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Linke Wörter

Einige Bemerkungen zur Sprache der APO. Von Siegfried Jäger.

Erschienen in: Muttersprache 80 (1970), 85-108.

»Wir müssen in die Massen gehen, von den Massen ler­nen, ihre Erfahrungen zusammenfassen, um daraus noch bessere, noch schlüssigere Wahrheiten und Methoden ab­zuleiten, dann müssen wir sie erneut an die Massen heran­bringen (Propaganda), damit die Massen zu ihrer Ver­wirklichung aufrufen und die Probleme der Massen lö­sen, um sie Befreiung und Glück erlangen zu lassen.«. Mao Tse Tung

In streng soziologischem Sinne ist die APO keine Gruppe. Dafür entscheidend ist, daß ihr das Merkmal der Organisiertheit fehlt (Leopold von Wiese). Die APO setzt sich aus einer Vielzahl von Vereinen zusammen, z. B. dem Sozialistischen Deutschen Stu­dentenbund (SDS), Teilen des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) und des Liberalen Studentenbundes Deutschlands (LSD), der Humanistischen Union, den Re­publikanischen Clubs, dem Verband der Kriegsdienstverweigerer, der Kampagne für Abrüstung, dem Kuratorium Notstand der Demokratie und einigen Schülervereinigun­gen und Gewerkschaftsgruppen ((Vgl. E. J. Bernbeck, Politisches Wörterbuch. Aus dem politischen Sprachschatz der Gegenwart, Frankfurt 1968, S. 3f. und P. Weigt, Revolutionslexikon, Taschenbuch der außerparlamentarischen Aktion, Frankfurt 1968, S. 4 f.)). Dazu kommt eine ganze Anzahl von Einzelpersön­lichkeiten, die sich durch die Volksvertretung (Parlament) nicht ausreichend vertreten fühlen. Wortführer der außerparlamentarischen Opposition sind meist Professoren, Schriftsteller, Pfarrer, Studenten oder Gewerkschaftsführer.

Diese Aufzählung allein zeigt bereits, daß man von der Sprache der APO nicht ohne eine gewisse Kühnheit spricht. Dennoch finden sich in den schriftlichen Äußerungen derjenigen Vereinigungen und Einzelpersönlichkeiten, die sich selbst als dieser Oppo­sition angehörend betrachten, eine Reihe von Gemeinsamkeiten, vor allem im Wort­schatz. Dieser Wortschatz – einige Schlüsselwörter der außerparlamentarischen Oppo­sition sollen später noch eingehender in Augenschein genommen werden – erfreut sich lebhaftester Kritik bei Freunden und Feinden. Ein in der ›unabhängigen Zeitschrift für Kultur und Politik‹ »Konkret« abgedruckter Leserbrief vom 13.1.69 bemängelt an der Sprache Mitscherlichs und des SDS, sie könne die einfachsten Vorgänge mit nur für Esoteriker lesbaren Wortmonstren erklären. Die im Zusammenhang damit geäußerte Vermutung, eine Bewußtwerdung der »Lohn- und Gehaltsabhängigen« sei wohl nicht erwünscht, wird so leicht verständlich. Und wenn Rudi Dutschke schreibt, die Aufgabe der Intellektuellen sei es, mit dem Volk zu sprechen, und gleichzeitig beklagt, daß die Dialoge der Intellektuellen mit dem Volk noch fehlen ((R. Dutschke, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhalten zur dritten Welt, in: Bergmann, Dutschke, Lefevre, Rabehl: Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 92 (rororo Taschenbuch A 1043) )), so wundert man sich darüber, wieso dieser gescheite Mann nicht auf den Gedanken gekommen ist, daß dies, um mit Robert Neumann zu sprechen, vor allem an dem »adornierten Marcusich« liegt ((In Konkret v. 30. 6. 69, S. 54.)), dessen man sich mit solcher Vorliebe befleißigt. Wer eigentlich, so fragt man sich, versteht denn die Sprache der linken Studenten? Pardon-Redakteur Peter Knorr fand darauf eine bezeichnende Antwort: die vom ›harten Kern‹ der linken Studenten, dem SDS, gerne als »liberale Scheißer« verketzerten übrigen linken Studenten seien allein der revolutio­nären Sprachverwirrung gewachsen. »Die radikalen Exponenten auf Seiten des SDS«, so fährt Knorr fort, »liefern … mit ihren exzessiven, von der Bevölkerung unverstande­nen und vielfach schon deshalb abgelehnten Aktionen und Parolen dem System ein Ali­bi nach dem anderen, um gegen die Linke insgesamt einschreiten zu können. Der jahre­lange Verzicht, oder das Unvermögen, jene utopische, aber bessere, weil sozialistische Zukunft, die da per Revolution erkämpft werden soll, sich selbst und einer größeren Öffentlichkeit zu verdeutlichen und in einen erfaßbaren politischen Zusammenhang zu stellen, hat die SDS-Theoretiker auf die Dauer ins Leere laufen lassen.« Weiter ist hier die Rede von der »Sprache revolutionärer Eigenbrötler« und immerhin von der Ur­sache der Unverständlichkeit: über eine nicht definierbare Utopie könne man eben auch nicht verständlich reden ((Peter Knorr, Stoppt die falschen Revolutionäre, P 4/69, S. 9f.)). Das trifft natürlich, jedenfalls was die Sprache angeht, sicher­lich nicht den Kern der Dinge: Die Sprache des SDS und der übrigen außerparlamenta­rischen Opposition ist vielen auch dann nicht verständlich, wenn nicht für oder gegen jene »Utopie« die Rede ist, über die hier zu sprechen kein Anlaß besteht. Und wenn man gar an den Durchschnittsarbeiter denkt, der von der APO so sehr umworben wird, dann bin ich zwar nicht ganz der Ansicht Robert Neumanns, der glaubt, dieser sei erst ansprechbar, »wenn sie (die APO) statt ihrer Geheimsprache analog zu Bernhard Shaws ›Basic English‹ ein ›Basic German‹ mit zweihundert Wörtern entwickeln kann, in Sätzen, deren keiner mehr als vier Zeilen lang ist.« ((Robert Neumann in Konkret vom 30. 6. 1969, S. 54 f.)) Doch immerhin scheint auch mir in dieser temperamentvoll-überheblichen Übertreibung ein recht ansehnliches Korn Wahrheit versteckt zu sein. Nun ist es keineswegs so, als hätten die »linken« Studenten dies nicht gemerkt. Wer die Flugblätter kennt, mit denen sich die APO an Arbeiter wendet, wird bestätigen können, daß sie durchaus in der Lage ist, sich verständlich zu machen. Man sehe sich z. B. das folgende Flugblatt der »Roten Kommentare« an, herausgegeben von der Betriebsprojektgruppe des SDS Heidelberg am 28. 4. 69. Ich zitiere in Auszügen:

»Arbeiterkontrolle – Studentenkontrolle

Der DGB will den 1. Mai dazu benutzen, seine Forderung nach Mitbestimmung zu propagieren. – Was heißt »Mitbestimmung«? – Mitbestimmung heißt, daß ein paar Gewerkschaftsbonzen und einige ihrer Taschenträger aus den Belegschaften sich Pöstchen im Aufsichtsrat unter den Nagel reißen. Auf den Pöstchen werden sie ihre Interessen vertreten, aber nicht die Interessen der Arbeiter. In ihren Polstersesseln werden sie sich genauso erhaben fühlen, wie die Direktoren und nur noch schamerfüllt an ihre Herkunft zurückdenken. Um in ihren Polstersesseln sitzen bleiben zu dürfen und nie mehr in den Betrieb zurück zu müssen, werden sie den Unternehmern voller Eifer gefügig sein. Nur in Sonntags­reden und wenn die Arbeiter »unruhig« werden, werden sie brüllen: »Ich als Arbeitnehmer…« und etwa triumphierend verkünden: »Die Gewerkschaft ÖTV hat einen gesellschaftspolitischen Erfolg erster Klasse errungen. Neben der Lohn- und Gehaltserhöhung setzte sie ihre Forderung nach dem Monats­lohn für Arbeiter durch.« (»Welt der Arbeit« vom 7. 2. 69) Aber die Stillegung von Betrieben, Massen­entlassungen usw. können die mitbestimmenden Exkollegen nicht verhindern…

Dadurch, daß ein paar Exkollegen mitbestimmen, können die Unternehmer bei jeder vorkommenden Sauerei sich hinstellen und sagen, daß die »Arbeitnehmer« ja mitbestimmt haben. Die Arbeiter müssen sich dann sagen, daß sie selber Schuld sind. So wird ihre Entschlossenheit entscheidend gelähmt. Zugleich wird ihnen vorgemacht, sie hätten Einblick in den Betrieb (während doch die mitbestimmenden Exkol­legen den Arbeitern gar nicht mitteilen dürfen, was hinter den verschlossenen Türen ausgemauschelt wird…)

Die Mitbestimmung ist also ein Mittel der Unternehmer und Arbeiterverräter, die Klassengegensätze zu vertuschen und einmal mehr die Lüge von dem großen Boot zu verbreiten, in dem wir angeblich alle drin sitzen. Mit der Mitbestimmung verkaufen die Gewerkschaften endgültig die Interessen der Arbeiter…«

Die Sprache dieses Flugblattes ist absolut klar und verständlich: der Satzbau ist über­schaubar, die Wortwahl nicht ungeschickt mit ihren umgangssprachlichen und leicht faßlichen bildlichen Elementen (-bonzen, Taschenträger, Pöstchen, sich etwas unter den Nagel reißen, Polstersessel (als Inbegriff der Saturiertheit), Sauerei, ausmauscheln, vertuschen, das große Boot, in dem alle drinsitzen.

Etwas fraglich erscheinen propagieren und Ex-. Doch auch diese dürften von der Spra­che der Bildzeitung her bekannt sein.

Es stimmt also nicht, daß die Sprache der APO (und des SDS insbesondere) immer völ­lig unverständlich sei. Natürlich gibt es auch Beispiele für eine hochspezialisierte Spra­che, wie sie sich in folgender Passage darbietet und deren Wortschatz stark von den So­zialwissenschaften geprägt ist:

»Das Bezugssystem aller politischen Protestbewegungen der jüngsten Vergangenheit hat sich aus dem nachrevolutionären Establishment ebenso gelöst wie aus dem Establishment spätkapitalistischer Klassen­gesellschaften. Karl-Hermann Flach sagt mit Recht: »Es gehört eben zur rationalen Nüchternheit zu wissen, daß das Heil für uns nicht aus der Dritten Welt kommt.« (Zeit, Nr. 18, 68) Aber es ist auch gar nicht die Funktion des Solidarisierungsprotestes, illusionäre Erwartungen zu bestätigen; wäre er tatsächlich nur Ausdruck einer folgenlosen »Solidarität des Sentiments«, wie Marcuse es genannt hat, so würde auch die nüchternste Einschätzung der Lage nichts helfen: daß sich nämlich die objektiv revo­lutionäre Situation im Weltmaßstab in unerwartetem Ausmaße auch auf die Verschärfung der Klassen­konflikte in den spätkapitalistischen Ländern auswirken könnte, wenn es zu einem zweiten oder dritten Vietnam käme. Der Solidarisierungsprotest mit den Sozialrevolutionen der Dritten Welt ist vielmehr ein praktisches Medium, in dem sich das Bewußtsein von gegenwärtiger akuteller Geschichte mit dem politischen Anspruch konkret vermittelt, die Gegenwart und damit auch die gegenwärtige Gesellschaft als ein geschichtliches Problem zu behandeln. Nur auf dieser Ebene kann sich heute in den Metropolen historisches Bewußtsein bilden, das fähig ist, die Decke verdinglichter Herrschaftsverhältnisse und ge­ronnener Prozesse aufzusprengen.«

Diese fünf Sätze entstammen natürlich keinem Flugblatt, sondern einem Aufsatz, der eine vergleichende Analyse von Merkmalen demagogischer Propaganda gegen die Ju­den im Dritten Reich und die Studenten in der Bundesrepublik anstrebt ((Oskar Negt, Studentischer Protest – Liberalismus – »Linksfaschismus«, Kursbuch 13, 1968, S. 179-189, hier S. 183f.)). Der Ver­fasser ist Assistent und Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Universität Frankfurt.

