden ist. Im Ergebnis ist dabei festzuhalten, daß eine im Einwanderungsdiskurs geäußerte Kritik am (moslemischen) Patriarchat dazu geeignet ist, die in diesem Diskurs virulenten rassistischen Effekte zu verstärken. Vgl. dazu auch S. Jäger/ M. Jäger 1997.)) Welche Effekte die Verschränkung des Diskursstranges Kultur mit dem Diskursstrang Frauen (in sozialwissenschaftlichen Zeitschriften der Jahrhundertwende) erzeugt, ist selbstverständlich nicht im Vorhinein zu sagen. Wenn aber z.B. die Frau als Kulturkrisenverursacherin ermittelt wird, ist damit zu rechnen, daß ein konservativ-autoritäres Frauenbild konstituiert wird.

4  Abschließende Einordnung der Untersuchungsergebnisse unter Rückgriff auf die vorliegenden Materialaufbereitungen (Grob- und Feinanalyse(n)) bzw. von Diskurs(strang)verschränkungen

Nach erneuter Durcharbeitung der Materialaufbereitungen, Feststellung von Begründungszusammenhängen zwischen den unterschiedlichen Aufbereitungsebenen, Ergänzungen interpretatorischer Ansätze, Verwerfung zu schwach begründeter Interpretationsansätze etc. liegt nun eine vollständige und möglichst lückenlose Materialaufbereitung eines oder mehrerer Diskursstränge vor. Damit ist die Basis gelegt für die Abfassung einer Gesamtanalyse des betreffenden Diskursstranges bzw. von Diskursstrangverschränkungen, deren Ästhetik nicht im einzelnen vorgeschrieben werden kann und soll. Wie diese aussieht, das ist eine Frage des „schönen Schreibens“, der Zielgruppe, des Veröffentlichungsortes etc. Wichtig ist hier vor allem, daß die vorgetragene Argumentation stringent, materialreich und überzeugend ist.

Im folgenden möchte ich abschließend einige Thesen und Bemerkungen dazu vorlegen, wie bei einer qualitativen Analyse mit großen bzw. umfangreichen Materialmengen umgegangen werden kann. Damit möchte ich gleichzeitig einen bereits angesprochenen Aspekt von Diskursanalyse methodisch vertiefen.

Diskursanalysen beziehen sich auf vollständige Diskursstränge bzw. auf synchrone Schnitte durch diese. Dabei fallen meist große Materialmengen an, die nach den üblichen Verfahren kaum analytisch zu bewältigen sind, es sei denn, auf Kosten einer genauen Analyse. Am Beispiel des im DISS durchgeführten Projekts zum Bereich „Biomacht und Medien“ ((Jäger/Jäger/Ruth/Schulte-Holtey/Wichert (Hg.) 1997)) will ich ein Verfahren darstellen, wie große Materialmengen diskursanalytisch zu bewältigen sind. ((6 Zu den Problemen quantitativer und qualitativer Sozialforschung vgl. Jäger 1993, S. 53–84. Elemente quantitativer Verfahren können m.E. bei der Materialbeschaffung und -sichtung gelegentlich hilfreich sein. So lassen sich etwa Schlüsselwörter und Schlüsselwortkombinationen auf CD-Roms für bestimmte Zwecke durchaus sinnvoll automatisch suchen. Deren quantitatives Auftreten kann Rückschlüsse auf Themengewichtungen bis hin zu Diskursverlagerungen möglich machen. Vgl. dazu etwa die Vorgehensweise von Mark Galliker, wie sie z.B. in Weimer/Galliker 1996 dargestellt wird.))

