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Repräsentative Demokratie in der Vertrauenskrise

Von Helmut Kellershohn, veröffentlicht im DISS-Journal 26 (2013)

I. Zwei Sichtweisen

Das klassische Argument gegen die Demokratie als Selbstregierung des Demos stammt von Montesquieu. In großen Staaten seien allein gewählte Repräsentanten in der Lage, die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu erörtern: „Das ist ihr großer Vorteil. Das Volk ist dazu durchaus nicht geeignet. Das ist eines der großen Gebrechen der Demokratie.“ Das Ideal repräsentativer Demokratie, ihre Legitimation, besteht darin, dass freie Repräsentanten erstens ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten (dadurch, dass sie gewählt sind) und zweitens in allgemeiner Übereinstimmung mit dem Volkswillen, d.h. mit dem Anspruch, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen, den Staatswillen formen.

Gegenüber diesem legitimatorischen Zusammenhang hat Max Weber repräsentative Demokratie im Wesentlichen als ein optimales Instrument der Führerauslese, als „Führerdemokratie“ verstanden. Legitimation erfolgt hier über das Charisma der Führer bzw. des Führers (Reichspräsident). Der legitimatorische Zusammenhang wird damit auf den Kopf gestellt: Der Führer fällt seine Entscheidungen aus ureigenster Überzeugung, muss sich aber dann – mit Hilfe des Parteiapparates („Maschine“) – Gefolgschaft im Parlament und bei den Massen erkämpfen. Nicht die politische passive Masse gebiert aus sich heraus den Führer, sondern der politische Führer wirbt sich die Gefolgschaft und gewinnt durch Demagogie die Masse. Repräsentative Demokratie, Demagogie und charismatische Führerschaft gehören für Max Weber zusammen. Der Umschlag hin zu einem charismatischen Diktator ist diesem Zusammenhang immanent, Carl Schmitt hat diese Konsequenz gezogen.

II. Krise der Repräsentation heute

Wenn heute von einer Krise der Repräsentation gesprochen wird, so vor allem in Hinblick auf das Ideal der Repräsentation, in Bezug auf die mangelnde Anbindung an den sog. Volkswillen, der von verschiedensten Seiten reklamiert wird. Als Führerdemokratie, also realistisch gesehen im Sinne Max Webers, funktioniert sie durchaus, solange zumindest eine Volkspartei und eine halbe Volkspartei mit rund zwei Dritteln der Wählerstimmen das Sagen haben und als Staatsparteien fungieren können. Gleichwohl signalisiert die Zunahme folgender Phänomene krisenhafte Prozesse:

1. Die neoliberale Austeritätspolitik erzeugt Effekte, die dem Ideal der repräsentativen Demokratie zuwiderlaufen. Insbesondere auf EU-Ebene hat sich ein Notstandsregime entwickelt, das von der nationalstaatlichen Ebene aus nicht mehr durch den Souverän und seine Repräsentanten in den Parlamenten kontrollierbar erscheint.

2. Von Seiten der hegemonialen Eliten wiederum werden mangelnde Effizienz des parlamentarischen Systems, die hohen Transaktionskosten des Föderalismus oder etwa der angeblich überdimensionierte Sozialstaat beklagt.

3. Die dem entgegengesetzte Kritik verweist darauf, dass der finanzmarktgetriebene Kapitalismus soziale Ungleichheiten vertieft, die Prekarisierung vorantreibt, eine schwindende Partizipationsbereitschaft der Armen produziert, die zu Passivierung und Entpolitisierung führt.

4. Der Rechtspopulismus profitiert davon. Teile der Eliten und der sog. Leistungsträger reartikulieren die Konflikte um den Euro, Brüssel und den Sozialstaat als Gegensatz von Volk und Staat und verbinden dies mit einer Ethnisierung des Sozialen. Das „Wir“ wird völkisch aufgeladen.

5. Die Repräsentationskrise führt zu einer Vielfalt von sozialen Widerstandsbewegungen, die von unten die Folgen der Banken-, Euro- und Schuldenkrise thematisieren und das neoliberale Programm der Privatisierung und Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche angreifen. Soziale Bewegungen entwickeln sich aber nicht nur, vereinfacht gesprochen von links, sondern haben eine durchaus auch konservative Komponente, wenn die sog. Leistungsträger um traditionelle Privilegienstrukturen fürchten oder weil auch sie sich betroffen fühlen von den Folgen des Austeritätsprojekts.

III. Radikaler Reformismus

Um an den letzten Punkt anzuknüpfen: Das Diffuse mancher sozialer Bewegungen zwingt zu grundsätzlichen Überlegungen, in welche Richtung sich Widerstandspotentiale entwickeln könnten bzw. sollten. Colin Crouch beispielsweise will die repräsentative Demokratie nicht abschreiben, sondern sieht Soziale Bewegungen als Korrektiv. Deren Aufgabe sei es, Themen, die von oben ignoriert oder vernachlässigt würden, kampagnenmäßig aufzugreifen und in die Parteien reinzutragen, um darüber zu einer Veränderung herrschender Politik beizutragen.

Alex Demirović lehnt eine solche klassisch reformistische Strategie ab. Er plädiert für eine „Demokratisierung der Demokratie“. Demokratisierung, so Demirovic, „ist in der Breite der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig und meint nicht nur eine unverbindliche Partizipation, sondern die Einrichtung von Verfahren, in denen tatsächlich verbindliche Entscheidungen getroffen werden. Zuallererst in der Wirtschaft selbst, da von dorther die autoritären Dynamiken rühren. Aber auch in den Schulen und Hochschulen, in den staatlichen Planungsprozessen und der Verwaltung.“

Joachim Hirsch sieht folgendes Problem: „Eine auf Emanzipation abzielende Politik kann sich nur aus der bestehenden Gesellschaft und ihren Widersprüchen heraus entwickeln und bleibt deren Strukturen, Handlungsorientierungen und Subjektprägungen verhaftet.“ Soziale Bewegungen müssten daher „neue gesellschaftliche Orientierungen und Praktiken durchsetzen und kollektive Erfahrungs-, Aufklärungs- und Lernprozesse in Gang setzen“, diese immer wieder aufs Neue reflektieren und weitertreiben. Mit Poulantzas spricht er von einem „radikalen Reformismus“: Reformismus deshalb, weil es nicht um revolutionäre Machtergreifung geht, und radikal deshalb, weil auf die gesellschaftliche Beziehungen (Arbeits-, Geschlechter-, Naturverhältnisse) gezielt wird, die „die dominanten Macht- und Herrschaftsverhältnisse hervorbringen.“ Das schließe nicht aus, dass es auch darum geht, auf staatlicher Ebene „erkämpfte soziale Rechte und Kompromisse verbindlich“ festzuschreiben.