Die Verständlichkeit dieses Abschnittes leidet einmal darunter, daß er – ohne aty­pisch zu sein – aus einem größeren Ganzen herausgenommen ist, zum anderen darunter, daß ein Wortschatz verwendet wird, der nur dem (links-links)-politisch stark Inter­essierten und zugleich akademisch Gebildeten verständlich ist. Was ist das »nach­revolutionäre Establishment«, was heißt (genau) »spätkapitalistisch«, was ist ein »Soli­darisierungsprotest«, was die »Solidarität des Sentiments« usw. Dem Sprachfreund werden die Haare zu Berge stehen, wenn er erfährt, daß 15-20% des Wortschatzes des ganzen Aufsatzes Fremdwörter sind, und er wird sich entrüstet abwenden, auch wenn er zu­fällig nicht stock-konservativ ist. Im Grunde aber liegt uns hier nichts anderes vor, auch was den etwas komplizierten Satzbau angeht, als in (fast) jeder wissenschaftlichen Arbeit. Kritisiert man diese Sprache als Sprache der APO, kritisiert man in Wirklich­keit nicht ihre Sprache, sondern die APO, die sich hier sprachlich völlig normal, d. h. nicht von wissenschaftlichem Usus abweichend, verhält.

Schlimm wird es allerdings, wenn Adepten der neuen Linken, vielleicht nach nur kurso­rischer Lektüre der wissenschaftlichen Literatur, deren Sprache in einen Jargon um­münzen, dessen Kernwörter von ihren Benutzern selbst nicht oder falsch verstanden und gebraucht werden, wenn die neue Sprache der Dialektik, durch die die »Betuliche Naivität . . . zugunsten kritischer Differenzierung abgebaut« werden konnte, nun zu ei­nem »Jargon der Dialektik« degeneriert und zu einem Mittel der Manipulation umge­wandelt wird ((Vgl. H. Glaser, »Christ und Welt« vom 11.7.69 im Anschluß an Carl Amery. Sehr deutlich wird diese Gefahr auch von Ludwig Marcuse gesehen. Er glaubt aber an einen »Heilungsprozeß«, in dem die Schlagworte durch die Praxis differenziert werden. Vgl. S. 95 (Leserbrief an Konkret).)), so daß sie selbst einer »linguistischen Therapie« bedarf, wie Marcuse sie auf den Wortschatz des Establishments (aber nicht nur auf diesen) angewendet sehen möchte ((Vgl. H. Marcuse, Ist Sozialismus obszön? »Konkret« vom 2. Juni 1969, S. 20.)).

Einige Aufschlüsse wären auch von der Frage zu erwarten, weshalb sich die linken Studenten mit so großer Vorliebe eines Vokabulars bedienen, das den Eindruck er­weckt, dort aus dem Trüben gefischt zu sein, wo eine Großstadt ihrem Schmutz seinen Lauf läßt. Nehmen wir z. B. das interessante Wort »Scheiße« ((Ich schließe mich hier der Einleitung eines Abschnittes des in Anm. 7 genannten Artikels an, wo behauptet wird; »Links friert die Sprache ein.« Dieser Artikel, auf den ich noch zu sprechen komme, ist äußerst lesenswert. Der Titel ist etwas irreführend.)). Dazu speziell und im allge­meinen zur »Magie des Vulgären« schrieb Hermann Glaser ((In dem Arm. 9 genannten Aufsatz.)): »Die ›Befreiung‹, die von einem solchen Wort ausgeht, oder in ein solches Wort projiziert wurde, besteht darin, daß innerhalb des harmonisierenden Wortschwalls des sogenannten Establishments ge­genüber magischen Leerformeln plötzlich die Unzufriedenheit und die Übersättigung in brutaler Direktheit angesprochen wird . . . Inzwischen sind fäkale Spreng-Vokabeln zur revolutionären Mode geworden – unerträglich, weil sie genau in der Weise einge­setzt werden, die man mit Recht in dem Sprachmustern des Establishments bekämpft nämlich dekorativ und neurotisch.«

Nun, ich glaube, daß man so skeptisch wie Glaser nicht sein muß. Der vulgäre Wort­schatz offenbart keineswegs eine »tiefe neurotische Verwirrung einer Jugend, die offen­sichtlich auf diese Weise versucht, sich den rigorosen Sekundärtugenden einer aufge­zwungenen Sauberkeit und Ordentlichkeit und den glanzvoll propagierten Idolen der Wohlstandshygiene zu entziehen.« . . . wenn man diesen Versuch auch an sich begrüßen müßte. Der Gebrauch der Vulgärsprache stellt einmal etwas völlig Harmloses dar: Aus­nutzung eines sehr bildhaften, erst in neuerer Zeit wieder tabuisierten Wortschatzes, den ausgiebig zu verwenden Martin Luther sich nicht im geringsten schämte. (Ich möchte hier freilich keine Parallelen im Sprachgebrauch von Revolutionären ziehen!) Zum an­deren hat der Gebrauch dieses Wortschatzes, und wäre er bei den Jungen auch zur Mode geworden, natürlich immer noch seine Wirkung auf das Establishment, wofür Glasers Analyse schon ein recht feines Beispiel darstellt: Er »verunsichert«. Wie sehr dies der Fall ist, zeigt eine etwas anekdotisch wirkende Begebenheit: Während einer Podiums­diskussion des PEN-Clubs in Mannheim weigerte Gabriele Wohmann sich, vor großem schwarzbefracktem Auditorium ein in ihrem Werk vorkommendes und angegriffenes ›four-letter-word‹ beim Namen zu nennen, auch nachdem ihr das Publikum vollen Dis­pens erteilt hatte. Das zeigt doch, daß solche Wörter ihre Wirkkraft alles andere als ein­gebüßt haben, und – begrüße oder beklage man es – keineswegs besonders modisch sind ((Die modebewußte Zeitschrift »twen« brachte im Dezember 1969 allerdings einen reichbebilderten 7-Seiten-Artikcl mit dem Titel: Alles über Scheiße (Nr. 12/1969, S. 118ff.). Das böse Wort ist also auf dem Weg, integriert zu werden.)). Wenn Glaser im übrigen glaubt, die »Junge Linke« bediene sich mit Vorliebe nur des fäkalischen Wortschatzes, so hat er sich entweder geirrt oder er ist einem merkwür­digen Phänomen unterlegen, das auch in H. Küppers »Handlichem Wörterbuch der deut­schen Allltagssprache« ((Hamburg und Düsseldorf 1968.)) hübsch zu beobachten ist: der fäkale Bereich hat äußerst liebevolle Berücksichtigung erfahren, während der sexuelle Bereich, auch wo er mitnichten vulgär ist, nicht aufgenommen worden ist ((Vgl. auch W. Miller, Gedanken zur Lexikographie, Muttersprache 2 (1968), S. 41.)). Wahrscheinlich wäre es, insgesamt gesehen, bes­ser, von der tiefen neurotischen Verwirrung der Gesamtgesellschaft zu sprechen, als den jungen Leuten, die sich daraus zu befreien versuchen, eine offenbar dazu notwendige sprachliche Aggressivität zum Vorwurf zu machen ((Der Frankfurter Soziologe Tillack schreibt: »…diejenigen, die Scheiße schreien, drücken ehrlich aus, was ihnen in der analfixierten Gesellschaft widerfährt«. (zit. nach twen 12 (1969), S. 181). Eine exakte sozio-psychologische Auslotung des Phänomens dürfte weitere interessante Aufschlüsse vermitteln.)). In diesem Zusammenhang wirkt es geradezu grotesk, daß Glaser fordert, die verdrängten Sprachformen des sozialen, sozial-psychologischen und psychoanalytischen Bereichs in den Bildungsprozeß einzubeziehen, damit sich Professoren wirklich wieder mit Studenten, Lehrer mit ihren Schü­lern und Politiker mit der Jugend unterhalten können. Dadurch entstünde nichts ande­res als eine Integration der Sprache der linken Studenten in genau jenen »Jargon der Eigentlichkeit«, den Glaser mit Recht – er nennt ihn auch »die ›heile‹ Sprachwelt« – so scharf attackiert. Es ist einfach absurd anzunehmen, das Lexikon der jungen Linken verstelle demjenigen die Möglichkeit der Kommunikation, der den Dialog will. Was mit »geistiger Onanie«, was mit »repressiver Toleranz«, schon gar, was mit »Establishment« oder »Teach-in« gemeint ist, ist so schwer nicht zu verstehen. Das konservative Lager der »Gebildeten« muß sich davor hüten, die angebliche Unverständlichkeit der barttragen­den oder mini-berockten Jugend zu einem Bestandteil seines fleißig geübten und mit Perfektion beherrschten Alibismus zu machen. Das angebliche Nicht-mit-der-Jugend-sprechen-können wird schnell als ein Nicht-sprechen-wollen entlarvt.

So zeigt sich mehreres:

Erstens: Die junge studentische Linke ist offenbar bemüht, ihren wissenschaftlich ge­prägten Sprachstil dort abzubauen, wo er dazu führt, daß man ihre Anliegen nicht ver­steht. Den richtigen Ton zu finden ist offenbar als notwendiger Bestandteil öffentlich­keitswirksamer Arbeit erkannt worden.

Zweitens: Die politisch-wissenschaftliche Arbeit der Linken bedient sich eines hoch­spezialisierten, wissenschaftlichen Wortschatzes, der aus den Bereichen Soziologie, Poli­tologie, Philosophie, Psychologie und natürlich aus der »klassischen« sozialistischen Li­teratur von Marx bis Adorno und Marcuse übernommen ist. Wie jede Wissenschafts­sprache ist diese Sprache kompliziert, was eine Folge der Kompliziertheit des Gegen­standes ist. Sie birgt die Gefahr – wie jede Wissenschaftssprache – flachköpfigeren Epi­gonen als ein Arsenal von dickbäuchigen Hohlwörtern zu dienen, indem sie unreflektiert und oft fern von ihrem eigentlichen Sinn als Bausteine u. U. wohlgemeinten, aber im Grunde inhaltslosen Parlierens verbraucht werden. Solche Gefahr aber ist allenthalben, nicht nur bei den Adepten der Wissenschaft von einer sozialistischen Politik. Auch die Möglichkeit, daß das neue differenzierende sprachliche Inventar in einen »Jargon der Dialektik« verfälscht wird, sollte – gerade von den linken Studenten – nicht übersehen werden. Sie brächten sich damit in ernsthaften Gegensatz zu den Maximen, unter denen sie angetreten sind, und zu denjenigen ihrer geistigen Väter (wie z. B. Herbert Marcuse), die die Gesellschaft u. a. auch durch die Entlarvung einer »repressiven Sprachverwen­dung« verändern wollen, denn, wie Karl Markus Michel schreibt: »Repressionsfreie menschliche Eeziehungen sind nicht denkbar ohne repressionsfreie Sprache; sie müssen sich gegenseitig erzeugen, in jedem Bereich der gesellschaftlichen Interaktion. ((K. M. Michel, Herrschaftsfreie Institutionen?, in: Kursbuch 19, Frankfurt 1969, S. 163ff., hier S. 193. Zu Repression, repressionsfreie Sprache vgl. auch S. 103.))«

Drittens: Es besteht die Gefahr, daß die angebliche Unverständlichkeit der Sprache der linken Wissenschaftler von den Vertretern des Establishments als Alibi gegenüber ihrer fehlenden Bereitschaft zum Dialog vorgeschoben wird.

Viertens: Der aggressive Wortschatz der jungen Linken wird im Ausmaß seiner An­wendung überschätzt. Das liegt nahe, weil er bevorzugt in Kurzparolen und bei »Wand­malereien«, seltener auch in den Flugblättern verwendet wird, alles Techniken, die offen­bar große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Sprachgebrauch der linken politischen Gemeinschaften spielt er eine sehr geringe Rolle, so bei unverbindlichen Alltagsgesprä­chen (bei denen auch der Pfarrer flucht!) und bei den sogenannten Teach-ins, Sit-ins usw. Seiner psychologischen Funktion könnte einmal global nachgegangen werden, wo­bei es erst im Anschluß daran sinnvoll wäre, danach zu fragen, weshalb der vulgäre Wortschatz offen (nicht wie allgemein üblich: versteckt) gebraucht wird. Das Ergebnis wird kaum eine eindeutig charakterisierende Aussage über die Junge Linke zulassen.

