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Gibt es eine Demokratie ohne Kapitalismus?

 Von Wolfgang Kastrup, veröffentlicht im DISS-Journal 26 (2013)

Die Tatsache, dass sich diese Frage überhaupt stellt, verweist darauf, dass das Verhältnis kein notwendiges und daher auch problematisch sein kann. In der Verbindung zwischen Kapitalismus und Demokratie zeigt sich der Widerspruch zwischen formeller politischer Rechtsgleichheit und konkreter sozioökonomischer Ungleichheit, oder anders ausgedrückt, der mit gleichen Rechten ausgestattete „citoyen“ steht dem „bourgeois“ gegenüber, der über ungleiche Möglichkeiten verfügt (Besitz und Nichtbesitz von Produktionsmitteln).

Diese Doppelrolle charakterisiert den Widerspruch der bürgerlichen Demokratie. Hier werden Gleichheit und Freiheit zur Notwendigkeit kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die Subjekte treten als rechtlich gleiche und freie im Austauschprozess der Waren gegenüber – im Unterschied zum Feudalismus – und dies macht sich geltend im Staat, der in relativer Autonomie zu Gesellschaft und Ökonomie und ausgestattet mit dem Gewaltmonopol der Staatsapparate, Gleichheit, Recht und Eigentum seiner Bürger schützt und reguliert, verbunden allerdings organisch mit den Kapitaleigentümern und ihren Fraktionen. Dass der Staat das Gewaltmonopol ausübt, erfolgt unter Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger.

Wie wird dieses Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus und umgekehrt in der Wissenschaft, in der kritischen Wissenschaft, diskutiert? Hier ein kurzer Überblick:

Christoph Butterwegge kritisiert die „Marktgesellschaft“, die die Gesellschaft in große Armut und unermesslichen Reichtum spalte. An seine Stelle solle auf der Basis einer grundlegenden Änderung bestehender „Eigentums-, Macht- und Herrschaftsstrukturen“ ein „inklusiver Sozialstaat“ treten, um Armut energisch zu bekämpfen. Hauke Brunkhorst will mit der Demokratie den Kapitalismus bändigen und plädiert für eine wenigstens teilweise Vergesellschaftung der Produktionsmittel, um den Interessen der ganzen Gesellschaft zu entsprechen Für Alex Demirović gehört „zum Kapitalismus im idealen Durchschnitt die parlamentarische Demokratie“, um mit ihr die unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft friedlich zu regeln. Für ihn haben die „Regierungstechnologien der Governance“ nichts mehr mit Demokratie zu tun, und er spricht  vom „Staatsstreich“. Er verweist auf das Einsetzen technokratischer Regierungen, Haushaltskontrollen durch die EU und erzwungene nationale Gesetze, die die Gläubiger schützen. Er spricht vom Fiskalpakt und dem Pakt für Wettbewerbsfähigkeit. Der vom Neoliberalismus betriebene Abbau sozialer Rechte geht seiner Meinung nach weiter (Demirović 2013, 196). Diese Form der Herrschaftsausübung sieht Joachim Hirsch durch den „autoritären Etatismus“ in Anlehnung an Poulantzas charakterisiert. Demirović sieht dies anders. Für ihn kommt es „zu einer neuen Form von bürgerlicher Ausnahmeherrschaft, der transnationale Netzwerkstaat nimmt die Form eines gouvernementalen Unsicherheits- und Austeritätsstaates an“ (Demirović 2013, 197). Mit transnationalem Netzwerk meint er, dass die  Entscheidungen von wenigen Finanzministerien und Notenbanken, EZB, IWF, EU-Kommission, Finanzindustrie und Ratingagenturen getroffen werden. Katrin Meyer sieht einen Gegensatz zwischen der Funktionslogik des Kapitalismus, die eine exklusive profitorientierte Verfügung über Kapital, Boden und Waren beinhalte, und einer Machtteilung in der Demokratie. Deshalb argumentiert sie für eine demokratische Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaft: Ein häufig zu hörendes Argument kritischer Wissenschaft. Eine Demokratie ohne Kapitalismus- eine Zukunftsvision. Nicht ganz überraschend widerspricht hier allerdings Julian Nida-Rümelin, der eine Demokratie ohne Kapitalismus für nicht realistisch hält. Es gebe nicht „den Kapitalismus, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Gewichtungsverhältnisse von Staat und kapitalistisch geprägter Marktwirtschaft“.  Er meint damit niedrige und hohe Staatsquoten, unterschiedliche Sozial- und Bildungsstandards. Er will eine soziale Demokratie mit einer Wiederherstellung des Primats der Politik. Für ihn sichern hohe soziale Standards oftmals eine höhere Produktivitätsentwicklung. Dies erinnert u.a. an die Hochlohnstrategie von Henry Ford in den 1920er Jahren. Samuel Salzborn sieht zwischen der Demokratie und der „kapitalistischen Anarchie des Marktes“ eine „Einheit im Widerspruch“. Da der Kapitalismus nicht ohne den Staat (ordnende Zentralgewalt) existieren könne, folgert er, dass „der Staat der einzige existierende Akteur (ist), der ihn effektiv limitieren will, kann und muss“. Woher Salzborn allerdings diesen Willen des Staates bemerkt haben will, bleibt unklar.

Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob der Staat überhaupt als korrigierende Kraft gesehen werden kann, um den Kapitalismus zu bändigen. So sieht es ja nicht nur Salzborn, sondern so sehen es auch etliche soziale Bewegungen, so z.B. Occupy und auch viele Linke, mit ihrer auf den Staat fixierten Reformstrategie, um so eine demokratische und soziale Gestaltung zu erreichen. Zu fragen ist allerdings, woher sie die Gewissheit nehmen, dass z. B. ein Anspruch gegen Verarmung existiert. Von den existierenden Demokratien können sie das unmöglich haben. Werden hier nicht falsche Hoffnungen auf den Staat bezüglich einer Repolitisierung gelenkt? Das Grundproblem ist doch: Auch dem Staat ist die Verwertungslogik und der Verwertungsprozess vorausgesetzt. Wolfgang Streeck ist zuzustimmen wenn er sagt, dass wir die Zukunft der Demokratie, wo auch immer, nicht ohne den Kapitalismus denken dürfen, d.h., die Demokratietheorie nicht ohne politische Ökonomie betreiben können.

Wirkliche Demokratie, eigentliche Demokratie wird oft zum Maßstab genommen, um Abweichungen vom Ideal zu beklagen. Michael Heinrich hat Recht, wenn er sagt, dass unter kapitalistischen Verhältnissen die bestehenden demokratischen Systeme, trotz unterschiedlicher Varianten, bereits die wirkliche Demokratie beinhalten (vgl. Heinrich 2004, 207).

Vielleicht ist ja der „radikale Reformismus“ als Transformationsprozess eine Strategie für eine Demokratie jenseits des kapitalistischen Staates, so wie ihn Joachim Hirsch beschrieben hat. Mit „Reformismus“ meint er, dass Veränderungen nicht durch den Staat, sondern nur durch langwierige Bewusstseinsprozesse möglich seien. Mit „radikal“ meint er eine Entwicklung, die die grundlegenden Herrschaftsverhältnisse betreffen. Emanzipatorisches Handeln müsse sich dem Kapitalismus bewusst entgegenstellen und ihn durchbrechen (vgl. Hirsch 2005, 231/232). Wie gesagt: Eine Demokratie ohne Kapitalismus als erstrebenswerte Zukunft!

Weitere Literatur

Demirović, Alex 2013: Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung, PROKLA 171. 193-215.
Heinrich, Michael 2004: Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart.
Hirsch, Joachim 2005: Materialistische Staatstheorie, Hamburg.
Hirsch, Joachim 2013: Was wird aus der Regulationstheorie? In: Atzmüller, Roland u.a. (Hrsg.) Fit für die Krise? Münster, 380-396
Streeck, Wolfgang 2013: Vom DM-Nationalismus zum Euro-Patriotismus? In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 9. 75-92.

Wolfgang Kastrup ist Mitarbeiter im Arbeitskreis Demokratie des DISS.