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Vom Nutzen kritischer Wissenschaft für demokratische Politik

Zehn Thesen von Siegfried Jäger, veröffentlicht im DISS-Journal 26 (2013)

1. An sich ist Wissenschaft immer schon kritisch, sofern sie sich auf gesellschaftlich relevante Themen bezieht und dabei rückhaltlos ihre Ergebnisse offenlegt und plausibel begründet.

2. Wissenschaft ist, wenn sie das tut, gute Parrhesia im Sinne Foucaults. Sie spricht freimütig das aus, was sie als Wahrheit ansieht. ((Zur Frage der Parrhesia vgl. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France1983/84, Berln: Suhrkamp 2010.))

3. Sie weiß, dass das nicht ungefährlich ist. Denn solche Wahrheit tut weh, weil sie die herrschenden Wahrheiten in Frage stellt. Sie rechnet daher immer mit Widerspruch, Marginalisierung, Gegenmacht und Unterdrückung. Gute Parrhesia hat es daher immer mit Blockaden von Macht zu tun, also mit Herrschaft. ((Daher lässt sie sich nicht auf Rhetorik reduzieren. ))

4. Wissend, dass das so ist, schützt seriöse Wissenschaft sich und ihre VertreterInnen dadurch, dass  sie ihre Gegenstände durch intensive kritische Auseinandersetzung mit den in den Wissenschaften gültigen Wahrheiten absichert.

5. Sie vernetzt sich national und international mit KollegInnen, z. B. indem sie den Austausch ihrer Erkenntnisse durch Treffen und Schriften pflegt.

6. Solche Wissenschaft ist nicht fundamentalistisch. Sie akzeptiert andere Wahrheiten, sofern diese ein demokratisches Ethos vertreten. Kernpunkte eines demokratischen Ethos sind die Wahrung der Menschenwürde und der Erhalt des Lebens.
7. Diese Wissenschaft ist daher per se politisch, aber nicht umstandslos in demokratische Politik umsetzbar. Sie schwebt nicht quasi oligarchisch über dem Wissen der Bevölkerungen. Deshalb muss sie sich vermitteln, Möglichkeiten der Vermittlung nutzen und selbst Möglichkeiten der Vermittlung entwickeln.

8. Möglichkeiten demokratischer Vermittlung sind z. B.: sprachliche Genauigkeit und Klarheit, Kenntnis der Wissenskapazitäten in den Bevölkerungen, sowie intensive Kooperation mit Praktikern (z. B. Lehrern, Leuten aus sozialen Bewegungen, NGOs, evtl. Parteien und Gewerkschaften).

9. Die Kooperation mit Praktikern ist nicht als Schulungsarbeit zu organisieren sondern als gegenseitiger Lernprozess. Die Ergebnisse solcher Lernprozesse sind an andere WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen zu vermitteln.

10. Solche Modelle existieren bereits und sind erfolgreich. Ein Beispiel ist die sehr erfolgreiche Kooperation von Teilen der brasilianischen Arbeiterschaft mit wissenschaftlichen Kräften aus den Universitäten und Instituten. ((S. den Artikel „Solidarische Ökonomie in Brasilien“ von Clarita Müller-Plantenberg, in Gottschlich u.a. (Hg.). „Reale Utopien. Perspektiven für eine friedliche und gerechte Welt“ (Festschrift für Moshen Massarat), Köln 2008, S. 70-81. In der SZ 2013 vom 5./6. 10.fand eine interessante Diskussion zum bedingungslosen Grundeinkommen statt.))