Nun ist es eine sehr kleine Gruppe von Wörtern, die als besonders charakteristisch für die »Sprache der APO« aufgefaßt wird. Sie sind gleichsam »Duftmarken« linker Texte, obwohl sie inzwischen auch bei den politischen Gegnern viele Freunde gefunden haben. So veröffentlichte Günther Schloz am 4. 4. 1969 in Christ und Welt den Aufsatz: Kom­plott im Wort-Nebel mit dem Untertitel: Sprachlose Politiker plündern das Begriffsarsenal der APO ((S. 15.)). Schloz nennt folgende Kernwörter, die willig übernommen worden seien: Establishment, etabliert, die Manipulation, repressive Toleranz, Produktionsverhältnisse, Pro­duktivkräfte, umfunktionieren, verunsichern. Ferner erwähnt er Sit-in, Go-in und Teach-in. Einigen dieser Wörter (und auch noch ein paar weiteren) soll nun ein wenig genauer nachgeganger werden. Doch zuvor noch ein paar Worte zum angeblichen »Komplott im Wort-Nebel«. Schloz, Lenin zitierend, fürchtet, daß schon überwältigt sei, wer die Sprache des Gegners übernehme. Wie konkret das von Lenin gemeint war, bleibe dahin­gestellt. Schloz jedenfalls hat dieses Zitat ganz wörtlich genommen, denn er warnt »Mi­nister, Bürgermeister, Parlamentarier und Beamte« davor, »ihren Sprachschatz kritiklos aus dem Vokabular der Rebellen und Antidemokraten« zu ergänzen ((Im übrigen ist der Artikel von Schloz einigermaßen wirr: man weiß nie ganz genau, ob er die Sprache der Politiker insgesamt treffen will oder ob er besonders der APO eins auswischen will. Die »Reizwörter« APO oder Linke scheinen nicht wenig zu dem vorgeführten Sprachnebel beigetragen zu haben. Das führt ihn z.B. zu folgender bemerkenswerter Feststellung: »…ganz Linke… armieren ihre Rede neuerdings widerstandslos aus dem Schlagwort-Arsenal der außer- und antiparlamentarischen Opposition«. So ist überhaupt zu beobachten, daß gewisse Vertreter des Establishments auf den Wortschatz der APO ausgesprochen blind-aggressiv reagieren.)). Nun, das sind kühne Worte, in politischem wie in sprachwissenschaftlichem Sinn. Erstens wird näm­lich behauptet, daß die Übernahme von Wörtern (Sprache als Ganzes kann ja kaum ge­meint sein) das Denken des Übernehmenden beeinflusse, wohl ganz im Sinne des »Wör­terbuchs des Unmenschen«. Zweitens sollen die Wörter nicht kritiklos übernommen wer­den, was aber von Schloz wohl eher als epitheton ornans gemeint (?) war. Denn eigent­lich empfiehlt Schloz damit ja die kritische Übernahme dieser Wörter, was aber so gar nicht zu seinen sonst eifrig verwendeten Freund-Feind-Schema passen will. Im Glossen­stil, scheint es, kann man dem Phänomen der Verwendung von Sprache durch den Poli­tiker, meine ich nach Lektüre des Schloz-Artikels, nicht beikommen. Wichtig scheint mir – und dies wäre auch eine der Voraussetzungen einer repressionsfreien Sprachver­wendung – daß man genau klärt, mit welcher Bedeutung bestimmte Wörter, die als po­litische Schlüsselwörter gelten, verwendet werden. Einen Ansatz dazu sollen die folgen­den Versuche darstellen, die sich einmal die Vorarbeiten einiger Wörterbücher zunutze machen, sich zum anderen der interpretierenden Paraphrasierung von Texten bedienen (Einige studentische Zeitschriften, Flugblätter, die Zweiwochenschrift »Konkret«, die Kursbücher (hg. von H. M. Enzensberger), verschiedene Aufsätze). Beide Hilfen sind traditionelles Handwerkszeug des Linguisten, nicht frei von Subjektivität, nicht restlos hieb- und stichfest. Die folgenden Ausführungen wollen und können keine musterhaf­ten Wörterbuchartikel sein, selbst wenn man an eine nur synchrone Darstellung denkt ((Eine sprachwissenschaftlich-semantische Grundlegungsarbeit kann hier nicht erwartet werden. Eine exakte semantische Methode objektiver Bedeutungsfeststellung existiert nicht und wird es – als handliches Instrumentarium – wohl in absehbarer Zeit nicht geben. – Es wäre im übrigen notwendig, auch die Bedeutungsgeschichte und die genaue Herkunft der behandelten Wörter zu studieren, Erstbelege anzuführen usw. Auch auf den sehr reizvollen und soziologisch relevanten Weg, einmal durch Informantenbefragungen festzustellen, wie diese Wörter von den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen, einschließlich der studentischen, aufgefaßt werden, muß leider verzichtet werden.)). Sie werden einige Anregungen bieten, einige Vergleiche anstellen und den Versuch machen, verschiedene Lesweisen der Wörter aufzuzeigen und deren Motive bewußt zu machen.

Folgende Wörterbücher wurden verwendet:

Peter Weigt: Revolutionslexikon. Taschenbuch der außerparlamentarischen Aktion, Frank­furt 1968 (RL).

Ernst Jürgen Bernbeck: Politisches Wörterbuch. Aus dem politischen Sprachschatz der Ge­genwart, Frankfurt, Berlin, Bonn, München 1968 (PW).

Helmut Schoeck, Kleines Soziologisches Wörterbuch, Freiburg 1969 (= Herder-Bücherei Band 312/313) (KSW).

Duden-Fremdwörterbuch, bearb. von K.-H. Alheim, 2. Aufl., Mannheim 1966 (DF).

Weitere politische Lexika, Staatslexika usw. müßten für eine weitergehende Analyse herangezogen werden. Das würde aber den Raum, den eine Zeitschrift für eine solche Untersuchung zur Verfügung stellen kann, sprengen. Ich begnüge mich daher mit »typi­schen« Lexika, die das konservative Lager ebenso repräsentieren wie das »progressive«. Auch den verlockenden Gedanken, ein einzelnes Wort einer genauen Betrachtung zu un­terziehen, habe ich aufgegeben, weil es mir zunächst einmal besser erschien, einen breite­ren Ausschnitt zu bieten, damit möglichst viele Aspekte sichtbar werden. (Für eine Rei­he von Wörtern können auch die Erläuterungen des »Sprachdienstes« der Gesellschaft für deutsche Sprache herangezogen werden.)

Einzelwörter:

Aktion

Dieses an sich völlig neutrale Wort (vgl. DF: Handlung, Verfahren, Maßnahme, Ver­gehen, Ereignis) erhält, wenn es von Vertretern der APO verwendet wird, eine Sonder­bedeutung, vor allem in Verbindung mit direkt. Direkte Aktion bezeichnet nach dem RL »eine Einstellung, der das Reden, Theoretisieren, Fordern nicht mehr genügt, und die eine Veränderung bestehender Zustände nur durch Handlungen ermöglicht sieht«. Da die Arbeit des Parlaments nichts zur Veränderung der Gesellschaft beitrage, fordert man direkte Aktion als Demonstrationen, Unruhen, Streiks, notfalls auch Gewalt gegen Sachen und Institutionen. Solche Aktionen dienen dem Zweck, den Bewußtseinsstand der Beteiligten zu verändern und werden daher als wichtiges Erziehungsmittel aufge­faßt.

Nach dem PW gehören zu den Aktionen: Go-ins, Sit-ins, Teach-ins, Happenings u. a. Allen diesen Formen des Protestes sei gemeinsam, daß die Unzufriedenen etwas »unter­nehmen«, um auf Mißstände hinzuweisen und Abhilfe herbeizuführen. Von Gegnern der APO werde dem Wort oft der Sinn von »Gewaltakten« unterlegt, »als ob ›Tätig-keit‹ mit ›Tätlichkeiten‹ verwechselt werden dürfte . . .«

Folgende Textpassagen verdeutlichen, eine wie selbstverständlich eigene Bedeutung die Begriffe Aktion und direkte Aktion im Sprachgebrauch der APO (hier einer SDS-Gruppe) angenommen haben:

»Dann soll die inhaltliche und formale Problematik der direkten Aktionen im Kampf gegen die NS-Gesetze ((NS-Gesetz: gleich Notstands-Gesetze, mit direkter geschickter Anspielung auf den National­sozialismus. Vgl. auch die im selben Papier verwendete Abkürzung NS-Staat.)) und die grundgesetzfremde Vereidigung der BuWe ((BuWe: gleich Bundeswehr. – Die Verlautbarungen des SDS wimmeln von Abkürzungen: VV = Voll­versammlung, GO = Grundordnung, GOV = GO-Versammlung, PrjG = Projektgruppe usw. Dies erklärt sich durch das Medium Flugblatt, das schnell und auf wenig Raum möglichst viel bringen will. Solche Abkürzungen finden sich nur in Flugblättern, die sich an Studenten wenden, für die diese »Kür­zel« ohne weiteres auflösbar sind. (Meine Hervorhebung, J.) ))-Soldaten auf die faschisierte Verfassung noch einmal diskutiert werden sowie die Taktik der Herrschenden, die Akteure so­wohl\zu kriminalisieren als auch die Aktion zu verniedlichen« ((Arbeitspapier des SDS Mannheim zum Thema »Justizcampagne« vom Oktober 1968. Man beachte auch Akteure, womit diejenigen bezeichnet werden, die Aktionen im definierten Sinne ausführen. Mit dem Grundwort Aktion hat auch ganz selbstverständlich die Ableitung Akteure eine Sonderbedeutung angenommen.)). Nachdrücklich wird in dem gleichen Papier auf den »informatorischen Sinn« der Aktionen hingewiesen und ein Bei­spiel dafür angeführt: In den Prozessen soll der »Richter auf seine Funktion im Unter­drückungsapparat« hingewiesen werden »durch Durchbrechung der Rituale, die im Prozeß lediglich die Funktion haben, den Angeklagten einzuschüchtern und ihn zu demora­lisieren« ((S. 3.)). Dies soll durch eine »totale Rollenverweigerung« geschehen. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie falsch es wäre, Aktion mit rein physischer Tätigkeit oder gar Tätlich­keit gleichzusetzen. Das Wort Aktion bezeichnet alle Formen des Protestes und der Provokation, die geeignet sind, bestehende Formen und Ordnungen in Frage zu stellen, nicht um des In-Frage-stellens willen, sondern damit sie neu durchdacht und nach Mög­lichkeit in sinnvoller Weise abgeändert werden ((Daß solche Aktionen nicht ohne Wirkung bleiben, zeigt die Diskussion z. B. der Kleiderordnung im Bereich der Justiz.)).

Anarchie, Anarchismus, Anarchist:

Nach dem DF ist Anarchie: Herrschafts- Gesetzlosigkeit; Anarchismus ist die Lehre von der Verneinung der Staatsgewalt. Ein Anarchist ist ein Umstürzler, Staatsfeind. –

Diese Erläuterungen sind nicht völlig neutral, weil sie nicht vollständig sind ((Das liegt zum Teil, aber nicht nur, bei diesen wie auch bei den anderen Wörtern daran, daß DF ein allgemeines Fremdwörterbuch und kein Spezialwörterbuch ist.)). Wie das FW ausweist, sind Anarchisten keineswegs für eine völlige Gesetzlosigkeit und Un­ordnung, wie die DF-Definitionen glauben machen könnten, sondern für einen Zustand, »in dem die Ordnung nicht auf Zwang, sondern auf freiwilliger Anerkennung beruht, einem Zustand also, in dem es keine Herrschaft von oben nach unten gibt, sondern nur Selbstbestimmung von unten nach oben«. Von den Anarchisten wird der Marxismus immerhin als ›autoritärer Sozialismus« bezeichnet, wogegen sie ihre eigenen Vorstellun­gen als »liberitären Sozialismus« verstehen.

Die Gefährlichkeit des Wortes Anarchie charakterisiert das PW treffend: »Von Anar­chie im Sinne von Unordnung ist meist dann die Rede, wenn Sicherheit und Ordnung‹ bedroht erscheinen. . . . Der Vorwurf ›Die wollen die Anarchie!‹ ist dann oft nicht ein­mal eine falsche Behauptung, wenn nämlich Selbstbestimmung und Freiheit von unge­rechtfertigter Herrschaft gemeint sind. Die meisten Zuhörer werden freilich, und das ist auch der Zweck des Vorwurfs, an Chaos, Gewalt und Zerstörung denken und sich der Kritik an der herrschenden Gesellschaftsordnung verschließen. So ist der Ausdruck we­gen seines Doppelsinns zur Irreführung wie geschaffen.«

Das KSW (S. 16) hält eine »anarchistische Gemütsdisposition . . . weniger durch eine bestimmte Gesellschaftsform verursacht … als durch entwicklungspsychologisch und tiefenpsychologisch deutbare Persönlichkeitsstrukturen einzelner Individuen (extremer Individualismus, Kontaktarmut)«. Dieser Aspekt ist zwar nicht völlig auszuschließen, aber eben nur ein Aspekt, mit dem man der Lehre des Anarchismus sicherlich nicht an­gemessen begegnet. Erklärungsversuche dieser Art bergen die Gefahr zu neuen Mißver­ständnissen schon in sich.