  1. Das ‘Biomacht-Projekt’ bezog sich auf (ausgewählte) Printmedien (= eine Diskursebene). Es wurden möglichst alle Artikel zum „Thema“ archiviert und nach Unterthemen geordnet. Sodann wurde der Diskursstrang auf dieser Grundlage beschrieben und charakterisiert (= Grobanalyse). Es folgten jeweils Fein­analysen, und abschließend wurde auf der Grundlage der vorangegangenen Ana­lysen eine Gesamtinterpretation des Diskursstranges vorgenommen. Im Resultat liegt die Analyse eines synchronen Schnitts durch den Diskursstrang vor.
  2. Die Materialmenge des Gesamtprojekts betrifft den Umfang des Dos­siers (trad. Corpus). Die Erstellung dieses Dossiers ist bereits Teil der empiri­schen Untersuchung und kann nicht im Vorhinein festgelegt werden. Es ist
    dann vollständig, wenn keine neuen strukturellen und thematischen Phänome­ne (im Rahmen der Fragestellung) mehr auftauchen. Der Umfang resultiert also letztlich aus der Fragestellung. ((Mit dem Postulat der Vollständigkeit ist durchaus ein quantitativer Aspekt von Dis­kursanalyse angesprochen. Es werden alle Diskursfragmente ermittelt. Dabei wer­den zugleich Trends und thematische Schwerpunkte erfaßt.))
  3. Der Umfang des Dossiers kann reduziert werden, indem man die Frage­stellung modifiziert. Beispiel: Will ich (eine Person) den Diskursstrang x auf den Ebenen a, b und c untersuchen und komme ich dabei zu y Diskursfragmen­ten, deren Sammlung/Bearbeitung z Jahre beansprucht, habe aber nur z minus 1 Jahre Zeit, dann habe ich (wohlbegründet) die Wahl, die Diskursebenen zu reduzieren und/oder die Thematik x einzuengen (z.B. auf einen Unterdiskurs­strang xl). Überlegungen dazu sollten bereits in der Vorbereitungsphase zu ei­nem Projekt angestellt werden, weil man dann bereits grob abschätzen kann, wie umfangreich die Materialgrundlage wahrscheinlich werden wird.
  4. Das Problem der Materialfülle spitzt sich dann weiter zu, wenn histori­sche Verläufe von Diskurssträngen analysiert werden sollen.
    Erstens deshalb, weil man evtl. Probleme mit der Materialerhebung bekommt. Ältere Alltagsinterviews sind z.B. kaum vorhanden und wenn, dann sind sie kaum nach dem Interesse der aktuell Forschenden angefertigt worden. Diese Diskursebene ist also für historische Analysen ziemlich ungeeignet. Besser sieht es bei den Medien und bei „schöner“ Literatur aus. Doch man sollte nicht zu schnell aufgeben. So könnte man evtl. Sekundäranalysen versuchen, d.h. sich auf Materialien stützen, die in anderen Projekten erhoben worden sind (z.B. oral history). Evtl. muß man von der Materialsituation her die Thematik modifizieren.
    Wenn man zweitens versucht, mehrere synchrone Schnitte historisch in den Blick zu bekommen, stellt sich einmal die Frage danach, wo man diese Schnit­te ansetzt. Dabei sollte man nicht unbedingt die überlieferten Epochen oder die gängige Geschichtsschreibung zur Richtschnur solcher Schnitte werden lassen. Davor warnt Foucault eindringlich, indem er aufgezeigt, daß „Geschichtsschreibung“ i.R. verfälschend operiert. Auch hier hat man nur die Wahl, Quellen zu sichten, diskursive Ereignisse ausfindig zu machen etc. Ohne ziemlich umfangreiches „Lesen“ wird man nicht klarkommen. Zum anderen stellt sich die Frage: wie man mit der sich daraus ergebenden möglicherweise noch größer werdenden Fülle des Materials klarkommt. Dazu s. oben!
  5. Trotz der Bedenken, die die Foucault-Lektüre auslösen muß, kann (und muß) man sich bei der empirischen Ermittlung von (historischen) Diskurssträngen hilfsweise auf Ergebnisse anderer Forschung beziehen. So könnte man sich beim Diskursstrang „Frauen“ auf Literatur mit dem Titel „Der Wandel des Bildes der Frau von der Antike bis zur Gegenwart“ stützen. Den Problemen möglicher Geschichtsklitterung kann man wohl nur dadurch entgegenwirken, daß man mehrere Texte vergleicht und auf möglichst authentische Quellen darin achtet.
  6. Einen Königsweg, der für jede Thematik gilt, gibt es nicht. Als Faustregel schlage ich vor, jede Festlegung, Modifikation, Beschränkung genau zu verorten und zu begründen. Neben eher pragmatischen Begründungen (Zeit und Geld) sind es vor allem sinnvolle inhaltliche Begründungen, von denen die Überzeugungskraft des methodischen Vorgehens abhängt.

Literatur

Jäger, Margret 1996: Fatale Effekte. Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs, Duisburg

Jäger, Margret/ Jäger, Siegfried/ Ruth, Ina/ Schulte-Holtey, Ernst/ Wichert, Frank (Hg.) 1997: Biomacht und Medien. Wege in die Bio-Gesellschaft, Duisburg

Jäger, Siegfried 1993: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg

Jäger, Siegfried 1997: Kulturkontakt – Kulturkonflikt. Ein diskursanalytisch begründeter Problemaufriß, in: Jung, Matthias/ Wengeler, Martin/ Böke, Karin (Hg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag, Opladen

Jäger, Siegfried/ Jäger, Margret 1997: Die Vernetzung biopolitischer Diskurse und ihre Machteffekte, in: Jäger, M./ Jäger, S./ Ruth/ Schulte-Holtey/ Wichert (Hg.) 1997, S. 304–344

Weimer, Daniel/ Galliker, Mark 1996: Explizite und implizite Bedeutung. Zur Kategorisierung und Bewertung im öffentlichen Diskurs am Beispiel eines Zeitungsartikels über eine Fragestunde mit dem Bundeskanzler, in: Jäger, Margret/ Jäger, Siegfried (Hg.) 1996: Baustellen. Beiträge zur Diskursgeschichte deutscher Gegenwart, Duisburg, S. 54–72