Der Anarchismus spielt heute laut RL vor allem in den romanischen Ländern eine Rolle. PW weist darauf hin, daß Vorformen der Selbstbestimmung, wie sie von Anar­chisten verstanden wird, in Jugoslawien und Algerien anzutreffen seien, »allerdings ein­geschränkt durch Parteiaufsicht und staatliche Planung«.

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Anarchismus enthält Kursbuch 19, in dem z. B. folgender Satz von Karl Markus Michel abgedruckt ist:

»Eine radikal neue Gesellschaftsordnung setzt, um ohne Verzug funktionieren zu können, einen radikal neuen Menschen voraus, am besten gleich eine verbesserte physi­sche Welt« ((Herrschaftsfreie Institutionen? Kursbuch 19 (1969), S. 163ff. Hier S. 174. Nach dem RL ist das »Kurs­buch« in gewissem Sinne zur APO-Presse zu zählen (RL S. 5 a).)). Die außerparlamentarische Opposition verwendet die Begriffe Anarchis­mus, Anarchie daher auch mit einiger Zurückhaltung. Nicht selten ist die Rede von der »friedfertigen Anarchie der Vernunftliebenden und Empfindsamen« ((So in einem Fragebogen, der 1969 von J. Huber (Mannheim) einer Gruppe von Schülern und Stu­denten vorgelegt wurde, um Aufschluß über ihre politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen zu erhalten.)), wobei über den Weg zu dieser Utopie freilich selten konkret etwas ausgesagt wird. Wegen des Zünd­stoffs, den dieses Wort enthält, wegen seiner Doppeldeutigkeit, da es einen radikal-inhu­manen Weg – zumindest heute noch – zur Verwirklichung dieser Utopie ebenso be­zeichnen kann wie die Utopie selbst und deren Bestandteile (Selbstbestimmung), ist es für eine sinnvolle politische Diskussion denkbar ungeeignet. Als repressives Schlagwort zur Diffamierung des politischen Gegners bietet es sich geradezu an ((Ob man hier von Sprachmißbrauch sprechen kann, erscheint allerdings fraglich. Ruth Römer be­streitet die Möglichkeit des Mißbrauchs von Sprache rundheraus (vgl. S. 73 ff. dieses Heftes). W. Dieck­mann sieht die Gefahr einer bewußten Ausnutzung sprachlicher Möglichkeiten, »um das Denken der Hörer in seinem Sinne zu lenken« {Sprache in der Politik, Heidelberg 1969, S. 15). Die Bewertung der Anwendungen solcher Verfahren richtet sich im einzelnen häufig nach dem politischen Standort des Urteilenden. Das Verfahren ist an sich wertneutral: Sprache verwenden heißt  die Möglichkeiten der Sprache auszunutzen.)).

autoritär, Autorität:

Das DF definiert Autorität wie folgt: »auf Leistung oder Tradition beruhender maß­gebender Einfluß und das aus ihm erwachsende Ansehen; auch die maßgebende Person selbst.« autoritär ist, wer »in (illegitimer) Autoritätsanmaßung« (sic!) handelt, bzw. re­giert, wer »diktatorisch« ist.

Sehr viel genauer verfährt PW, das echte und falsche Autorität unterscheidet: Echte Autorität liege vor, wenn sie auf nicht zu eng begrenzten Fähigkeiten beruht und freiwillig anerkannt wird und frei von Zwang ist. Echte Autorität brauche dem natürlichen Freiheitsbedürfnis keineswegs zu widersprechen, sondern könne als Vorbild betrachtet werden und Anstöße zur eigenen Weiterentwicklung geben. Falsche Autorität sei dage­gen eine solche, die ausschließlich auf der Stellung als Machtperson beruht, die ange­maßt ist und nur durch Zwang durchgesetzt werden kann. Dieser falschen Autorität wird dann das Adjektiv autoritär zugeordnet.

Eine weitere Differenzierung erfährt das Wort Autorität im KSW: »Autorität hat, wer aufgrund einer in ihm selbst liegenden, für andere überzeugenden Fähigkeit, meist gei­stiger Art, von anderen, u. U. nur auf einem bestimmten Gebiet, als Vorbild, Führer usw. akzeptiert wird. A. kann auch aus einem Amt oder aus Charisma stammen. A. muß von Prestige und Macht unterschieden werden, obgleich die damit bezeichneten Ein­wirkungsmöglichkeiten auf andere Personen bei der A. mitspielen.«

Das KSW weist ferner darauf hin, daß aus dem Erlebnis extremer Formen autoritärer Regierungssysteme in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Überempfindlichkeit auf alle Erscheinungsformen der A. übriggeblieben sei, die anti»autoritären« Schriften Publikumswirksamkeit gebe. Unverstanden bleibe dabei, daß niemand der Qualität der Dienstleistungen oder Produkte in seiner Gesellschaft trauen würde, wenn diese in ei­nem völlig autoritätsfreien Raum zustande kämen. – Hier scheint mir etwas in die Defi­nition hineingerutscht zu sein, was auch an anderer Stelle bei KSW (s. Anarchie) beobach­tet wurde: eine gewisse Parteiischkeit, ein empfindliches Reagieren auf Erscheinungen der jüngsten Zeit, das den Blick trübt. Autoritäre Regierungssysteme gibt es auch in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, autoritäre Verhaltensweisen sind allenthalben zu beob­achten (man denke nur an die Kindererziehung, wobei von Kindesmißhandlungen hier gar nicht die Rede sein soll). Ferner erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der das Trauen auf die Qualität der Dienstleistungen und Produkte als etwas Positives angesehen wird und damit gleichzeitig der kritiklose Konsum. Ich halte es jedenfalls für positiv, daß man der Autorität einer gut gemachten Werbung nicht ohne weiteres traut. Mög­licherweise ist der Verfasser hier selbst der Gefahr repressiver Sprachverwendung unter­legen, die echte Autorität nicht von falscher Autorität scheidet. Mit dem PW bin ich der Ansicht, daß das sogenannte antiautoritäre Lager keineswegs die Abschaffung jeder Autorität anstrebt. »Das antiautoritäre Lager wendet sich nur gegen die falsche Autori­tät.« Darstellungen, die diesen Tatbestand zu verschleiern versuchen, verfolgen offenbar die Absicht(ich schreibe in den Worten des PW), »die Antiautoritären zu weltfremden Spinnern oder gefährlichen Unruhestiftern ab(zu)stempeln oder die falschen Autoritä­ten vor unbequemen Angriffen (zu) schützen.« Eine solche Taktik fällt nicht schwer, wenn Wörter fahrlässig undifferenziert definiert werden.

Völlig unverständlich bleibt die Darstellung des KSW, wenn es dort an anderer Stelle (s. Autoritäre Persönlichkeit) heißt: »Als nicht näher definierte Vokabel ((Bei Erscheinen des KSW hat z. B. PW längst vorgelegen.)) der politischen Polemik gehört die a. P., insbesondere das disqualifizierende Adjektiv ›autoritär‹ zum Arsenal der gegenwärtigen Gesellschaftskritik, meint hier aber meist Hierarchie, das Fehlen von ›Mitbestimmung‹ und autokratische Führungsmethoden.« Und wieder an anderer Stelle (F-Skala): »autoritär« (= faschistisch in der Persönlichkeitsstruktur)«. Wer will, möge den Versuch machen, die Ansichten des KSW auf einen Nenner zu brin­gen.

Eine an sich sinnvolle Ergänzung scheint mir das von DF als Pendant zu autoritär an­gezeigte autoritativ zu sein. In der Definition dieses Wortes taucht nun das bei Autorität fehlende echte Autorität auf: »autoritativ: auf echte Autorität gestützt, in legitimer Voll­macht handelnd; maßgebend, entscheidend.« Wegen des Gleichklangs von autoritär und autoritativ schein: mir aber auch hier Vorsicht geboten. Die Gefahr des Mißverstehens, der Mißdeutung ist auch in diesem Wort bereits latent vorhanden ((In RL fehlt Autorität, autoritär als Stichwort und wird auch in den erläuternden Texten vermieden.)).

Kleine Zwischenbemerkung

In »Konkret« vom Mai 1969 schreibt Ludwig Marcuse (in einem Leserbrief) zu »Anar­chie« und »autoritär«:

»Anarchie« (leider ein Schimpfwort geworden, auch bei Ihnen) ist eine Sehnsucht, ein Wegweiser: so viel Anarchie wie möglich in diesem oder jenem Fall. –

»Autoritär« (mit Recht ein Schimpfwort) ist größenwahnsinnig geworden, deckt heute die heterogensten Situationen – und macht oft jede Zusammenarbeit unmöglich, auch die nicht-autoritäre. Es begann ein Heilungsprozeß, als das Wort »autoritär« gezwungen wurde, in der Praxis sich zu dekouvrieren: als man in linken Zeitschriften, Verlagen, Theatern daranging, das »Autoritäre« so weit zu zersetzen, daß auch vernichtet wurde, was gar nicht autoritär ist. Es wäre fruchtbar, wenn die Schlag-Worte, mit denen man zuschlägt, durch die Praxis differenziert würden. Die herrschenden Abstrakta, der spe­zifische Aberglaube dieser Zeit, vernebeln die Sicht auf die besonderen Vorgänge. Wie leicht können die Faulen den ganzen Kosmos in ihren trägen Griff bekommen – mit nichts als dem zeitgemäßen Vokabular. Man sollte die Praxis einmal als Helfer der Theo­rie benutzen.«

Ob dieser Prozeß stattfindet, bleibt abzuwarten. Der Schreiber setzt na­türlich voraus, daß ganz deutlich wird, wo die falsche Anwendung beginnt, wo der als autoritär etc. bezeichnete Vorgang so eindeutig für sich spricht, daß er das Wort (und den Angriff) in seine Grenzen zurückweist.

Establishment, etabliert:

Zunächst wieder die Definition des DF: »Standesordnung einer staatl. od. öffentlichen Körperschaft od. eines (organisierten) Verbandes; auch Bezeichnung für solche Körper­schaften bzw. Verbände selbst.«

In dieser Bedeutung ist das Wort jedenfalls nicht Bestandteil der Sprache der linken Studenten. Der Versuch des »Sprachdienstes« vom Juni 1968, die Bedeutung des Wor­tes im Gebrauch der Studenten zu fassen, ist für denjenigen recht lesenswert, der sich für Herkunft und Geschichte dieses Wortes interessiert. Für den gegenwärtigen Gebrauch werden drei Beispiele angeführt, die aber, außer durch Anführung einer Übersetzung ei­ner amerikanischen Verwendung (»Ordnung und System«), nicht interpretiert werden und aus deren Kontext auch nicht eindeutig hervorgeht, was das Wort bedeutet. Es wird sich zeigen, daß mehr damit gemeint ist als »herrschende Gesellschaftsschicht«. – Das RL definiert: »Establishment: Bezeichnet in umfassendem Sinne alle Erscheinungs­formen, Merkmale, Wirkungen der etablierten Gesellschaftsordnung. Dazu gehören auch die von einer Gesellschaft erzeugten Vorstellungen über Berufsleben, Ausbildung, Freizeit, Familienleben, Sexualverhalten etc. Fügt sich der einzelne diesen Normen nicht, so läuft er Gefahr, als Außenseiter ausgestoßen zu werden (Sonderling, Verbrecher). Die Anerkennung des E. wird dagegen von der Gesellschaft materiell und ideell prä­miiert (Berufserfolg, Ansehen, öffentliche Ehrungen). . . . Heute meint der Begriff vor allem die Gesellschaftsordnung des Spätkapitalismus, doch kann er z. B. genauso auf die stark repressive Ordnung der sowjetischen Gesellschaft angewandt werden.« ((G. Schloz wirft dem RL vor, dort sei Establishment »Ein offenbar nur tautologisch erklärter Gummi­begriff, den die Rebellen mit harter Entschlossenheit wie eine Keule gegen Alles und Jedes schwingen, ohne jedoch auch nur Dies oder Das zu treffen.« Was unter etabliert zu verstehen ist, wird aber dann ganz deutlich, wenn man ein paar Zeilen mehr liest als die, die Schloz seinen Lesern anbietet.)) Das PW faßt den Begriff enger: »Das Establishment . . . sind die Mächtigen.« Als »bekannte Bei­spiele« werden die Namen wichtiger deutscher Politiker genannt.

Zur weiteren Klärung des Begriffs, über dessen Bedeutung offenbar keine ganz ein­hellige Meinung besteht, seien einige Belege angeführt: Robert Neumann spricht davon, daß ihm bei der Lektüre eines Buches von Zwerenz (»Die Lust am Sozialismus«) »die Freude am politischen Establishment«, vergangen sei ((Konkret vom 30.6.69, S. 54.)). Es grenzt also ein »politisches« Establishment aus: die politisch Mächtigen. Herbert Marcuse sagt: »Obszönität ist ein moralischer Begriff im Wortschatz des Establishments«“ ((Konkret vom 2.6.69, S. 20.)). Weiter spricht er »von der dem Establishment eigenen Moral«. ((ebd., S. 21.)), von dem Establishment, das »seine ganze Gewalt« mo­bilisiert ((ebd.)). Doch er spricht auch von »etablierten Werten« ((ebd.)) usw. Dies scheint darauf hinzuweisen, daß »Establishment« wohl eher in dem weiteren Sinne verstanden werden muß, in dem das RL es definiert, nicht zuletzt wegen des sehr weiten Gebrauchs bei Marcuse, dessen Schriften inzwischen eine ungemein große Verbreitung gefunden ha­ben ((Vgl. auch die sehr weite Bedeutung des Wortes Establishment in der oben S. 87 angeführten Passage aus dem Aufsatz von Negt.)). Durch diese Schriften ist Establishment zu einem politischen Modewort geworden. Von Marcuse wird es (ähnlich wie repressiv u. a.) als ein Wort verwendet, das er seiner »linguistischen Therapie« unterzogen hat: es bezeichnet ursprünglich im Englischen (in sehr, sehr weitem Sinne) positiv genau das, was Marcuse ihm als Negativum nun beige­messen sehen will. Für Marcuses »Kritische Theorie« mußte dieser positive Inhalt eine »totale Entstellung seines eigentlichen Sinns« bedeuten, da es Einrichtungen (und damit verbundene Denkweisen) bezeichnet, die für seine Auffassung inhuman und unmora­lisch sind ((Vgl. H. Marcuse, Ist Sozialismus obszön, a. a. O., S. 20.)). Marcuse betreibt damit die politische Sprachkritik einer Bedeutungsum­wertung ((So wertet Marcuse z. B. das Wort obszön um, indem er es nicht mehr als moralischen Begriff des Establishments für sexuelle Dinge verwendet, sondern auf die eigene Moral des Establishments an­wendet. Marcuse unterdrückt die Komponente ›sexuelle Praktiken oder Verhaltensweisen betreffend‹,behält die Komponenten ›moralisch wertend‹ ›pejorativ‹ bei. Von der Komponente ›sexuell etc‹ bleibt für das Durchschnittsverständnis aber ein Bedeutungsrest bestehen: ›schmutzig, nicht dem Menschen angemessen‹. Es wäre sehr interessant, hier eine ausführliche Komponentenanalyse durchzuführen, was aber in diesem Zusammenhang nicht möglich ist.)), einer Wortmoralisierung. Das kann zu einer Bedeutungsverengung führen, ist aber bei Establishment nicht der Fall (wie gelegentlich angenommen wird ((Vgl. Sprachdienst Juni 1968, S. 84.)).

Das Adjektiv etabliert wird auf die Erscheinungsformen des Establishments angewen­det. Es scheint soviel zu besagen wie etwa ›von der Gesellschaft akzeptiert, in der Gesell­schaft anerkannt, normiert, festgefahren, statisch, politisch abstinent‹ Vgl. das oben an­geführte Beispiel: etablierte Werte, sowie in der zitierten Definition aus dem RL: etablierte Gesellschaftsordnung. Hildegard Hamm-Brücher spricht von der »etablierten Gesellschaft, die bis heute noch kein ausgereiftes, kein rationales politisches und gesellschaftliches Selbstverständnis gefunden hat« ((Der Mut zur kleinen Utopie; Zum Nachdenken 32 (1969), S. 7, hrsg. von der hess. Landeszentrale für pol. Bildung.)). Es handle sich um eine Gesellschaft, die Demokratie immer nur »in der Leideform erhalten, nicht aber in der Tatform gewollt hat«.

Faschismus, Faschisierung, faschistoid:

Das DF erklärt nur eins dieser drei Wörter: Faschismus: »1) Bezeichnung für die nach dem 1. Weltkrieg in Italien von Mussolini organisierte rechtsradikale Bewegung (Symbol: die ultröm. Fasces). 2) Sammelbegriff für pol. Bewegungen und Systeme tota­litären, diktatorischen, nationalistischen Charakters«. Das RL definiert (neben histori­schen Angaben): »Ein System der politischen Gewaltherrschaft, das von Kräften der extremen Rechten ausgeübt wird und die bestehenden gesellschaftlichen Besitzverhält­nisse nicht verändert … Der F. vor ist allem gegen Marxismus, Liberalismus und Demo­kratie gerichtet … Faschistische Ideologien zeichnen sich stets durch Irrationalität und den Appell an das Gefühl aus (Blut und Ehre, Größe der Nation, wahre Volksgemein­schaft, gegen Parteienhader, (für) Deutschtum, Italianità, Soldatentod, die Mystik des Reiches etc.).« Der Faschismus bekämpft »in Wirklichkeit (die) politischen und sozialen Forderungen (der Arbeiterschaft) radikal«.

Das KSW definiert die übertragene Bedeutung von Faschismus, faschistische Persönlich­keit als »eine extrem ethnozentrische, mit Vorurteilen gegen Nicht-Volksangehörige, autoritätsergebene Haltung mit antidemokratischen Zügen«.

Nur das RL enthält die Begriffe Faschisierung und faschistoid. Faschisierung sei die Ent­wicklung einer Gesellschaft auf den Faschismus hin. Ihre Kennzeichen seien der Abbau demokratischer Rechte und die zunehmende Brutalisierung der politischen Auseinander­setzung. Dazu gehöre die Verteufelung des politischen Gegners, mit dem man sich nicht mehr sachlich auseinandersetze, sondern der »ausgemerzt« werden müsse. Ein Beispiel für Faschisierung sei die entschiedene Ablehnung der betrieblichen Mitbestim­mung der Arbeiter durch Unternehmensleitungen, der Ruf nach dem starken Mann, nach Ruhe und Ordnung.

Dieses Wort stellt eine sinnvolle Ergänzung des Lexikons dar, da es differenzierenden Charakter hat und es erlaubt, Tendenzen, Ansätze in Richtung Faschismus zu bezeich­nen. Dies gilt auch für das Wort faschistoid. Es bezeichne »die latente Bereitschaft einer Gesellschaft oder einzelner Menschen, sich faschistischer Herrschaftsmethoden zu bedie­nen.« Als Beispiel für faschistoide Äußerungen wird angeführt: »Schaut Euch diese Typen an, Ihr müßt diese Typen sehen, Ihr müßt Ihnen genau ins Gesicht sehen, dann wißt Ihr, denen geht es nur darum, unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören.« Man könne faschistoid sein, ohne den Faschismus zu wollen, aus der Erkenntnis, »daß ein ausgebildeter Faschismus auch einzelnen Angehörigen der herrschenden Klasse ge­fährlich werden« könne. Umgangssprachlich könnte man faschistoid mit »faschistisch angehaucht« umschreiben, während faschisiert wesentlich stärker die faschistische Ten­denz bezeichnet.

Wie sich die linken Studenten den Prozeß der Faschisierung vorstellen, geht aus fol­gendem Zitat hervor:

»›Mit Genugtuung‹ registrierte die NPD im Landtag nach Krauses und Filbingers Hetzreden, ›daß sich ihre Auffassungen immer mehr bei den Regierungsparteien durchseten‹. Dies zeigt uns, daß wir umdenken müssen, wenn wir von Faschismus sprechen, denn der Faschismus in Westdeutschland verläuft anders als vor 1933. Es ist ein Faschisierungsprozeß, der bereits Herrschenden, die ihre parlamentarische Legalität sowie ihre nur verbale Abgrenzung von der neo-faschistischen NPD nur benutzen, um ihren eigenen Faschismus zu verschleiern« ((Resolution zum Teach-in am 22.1.69 (Rote Kommentare 27.1.69, SDS Mannheim). Im ›Spiegel‹ vom 12.1.1970, S. 8 findet sich der Ausdruck »Faschistisierung«, der aber sonst nicht allgemein üblich zu sein scheint.)).

Faschistisch; Tendenzen, faschistoide Züge glaubt man neuerdings auch im Verhalten gewisser linker Studenten feststellen zu können ((Vgl. auch H. H. Piwitt: Ist links gleich rechts? Konkret v. 30.12.69, S. 44f)). Wenn einige Linke die neue, kritische, zur besseren Analyse und Differenzierung gesellschaftlicher Verhältnisse entwickelte Sprache in einen »Jargon« der Unsachlichkeit und der Diffamierung überführen, dann liegt der Verdacht faschistoidem Verhaltens durchaus nahe ((Vgl. auch Hildegard Hamm-Brücher, a. a. O., S. 9, die »eine höchst fatale Parallele zum Faschis­mus aller totalitären Schattierungen« feststellen zu können glaubt.)). So ist Glaser zuzustimmen, wenn er schreibt: »Eine Sprache, die … auf Manipulationen abzielt, kann nicht mehr den ehrlichen Anspruch erheben, Manipulation, Stereotypie und Ideologie durchbre­chen zu wollen … Eine solche Sprache … ist ihrerseits faschistoid, weil sie den anderen, indem sie auf ihn ›einschlägt‹, sprachlos zu machen sucht« ((Christ und Welt, 11.7.69.)). Daß die »Neusprache«, wie Glaser sie nennt, in dieser Gefahr ist, hat auch Karl Markus Michel feststellen müs­sen ((Vgl. unten unter »Repression«.)). Wer die Repression mit repressiven Mitteln zu bekämpfen sucht, führt sich selbst ad absurdum Trotzdem sollte man sich vor vorschnellen Verallgemeinerungen hüten, einer Gefahr, der Glaser durchaus unterlegen zu sein scheint, da er pauschal von einer »negativen Entwicklung der APO-Sprache« spricht. Faschistoide Verhaltensweisen oder gar faschistische Tendenzen kennzeichnen weder die APO noch die Sprache aller ihr zugehörigen Vereinigungen, nicht einmal die des SDS, den man sich auch in ver­einfachender Weise zu schnell als geschlossene Gruppe vorstellt ((Vgl. RL, S. 54: »die einzelnen Gruppen (des SDS) unterscheiden sich allerdings in ihren Ziel­vorstellungen«.)) ((PW führt die Wörter Faschisierung und faschistoid nicht an, unterscheidet aber zwischen latentem und manifestem F. Die sehr ausführlichen Bemerkungen zu Faschismus (8 Spalten) geben einen sehr guten ersten Überblick über das Problem des F.)). Vgl. auch Robert Neumann: »Die Wirrköpfe machen von sich reden – die APO schweigt. Und setzt sich absurden und kränkenden Interpretationen aus« ((In: Tagebuch, Konkret v. 30. 12. 69, S. 54 (In Zusammenhang mit dem Vorwurf, Neumann sei ein »neonazistischer Antisemit«.) )).

Auch hinter der Rede von faschistoiden Elementen in der APO darf man nicht selten den Versuch bewußter Diskriminierung vermuten. Wenn Oskar Negt schreibt: »Der Boulevardpresse und rechtsgerichteten ›seriösen‹ Blättern ist es inzwischen gelungen, die Sprachformel vom ›Linksfaschismus‹ mit der Vorstellung von einer auf Selbstiso­lierung bedachten Minorität zu verbinden, die ihre elitären und manipulativen Zwecke terroristisch durchsetzt« ((Studentischer Protest – Liberalismus – »Linksfaschismus«, Kursbuch 13 (1968), S. 180.)) und »Der ›Linksfaschismus‹ ist die Projektion des systemim­manenten Faschisierungstendenzen auf leicht diskriminierbare Randgruppen« ((ebd., S. 189.)), dann will er auf diese Gefahr nachdrücklich aufmerksam machen. Es ist freilich nicht zu ver­kennen, daß es die APO, was Vorwürfe dieser Art angeht, ihren Gegnern oftmals recht leicht macht.

So zeigt sich an der Verwendung gerade der Wörter Faschismus, faschisiert, faschistoid, wie leicht es ist, in politischen Auseinandersetzungen den sprachlichen Spieß herumzu­drehen, eine Technik, die man – je nach Standort und je nach dem in Frage stehenden Wort – entweder als sprachliche Manipulation oder als ›Linguistische Therapie‹ bezeich­nen kann. Man sollte daher immer des Grundsatzes eingedenk sein, daß die Wahrheit nicht bei der Wörtern liegt.

Ein Zitat sei an den Schluß dieses Abschnitts gestellt, da es schlaglichtartig die ganze Problematik des Wortes ›faschistisch‹ beleuchtet: »Alle Erfahrungen haben gezeigt, daß die Not die Menschen faschistisch macht und blind für die gesellschaftliche Wirklich­keit« ((Th. von der Vring in »SPD – Was nun?«, Konkret (Interview), 30.12.69, S. 27. Vgl. auch das KSW (F-Skala), wo erstaunt festgestellt wird, daß es auch unter den diskriminierten Negern faschistische Persönlichkeiten gebe.)). Hier rückt das Wort faschistisch in die Nähe von »aggressiv«.

Go-in, Love-in, Sit-in, Teach-in:

Diese Wörter sind nur in RL und PW definiert. Es handelt sich um Bezeichnungen für bestimmte Aktionen (s. d.) (Formen des Protestes). Der ›Sprachdienst‹ führte einen witzig-witzigen Kleinkrieg gegen diese »gefährliche Sprachkrankheit« der »in-Epide­mie« ((Vgl. die Ausgaben 2 (1968), S. 27; 3 (1968), S. 43; 6 (1968), S. 94 und 9 (1968) S. 144.)). Konkrete Auskunft erhält man in Heft 9 (1968), S. 144: Danach steht in Web-ster’s Third N;w International Dictionary of the English Language, 1966: »sit-in: an act of occupying seats in a racially segregated establishment as an organized protest against discrimination«. Aus dem passiven Protest der »sit-ins« wurde später in Berkeley der aktive der »teach-ins«. Weiter heißt es dort mit sprachpflegerischem Stirnrunzeln: »Alle weiteren Auswüchse der in-Epidemie wurden dem Prototyp ›sit-in‹ nachgebildet: love-in, laugh-in (Titel eines amerikanischen Fernsehprogramms, be-in (eine Art ›Happen-ing‹), shop-in (Plündern von Geschäften während der Rassenunruhen) usw. Das ameri­kanische Englisch ist sehr geduldig.« Damit hört die Diskussion im Sprachdienst auf: die »in-Krankheit« konnte ad actas gelegt werden. Das RL, das auch auf die Herkunft, auf die Bürgerrechtsbewegung hinweist, ergänzt: »Sit-in … Das erste s. i. im Universi­tätsbereich fand am 2./3. Dezember 1964 an der Universität von Berkeley/Cal. unter der Leitung des Studentenführers Mario Savio statt. Am 22. Juni 1966 fand in der Berliner FU … das erste s. i. statt … (ein) Sitzstreik in den Räumen der Universität.« Präziser und diese Aktionen genauer beschreibend definiert das PW: »Unter sit-in versteht man, daß Demonstranten in großer Zahl sich auf einem Platz, auf der Straße oder in einem Raum, in dem vielleicht gerade eine Sitzung oder Vorlesung stattfinden soll, auf den Boden setzen, um die geplante Sitzung zu verhindern und stattdessen vielleicht eine Diskussion herbeizuführen. Ein Sit-in auf der Straße kann den Verkehr lahmlegen und bietet dann ebenfalls Gelegenheit, auf Mißstände hinzuweisen.«

Wie das Sit-in, das wohl als Ausgangsform anzusehen ist, entstammt auch das Go-in nach der Ansicht des RL der Bürgerrechtsbewegung (RL) ((Die Richtigkeit dieser Ansicht wurde von Marlin Wallach, Berkeley-University, bestritten. Das Wort Go-in gebe es in Amerika nicht. Demnach ist wohl anzunehmen, daß es sich bei Go-in um eine deutsche Analogiebildung handelt.)). Die Diskussion wird durch Eindringen in eine Sitzung usw. erzwungen. Das erste Go-in in der Bundesrepublik fand am 20. November 1967 statt. SDS-Mitglieder erzwangen in Frankfurt den Ab­bruch einer Vorlesung, um auf die Haltung des SDS gegenüber dem Vietnam-Krieg aufmerksam zu machen (RL). Die Sitzungen oder Vorlesungen u. ä. sollen durch das Go-in »umfunktioniert« werden, d. h., es soll ihnen ein neuer Inhalt gegeben werden. Oft findet im Zusammenhang mit Sit-ins oder Go-ins ein Teach-in statt, d. i. eine Dis­kussion, um die Zuhörer auf Mißstände aufmerksam zu machen (zu »belehren«). Im übrigen bezeichnet Teach-in (nach RL) eine Massenversammlung (»kommt massen­haft«!), »bei der den Beteiligten durch Vorträge, Podiumsdiskussionen, Filmvorfüh­rungen o. ä. ein bestimmter Tatbestand bekanntgegeben wird. Das t.-i. dient der In­formation und Bewußtseinsbildung«. Auch das Love-in ist eine Form des Protestes. Sein Zweck ist, das herkömmliche Liebesverhalten in Frage zu stellen, indem in aller Öffent­lichkeit und in großer Zahl Zärtlichkeiten ausgetauscht werden (PW).

Alle diese Protestformen stammen aus den USA, woraus sich auch die englischen Bezeichnungen erklären ((Vgl. aber Anm. 50.)). Nachdem sich in deutschen Landen die erste Überraschung in witzelnden in-Prägungen Luft gemacht hatte (Cry-in, Out-in, Drink-in, usw.), sind es heute die Bildungen Sit-in, Go-in und vor allem Teach-in, die aus der studentischen Protestbewegung nicht mehr wegzudenken sind.

Hearing:

Das Wort Hearing hat den besonderen Unwillen der deutschen Sprachfreunde heraufbeschworen, ohne daß es ihnen gelungen wäre, eine völlig adäquate Übersetzung dafür zu finden ((Vgl. z. B. ›:Sprachdienst« 1 (1968), S. 8; 3 (1968), S. 44; 4 (1968), S. 63. Anhörung, von den Sprach­freunden auch nicht gebilligt, scheint als Übersetzung auf dem Vormarsch zu sein (so wird Hearing im RL übersetzt). Vgl. z. B. Anhörungsorgane, Kursbuch 16 (1969), S. 51.)). Es bezeichnet die aus dem amerikanischen Parlamentsleben übernommene »Praxis der mündlichen Befragung bzw. Vernehmung von Zeugen vor Parlaments­ausschüssen« (RL). Sein Zweck ist die Information des Parlaments. In der BRD ist Hearing vor allem im Zusammenhang mit der Notstandsdebatte gebraucht worden. Bereits heute scheint sich dieses Wort wieder zurückzuziehen, zumal der Wert dieses Verfahrens auch von Vertretern der APO auf Grund der Erfahrungen damit nicht sehr hoch eingeschätzt wird (RL).

Kapitalismus, (Spät-) Kapitalismus:

Das DF gibt folgende Definition: »Kapitalismus … individualist. Wirtschaftssystem, dessen treibende Kraft das Gewinnstreben einzelner ist u. bei dem die Masse der Arbeitenden nicht Eigentümer der Produktionsfaktoren ist.«

Das KSW weist darauf hin, daß es keine einstimmige Definition von K. gibt. Bis heute sei Kapitalismus »ein polemischer Begriff, oft zur Bezeichnung eines Gegners«. Auch RL und PW widmen dem Begriff Kapitalismus ausführliche Erläuterungen. Die heutige Form des Kapitalismus wird von RL und PW als Spätkapitalismus bezeichnet, ein Wort, das in DF und KSW nicht vorkommt. Das RL definiert Spätkapitalismus als »Gesellschaftsordnung im Verfall« im Gegensatz zu Kapitalismus. Diese Gesellschafts­form sei nicht länger »vernünftig«. Sie führe zwangsläufig zu einer »Verschleuderungs­gesellschaft«, »in der die Produktion nur um den Preis ungeheuerer Nebenkosten (Werbung, Rüstung, etc., d. h. Vergeudung von Volksvermögen) aufrechterhalten werden« könne. Funktionieren könne dieses System heute nur noch wie folgt: »Mit Hilfe eines rissigen Repressionsapparates soll erreicht werden, daß sich die Menschen ›richtig‹ verhalten (sich als ›Sozialpartner‹ fühlen, die ›richtigen‹ Parteien wählen, die gewünschten Waren kaufen etc.). Die Widersprüche des Systems werden auf diese Weise verschleiert, aber nicht beseitigt.« Das kapitalistische Prinzip der »freien Wirt­schaft« werde immer mehr aufgegeben. Als ein wesentliches Element des Spätkapitalismus sei der Widerspruch zwischen den westlichen Industrieländern und dem Freiheits­kampf der Dritten Welt anzusehen. Das PW deutet die Möglichkeit einer Ablösung des Kapitalismus durch andere Wirtschaftssysteme an. Diese Möglichkeit verdiene um so größere Beachtung, als wir uns daran gewöhnt hätten, den Kapitalismus für die natür­lichste Form des Wirtschaftslebens zu halten. Das KSW bezweifelt, ob sich »die aus dem Kapitalismus hervorgegangene, seine wesentlichen Merkmale tragende Wirtschafts­form (sie wird bezeichnenderweise nicht Spätkapitalismus genannt, J.) in grundsätzlich andere Systeme umwandeln läßt, ohne einschneidende Leistungsverluste zu erleiden …«

Das Wort Spätkapitalismus ist so eines der Kernwörter der linken Opposition; ein Kampfwort, um dessen Definition man sich große Mühe gegeben hat und das man inzwischen auch mit aller Selbstverständlichkeit benutzt, wenn es darum geht, den gegenwartsspezifischen Charakter des Kapitalismus zu bezeichnen. Vgl. z. B. »Einer ständig wachsenden Zahl von Jungarbeitern, Studenten, Lehrlingen und Schülern wird allmählich klar, welche Rolle die Funktionärspolitik von Gewerkschaftsbund und SPD in der manipulativen Herrschaftstechnik unserer spätkapitalistischen Gesellschaft spielt« ((Rote Notizen (29. 4. 69), hrsg. von ASTA Tübingen.)). In allerjüngster Zeit ist zu beobachten, daß das Wort Spätkapitalismus auch vom sogenannten Establishment benutzt wird, wobei die polemische Komponente »Verfall« freilich aufgegeben ist. Übrig bleibt die Bedeutung: ›heutige Form des Kapitalismus‹. So wurde das Wort z. B. am 10. Januar 1970 in einer Nachrichtensendung des ZdF verwendet. Man könnte beinahe den Eindruck haben, daß dieses Wort von Seiten des Establishments einer ›linguistischen Therapie‹ unterzogen worden sei. Vgl. auch die Verwendung im ›Spiegel‹ (5.1.1970, S. 43): »Ein für die spätkapitalistische Gesellschaft typischer Trend, Kapital in der relativ marktunabhängigen … Rüstung unterzubringen, kam den Bemühungen der Militärplaner entgegen«.

Manipulation, manipulativ:

Besonders durch die Häufigkeit seiner Verwendung, aber auch wegen der starken Be­tonung der pejorativen Aspekte ist dieses Wort (auch als Adjektiv) als eines der zen­tralen Wörter der linken Studenten aufzufassen. Im DF ist Manipulation wie folgt definiert: »… 1) Hand-, Kunstgriff. 2) meist Mehrz.: Machenschaften, Kniffe. 3) Be­einflussung, gezielte Lenkung. 4) im Handel das Anpassen der Ware an die Bedürfnisse des Verbrauchers (durch Sortieren, Umpacken, Mischen, Veredeln usw.)«.

Für das PW ist »Manipulation der Versuch, das Verhalten eines Menschen so zu beeinflussen, daß er nichts davon merkt«.

Die negative Komponente wird wesentlich stärker herausgearbeitet als im DF: Manipulation ermögliche es, »Wählermassen auch dann zur Zustimmung zur Politik der Regierung zu veranlassen, wenn diese Politik in Wahrheit ihren Interessen wider­spricht«. Sie besteht in der Verschweigung oder Entstellung von Tatsachen, Plänen und ihren Ursachen, wozu vor allem auch sprachliche Tricks verwendet werden: »es wer­den schwierige Begriffe und Fremdworte in irreführendem Sinn gebraucht (z. B. An­archie, Terror, Utopie usw.), Tatbestände werden durch neue Benennungen umge­deutet (Aggression = Verteidigung, Vorbereitung eines Krieges = Sicherung des Friedens), es werden Grundbegriffe und Formeln benutzt, die so allgemein und viel­deutig sind, daß jeder, der das nicht weiß, dazu verführt wird, seine eigenen vorge­formten Vorstellungen hineinzulegen (z. B. Freiheit, Demokratie, Fortschritt, Ex­perimente, Zukunft usw.).« Manipulation wird scharf von »annehmbarer Beeinflussung« geschieden.

Dies nicht zu tun, wird der APO gern vorgeworfen: »die außerparlamentarische Opposition … wird nicht müde, … Manipulationen den Massenmedien und dem Establishment in die Schuhe zu schieben, ohne Rücksicht auf die Schuhnummer« ((Stuttgarter Zeitung, 20 2.69.)). In der Tat ist Manipulation ein handliches politisches Schlagwort, bei dessen Verwendung, wird keine nachprüfbare Analyse mitgeliefert, man immer hellhörig werden sollte.

Einige Beispiele (deren Anführung keine Wertung bedeuten soll): »Er (der RC) ist eine Plattform für Aktionen vor allem gegen autoritäre, reaktionäre und manipulative Bestre­bungen in der Bundesrepublik…« ((Aus dem Entwurf einer Satzung des »Republikanischen Clubs e. V.« Mannheim-Ludwigshafen (v. 31.1.1968) )). »In dem Maße aber, in dem selbst diese manipulative publi­zistische Gewalt zur Unterdrückung der politischen Studenten nicht mehr ausreicht, verwandelt sich die latente Gewalt in manifeste .. ,« ((Rote Kommentare v. 27.1.69 (SDS Mannheim). Was hier gemeint ist, ist durch Hinweise auf Zeitungsartikel belegt, also nachprüfbar.)). Vgl. auch das oben angeführte Beispiel, in dem von »manipulativer Herrschaftstechnik« die Rede ist ((Vgl. Anm. 53.)). Ferner ein Beispiel aus allerneuester Zeit: »Dort, wo sie (die Herrschaftsordnung) nicht unmittelbar auf Gewalt beruht, sondern auf subjektiver psychischer Manipulation, liefe man mit Gewalt einfach an der Sache vorbei«. ((Thomas von der Vring (Vorstandsmitglied der Jungsozialisten) in »SPD – was nun?« (Interview in »Konkret« v. 30.12.1969. S. 26).)).

Produktions-, Produktiv-:

Mit Produktion-, Produktiv- sind einige sehr häufig bei der APO verwendete Wörter zusammengesetzt, die zentrale Begriffe der marxistischen Wirtschaftswissenschaft dar­stellen (RL). Diese Begriffe fehlen im DF ((In Duden-Rechtschreibung, 6. Aufl., Mannheim 1968, sind Produktionskraft und Produktionsmittel (ohne Erläuterung) angeführt.)). Sie gehen wahrscheinlich unmittelbar auf Marx zurück: Vgl. das Vorwort seiner Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«. von 1859, wo es heißt: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungstufe ihrer materiellen Produk­tivkräfte entsprechen … Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« ((zit. nach KSW (Marxismus).)). In diesem Sinne definiert auch RL diese Begriffe. Produktionsmittel sind nach dem RL »die Gesamtheit von Arbeitsinstrumenten (Werkzeugen, Maschinen, Hilfsmitteln) und Rohstoffen sowie Halbfabrikaten …«.

Das Wort Produktionsverhältnisse »bezeichnet die Gesamtheit der ökonomischen Be­ziehungen einer Gesellschaft. Dabei handelt es sich vornehmlich um Eigentumsverhält­nisse (Besitz an Produktionsmitteln) und um die Stellung des Menschen im Produktions­prozeß (Tätigkeit und Verhältnis zu den Produktionsmitteln). Im weiteren Sinne um­faßt der Begriff auch die Probleme der Arbeitsteilung, des Tauschmechanismus (Markt, Kauf und Verkauf) und die Güterverteilung«.

Produktionsweise » … bezeichnet die gesamte Art und Weise, in der eine bestimmte Gesellschaft ihre Güter produziert und sich damit reproduziert bzw. in der sie lebt«. Ihre Elemente sind daher die Produktionskräfte und die Produktionsverhältnisse. Die Produktivkräfte wiederum »setzen sich aus der menschlichen Arbeitskraft und den Pro­duktionsmitteln zusammen«. Ihre »ständige Weiterentwicklung … führt zur Verände­rung der Gesellschaft. Die Entwicklung der P. folgt ihrerseits aus der Wechselbeziehung zwischen dem Menschen (Fähigkeiten) und den Produktionsmitteln (Arbeitsinstrumen­te). In diesem Sinne können auch Ideen P. sein«. Dafür sei eine Reihe von Belegen angeführt:

Herbert Marcuse schreibt: »Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind nicht nur für die Knechtschaft und Mühsal verantwortlich, sondern ebenso für das größere Glück und Ver­gnügen, wie sie der Mehrzahl der Bevölkerung zugänglich sind .. .« ((Ist Sozialismus obszön?, a. a. O., S. 21f.)). Ferner spricht er von einer »Vision, (die) veraltet ist und einer bereits überholten Entwicklungsstufe der Produktiv­kräfte angehört« ((ebd., S. 23.)). In einem offenen Brief eines SDS-Kollektivs an Hermann Vetter heißt es: »nach dem aufschwung der wissenschaftlich-technischen produktion in den metropolen ist auch in der sphäre der geistigen produktion das herrschaftsverhältnis ein produktionsverhältnis, das in der sphäre der materiellen produktion dem eigentumsverhältnis entspricht« ((abgedr. in »Rote Kommentare« v. 27. 1. 69 (SDS Mannheim).)), »verweigern wir massenhaft unsere produktivkraft wissenschaft dem kapitalismus« ((ebd.)). »der grundwiderspruch der kapitalistischen gesellschaft – kollektive produktion und individuelles eigentum/verfügungsgewalt über produktionsmittel – schlägt sich an den hochschulen in der orientierung des wissenschaftsbetriebs auf privatistische aneignung der arbeitsteilig organisierten produktivkraft wissen um …« ((ebd.)) Peter Schneider schreibt in Kursbuch 16 (»Die Phantasie im Spät­kapitalismus und die Kulturrevolution«, ((Peter Schneider a. a. O., S. 1.)): »Sie (die Kulturrevolution) kann nicht den Staats­apparat zerschlagen, kann nicht die Produktionsmittel enteignen, kann nicht siegen, wenn sie nicht zur ökonomisch-politischen Revolution wird.« »Das Programm und die Praxis der Kul­turrevolution hängen ab vom Entwicklungsstand der industriellen Produktivkräfte« ((ebd., S. 2. In diesem Aufsatz kommt das Wort »Produktivkräfte«, mehr als 50 mal vor.)).

Immerhin erstaunlich ist es, daß diese Kernwörter der marxistischen Wirtschafts­theorie in unseren gängigen Wörterbüchern so sehr zu kurz kommen, selbstverständlich im Gegensatz zu den Wörterbüchern der DDR ((Vgl. dazu Hans H. Reich, Sprache und Politik, Untersuchungen zu Wortschatz und Wortwahl des offiziellen Sprachgebrauchs in der DDR, München 1968 (= Münchener Germanistische Beiträge, Bd. 1), S. 181ff.)). Ihre Bedeutung versteht sich ja keineswegs von selbst: es handelt sich um definierte Termini.

Repression, repressive Toleranz, repressive Sprache:

Nach dem DF steht Repression: »… veralt. für Abwehr, Hemmung«, repressiv ist: »hemmend, unterdrückend (vor allem von Gesetzen, die zum Wohl u. im Interesse des Staates gegen allgemeingefährliche Umtriebe erlassen werden)« ((Im Rechtschreib-Duden von 1968 fehlt diese Klammer, aber auch in der 15. Aufl. von 1961 und der 14. Aufl. von 1957. Dieses Fehlen ist also nicht als neue Interpretation mißzuverstehen.)). Das Wort repressiv ist damit (vor allem?) als Terminus des Juristen definiert, in durchaus positivem Sinn. Herbert Marcuse hat die positiv gemeinte Bedeutung in eine pejorative verwandelt (»Linguistische Therapie«). Die »Neue Linke« versteht dieses Wort folgendermaßen (RL): Repression: »Unterdrückung, Hemmung. Meint im weiteren Sinne die politische Unterdrückung von Volksmassen oder Teilen einer Bevölkerung (Neger in den USA) durch einen anderen Teil der Bevölkerung oder eine herrschende Klasse mit Hilfe staatlicher oder gesellschaftlicher Gewaltanwendung. In neuester Zeit geschieht das zunehmend auch durch Bewußtseinsmanipulation« (vgl. Manipulation). Wenn heute also von »repressiven Gesetzen« die Rede ist, so versteht die »Junge Linke« darunter eindeutig Gesetze der Unterdrückung. So wird die Sexualgesetzgebung vielfach als »repressiv« empfunden, oder auch das Demonstrationsgesetz, das in eindeutigem Wider­spruch zum Grundgesetz stehe und undemokratisch sei.

Damit ist aber die volle Bedeutung des Wortes Repression noch nicht dargestellt: »Im engeren Sinne meint R. die Unterdrückung menschlicher Triebe und Entwicklungs­möglichkeiten zugunsten einer möglichst weitgehenden Anpassung des Individuums an gesellschaftliche Normen (Konformismus).« Die Gesellschaft erkaufe ihre »schein­bar gute Funktionsfähigkeit mit dem persönlichen Unglück ihrer Mitglieder (Neurosen, Verdrängungen, bes. im sexuellen Bereich)«. Repression führe zu Aggressivität (Ver­halten im Autoverkehr als ein Ventil).

Repressive Toleranz ((Vgl. Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Kritik der reinen Toleranz edition Suhrkamp 181, Frankfurt 1966)) bedeutet nach Marcuse eine Toleranz, die den Interessen der Unterdrückung dient. Echte Toleranz müsse »intolerant« gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen sein. Was das Establishment Tole­ranz nenne, sei in Wirklichkeit häufig Unterdrückung, echte Toleranz führe zur Be­freiung des Individuums.

Wir sehen auch hier die schon beobachtete Technik, daß das Vokabular des Establish­ments umgewertet wird: hier durch die Unterscheidung mit Hilfe wertender Adjektive. Die Berechtigung zu dieser Umwertung wird aus einem besseren Wissen abgeleitet, aus dem Glauben an die Richtigkeit der eigenen Vorstellungen. Marcuse und den meisten Vertretern der »Jungen Linken« muß man zumindest eine subjektive Richtigkeit ihrer Überzeugung zubilligen, in den meisten Fällen sogar objektive, wenn sie auf allgemein anerkannten and überprüfbaren wissenschaftlichen Analysen basiert. Trotzdem wird natürlich auch hier wieder die Fraglichkeit der »Linguistischen Therapie« deutlich: Ihre Grundlage ist: eine geglaubte oder auch eine bewiesene Wahrheit, wobei die Grenzen oft fließend sein mögen. Was aber letztlich gefährlich an der »Linguistischen Therapie« ist (– in Wirklichkeit hat das Wort ›linguistisch‹ hier nichts zu suchen: es ist eine auf Wörter angewandte moralische Therapie, die nicht allzuweit von der »Allgemeinen Semantik« entfernt anzusiedeln ist –), das ist die Tatsache, daß dieses Verfahren auch zur Propagierung der Unwahrheit und der Inhumanität verwendet werden kann. Im allgemeinen bedient sich derjenige, der tatsächlich Geschehnisse verschleiern oder ver­teufeln will, weit gröberer Mittel. Beispiele dafür führt Marcuse an, wobei er von einer »reglementierten Sprache« spricht, die sich unerbittlicher Diskriminierung befleißige: »… ein besonderes Vokabular des Hasses, des Ressentiments und der Diffamierung gilt dem Feind und denjenigen, die gegen eine aggressive Politik opponieren. Das Muster bleibt sich stets gleich. Demonstrieren Studenten gegen den Krieg, so handelt es sich um einen ›Mob‹, der verstärkt wird durch ›bärtige Advokaten der sexuellen Zügellosigkeit‹, durch ›ungewaschene Halbstarke‹, durch ›Raufbolde und Herumtreiben, die ›die Straßen unsicher machen‹, während die Gegendemonstration von ›Bürgern, die sich versammeln‹ veranstaltet werden …«

Die strapazierte Sprache verfahre nach dem Orwellschen Prinzip der Identität der Gegensätze: ›im Munde des Feindes heißt Frieden – Krieg, bedeutet Verteidigung – Angriff, während auf der gerechten Seite Eskalation gleichbedeutend mit Zurückhaltung ist und Flächenbombardements den Frieden herbeiführen sollen« ((Herbert Marcuse, Aggressivität und Anpassung in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, in: edition Suhrkamp Bd. 282 {Anpassung und Aggressivität, mit Beiträgen von Marcuse, Rapoport, Hörn, Mitscherlich, Senghaas und Markovic), S. 20f.)). Hinzufügen müßte man hier selbstverständlich auch solche Beispiele »reglementierten Sprechens«, die sich bei den »linken Studenten« finden. Ich erinnere hier nur daran, was Ludwig Marcuse zur Verwendung des Wortes autoritär gesagt hat (s. o. S. 95).

Ganz ähnlich wie Herbert Marcuse argumentiert Noam Chomsky in seinem Aufsatz »Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen« ((Noam Ctomsky, in: Amerika und die neuen Mandarine, Frankfurt 1969, S. 240-272.)), in dem er das Verhältnis der amerikanischen Politik zum Vietnamkrieg (u. a.) unter die Lupe nimmt und den heuchlerischen Verba­lismus, mit dem man ihn zu rechtfertigen suchte, durch Fakten bloßstellt.

Ein paar wichtige Fragen gilt es hier noch zu stellen: Woher nehmen Marcuse und Chomsky die Sicherheit, die Sprache des Gegners als repressiv zu charakterisieren? Welches ist die Basis ihrer Argumentation? Glauben sie, die Wahrheit gepachtet zu haben? Was versteht z.B. Marcuse unter Wahrheit? Ich zitiere: »… Wahrheit ist in strengstem Sinne ein Wert, sofern sie dem Schutz und der Verbesserung des Lebens dient, als ein Leitfaden im Kampf des Menschen mit der Natur und mit sich selbst – mit seiner eigenen Schwäche und seinem eigenen Destruktionstrieb. In dieser Hinsicht ge­hört Wahrheit in den Bereich des sublimierten Eros, der Intelligenz, die, verantwortlich und autonom geworden, danach strebt, die Abhängigkeit des Menschen von unkon­trollierten und repressiven Mächten aufzuheben« ((Herbert Marcuse, Aggressivität, a. a. O., S. 27.)). Dies kann auch der Böswilligste nicht als utopische Schwärmerei abtun, denn damit würde er sich selbst dekouvrieren.

Die ganze Problematik einer nicht repressiven Sprache (was unter repressiver Sprache verstanden wird, dürfte inzwischen deutlich genug geworden sein) erhellt aus den letzten Zeilen des Aufsatzes von Karl Markus Michel über »Herrschaftsfreie Institutionen«?, die ich ausführlich zitieren möchte:

»… in einem Modell, das im institutionellen Be­reich auf Emanzipation statt auf Disziplinierung, auf Individuation statt auf Anpassung drängt, (wäre) der ›allgemeine Wille‹ zur Kommunikation, zur Verständigung, zur kollektiven Erzeugung von Vernunft ein Zwang, der nicht mehr der Legitimation be­darf und deshalb nicht repressiv würde. Jedenfalls dann nicht, wenn Benjamin recht hätte darin, ›daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre der ›Verständigung, die Sprache‹ ((Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, edition Suhrkamp 103, Frankfurt 1965, S. 48.)). Vermutlich hat Benjamin nur unter der Voraussetzung recht, daß herrschaftsfreie Kommunikation bereits gewährleistet ist, die doch ihrerseits eine herrschaftsfreie Sprache voraussetzt. Gerade im Bereich der politischen Rede ist Sprache heute Herrschaftssprache, Legitimationssprache – von den Diskussionen im Parlament bis zu denen im SDS, und hier ganz besonders, weil hier die Diskrepanz zwischen den Zielen der Rede und ihren Formen, dem alten dogmatischen Funktionärs­vokabular, in dem sich jede Handlung rechtfertigen zu müssen meint, besonders kraß ist. Die Rede des Protestes reproduziert oft nur die Zwänge, gegen die sie sich stark macht. Man könnte behaupten, daß der Pariser Mai und auch so manche Aktion hier­zulande gescheitert oder im Sand verlaufen sind, weil die Sprache fehlte, um die kon­kreten Bedürfnisse der Arbeiter auf den Begriff zu bringen, um spontane Kommunika­tion zu ermöglichen«. Hieran schließt sich die bereits zitierte Forderung nach einer repressionsfreien Sprache an, deren Entstehungsbedingungen er in Korrelation zur Ent­stehung repressionsfreier menschlicher Beziehungen sieht.

Wenn auch im einzelnen gegen diese Darstellung einiges einzuwenden wäre, (die Sprache »des« SDS rekrutiert sich z. B. keineswegs ausschließlich aus dem dogmati­schen Funktiorärsvokabular, obwohl, wie gezeigt werden konnte, die Gefahr einer Dogmatisierung gegeben ist), so scheint mir dennoch die Schlußfolgerung ganz richtig zu sein. So kann, folgert man weiter, auch die Sprache von Marcuse heute noch nicht frei von Repression sein, nicht, weil er falsche Absichten verfolgte, sondern weil die Ver­hältnisse es nicht zulassen. Möglicherweise aber ist sie das Quentchen frei von Repres­sion, das geeignet ist, ein Quentchen repressionsfreie menschliche Beziehung zu schaffen, das wiederum Voraussetzung dazu ist, das nächste Quentchen repressionsfreie Sprache zu ermöglichen

Damit sind rund zwanzig der wichtigsten Wörter der außerparlamentarischen Oppo­sition vorgestellt. Gleichzeitig wurde der Versuch gemacht, den größeren Zusammen­hang, in dem sie stehen, ein wenig deutlich zu machen. Dazu war gelegentlich ein weite­res Ausholen erforderlich. Die umfangreiche Literatur zur Sprache der Politik konnte nur am Rande berücksichtigt werden, da diese Untersuchung sonst in der Gefahr ge­standen hätte, auszuufern. Aber gerade deshalb kann sie nicht den Anspruch erheben, Grundsätzliches zum Thema Sprache der Politik beigetragen zu haben. Es scheint mir aber erforderlich, die Sprache der außerparlamentarischen Opposition und ihr Um­gehen mit Wörtern in Zukunft in solche allgemeineren Überlegungen einzubeziehen. Wenn dieser Aufsatz dazu eine gewisse Vorarbeit geleistet hat, sieht er seinen Zweck bereits zum Teil erfüllt, den ich zu anderen Teilen allerdings auch darin sehe, Vorurteile abzubauen und einen kleinen Beitrag zu dem zu leisten, was Karl Markus Michel »re­pressionsfreie menschliche Beziehungen« genannt hat.

Abschließend sei noch einmal auf das Buch von W. Dieckmann (Sprache in der Politik, a. a. O.) hingewiesen, das einen Überblick über die sprachwissenschaftlichen Beschäftigungen mit der Sprache der Politik gibt. Dieckmann weist nach, wie schwie­rig es ist, dieses Thema so zu behandeln, daß der Sprachwissenschaft nicht der Vor­wurf gemacht werden kann, sie sei von einer bestimmten politischen Haltung beein­flußt. Bei all dem darf aber nicht vergessen werden, daß sich auch hinter dem Wunsch nach Objektivität, ja hinter der Objektivität selbst, eine politische Einstellung verber­gen kann. Strenggenommen gibt es keine menschliche Verhaltensweise, die unpoli­tisch wäre.

Eine Bestätigung dieser Ansichten liefert der linguistisch bedeutsame Aufsatz von Wilhelm Schmidt: »Die Sprache als Instrument der Leitung gesellschaftlicher Prozesse« ((Deutschunterricht 11 (1969), S. 367-380.)). Die Anwendung der entwickelten und insgesamt gesehen sehr sachlich erarbei­teten Methoden führt im Einzelfall zu Ergebnissen, die man dann anerkennen kann, wenn man die politische Wahrheit, die der Verfasser als die einzige gelten läßt und die die Basis ist, mit der die Methode operiert, akzeptiert. Die Ergebnisse sind ideologiegebunden. Ich gestehe, daß ich die Grenze zwischen »Verleumderische(r) Dis­kriminierung und schonungslose(r) parteiliche(r) Entlarvung einer gefährlichen Poli­tik« nicht mit der gleichen Leichtigkeit ziehen kann, mit der Schmidt dies tut ((ebd. S. 379.)). Viel­leicht, mag sein, verbirgt sich hinter diesem Nicht-Können aber auch bereits wieder eine politische Haltung, eine Parteilichkeit, die sich auf Objektivität richtet, eine Ob­jektivität, die viele der Ergebnisse Schmidts weitgehend akzeptieren kann (vgl. die Beispiele Atomsperrvertrag statt Atomwaffensperrvertrag, über das die politische Entwick­lung inzwischen freilich hinweggeschritten ist; ferner Volksaktie, friedliche Koexistenz etc.), eine kritische Betrachtung des politischen Sprachgebrauchs in der DDR aller­dings vermißt. Es erhebt sich erneut die Frage, ob es Sache des Sprachwissenschaftlers ist, die an sich völlig neutralen Mittel der Sprache der Politik zu untersuchen und an Beispielen aufzuweisen, oder ob er so »kühn« sein soll, sich Wertungen zu erlauben, also selbst massiv politisch wirksam zu werden. Ganz abgesehen davon steht der Wis­senschaftler beinahe immer in dem Dilemma, daß die Ergebnisse seiner Arbeit miß­braucht werden können, daß, um ein Beispiel zu nennen, das Ergebnis einer sprach­wissenschaftlichen Untersuchung der Sprache der Politik dazu verwendet werden kann, die Gängelung der Massen, die Manipulation zu verstärken und noch geschickter zu handhaben. Damit soll keinem Wissenschaftsfatalismus das Wort geredet sein. Die Wissenschaft sollte bemüht sein, ihre Arbeit in einen Kontext sozialer und moralischer, dem Menschen gemäßer Wertordnungen zu stellen, wobei sie der Entwicklung solcher Wertordnungen vorrangige Wichtigkeit zubilligen sollte, d. h., die Wissenschaft sollte zugleich immer auch nach der Wahrheit und den Einzelwahrheiten fragen und beste­hende »Wahrheiten«, die sich nicht selten normativ verfestigt haben, ständig in Frage stellen, und das ungeachtet der Tatsache, daß »die Anerkennung irgendeines Wahrheits­kriteriums, das nicht mehr wertfrei begründbar ist, jeder wissenschaftlichen Aktivität zugrunde liegt« ((Vgl. Karl Steinbuch, Falsch programmiert, Stuttgart 1968, S. 42.)). Das alles wäre jedoch ohne großen Wert, wenn es den Wissenschaft­lern nicht gelingt, sich der Umarmung durch Wirtschaft und Machtpolitik zu entziehen und das Stadium moralischer Indifferenz zu überwinden.

Vielleicht sollte die Wissenschaft zuerst nach ihrer eigenen Grundlage fragen, sie in Frage stellen. Ob die Ansicht Herbert Marcuses freilich stimmt, daß die Wissen­schaft aufgrund ihrer eigenen Methoden und Begriffe ein Universum entworfen hat, worin die Naturbeherrschung mit der Beherrschung des Menschen verbunden blieb, ist schwer zu sagen. Wollte man den Menschen von der Beherrschung befreien, so müßte man demnach einen neuen Wissenschaftsbegriff entwickeln, die »Richtung des Fortschritts« ändern ((Vgl. Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, S. 180f.)). Diesen Ansatz kritisiert denn auch Jürgen Habermas, indem er aufzuzeigen versucht, daß es für »die moderne, auf die Einstellung möglicher techni­scher Verfügbarkeit verpflichtete Wissenschaft … kein Substitut (gebe), das ›humaner‹ wäre« ((Vgl. Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt, 2. Aufl., 1969, S. 58)). Womit aber zugleich auch wieder die Frage gestellt ist, was denn das dem Menschen Gemäße sei.