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Der Kongo, Lampedusa und die „Festung Europa“

(K)eine Rezension zu David Van Reybrouck: Kongo

Von Siegfried Jäger, veröffentlicht im DISS-Journal 26 (2013)

Der Bestseller von David Reybrouck (Aufl. über 200-000) ist bereits 2010 in niederländischer Sprache erschienen, 2012 in deutscher Übersetzung und als Taschenbuch 2013. Er ist vielfach rezensiert worden, nicht selten mit kritischen Untertönen. Deshalb erübrigte sich eigentlich eine erneute Rezension, doch das nur auf den ersten Blick. Wer die rund 700 Seiten gelesen hat, erfährt viel über den Kongo und seine dramatische Geschichte, die teilweise anhand bibliographischer Zeugnisse erzählt wird, teils aber auch anhand von Interviews, die Van Reybrouck mit alten und jungen Kongolesinnen und Kongolesen vor Ort geführt hat. Insgesamt kommt dabei heraus: Der Autor ist kein Kolonialismus-Forscher im üblichen Sinn, sondern eine Mischung aus Journalist und Literat. Seine Darstellung ist vorwiegend deskriptiv, und das ist auch gut so, aber teils auch nicht so gut. Denn ohne es zu explizieren liefert Van Reybrouck eine Erzählung über die Schwierigkeit dieser riesigen ehemaligen belgischen Kolonie, eine Demokratie zu werden. Die koloniale und nur scheinbar nicht mehr koloniale Zeit dieses Landes ist damit ein Lehrstück dafür, dass das Konzept und die Realität der Demokratie, selbst wenn man bei diesem Begriff nicht an so etwas wie reale Demokratie denkt, sondern nur an deren Definition unter westlich-europäischen Vorzeichen als repräsentative Demokratie, sowohl in Zeiten brutaler Kolonisation wie auch der nur scheinbaren Entkolonisierung unter neoliberalistischen Bedingungen nicht umzusetzen ist. Im Gegenteil: Die Kolonisierung geht weiter. Die erbarmungslose Unterdrückung und Ausbeutung der kongolesischen Bevölkerungen kennzeichnet diese Etappen in gleicher Weise und übersteigt jedes Vorstellungsvermögen wegen der Grausamkeiten und Menschenverachtung der Kolonialmächte und der autokratischen Regierungen, die im engen Bündnis mit dem westlichen Kapital die Menschen des Landes knechteten und zu Hunderttausenden versklavten und ermordeten, legitimiert durch blanken Rassismus und Sexismus, die sich als willkommene Instrumente der Ausbeutung und massenhaften Tötung der Menschen anboten.

Van Reybrouck beschreibt diese Verbrechen zwar ausführlich, und dafür gebührt ihm Dank, seine Beschreibungen bleiben jedoch Geschichte(n). Sie sagen alles und erklären (fast) nichts. Was Wunder, dass seine Geschichten nicht überall auf Wohlgefallen treffen.

Sie lassen die Leserin und den Leser aber auch nicht kalt. Im Mittelmeer, so ist zu hören, sind in den letzten Jahren 25.000 Afrikanerinnen und Afrikaner auf der Flucht nach Europa ertrunken; vor ein paar Tagen allein etwa 400 bei Lampedusa, der Name einer Insel, der inzwischen symbolisch für eine verbrecherische Einwanderungspolitik steht, die vor einigen Jahrhunderten begonnen hat und bis in unsere Gegenwart fortdauert. Nach der räuberischen Kolonisation, der millionenfachen Versklavung und Ermordung afrikanischer Menschen aus nahezu allen Kolonien fand dieses Menschheitsverbrechen seine Fortsetzung in der Neuzeit in Gestalt einer neoliberalistischen Wirtschafts- und Technologiepolitik, die den einst überaus reichen afrikanischen Kontinent in absolute Armut stürzte, begleitet von der Entstehung korrupter autokratischer Regierungen, grauenhafter Kriege und Vertreibungen. Diese spielen sich in erster Linie in Afrika selber ab. Nur wenigen gelingt die Flucht nach Europa, wo sie nicht willkommen sind. Wer diese Flucht überlebt, gilt als „illegal“ und wird vor Gericht gezerrt. Das ist „die Schande von Lampedusa“. Ungerührt wird sie dadurch weggeheuchelt, dass die „Festung Europa“ ihre Mauern hochzieht und der Gedanke der Demokratie zum Schutzschild kapitalistischer Ausbeutung verkommt. ((Vgl. auch den Beitrag von Thomas Kunz auf unserem Blog http://www.disskursiv.de/2013/10/14/die-scharfmacher/ [12.11.2013].))

David Van Reybrouck
Kongo. Eine Geschichte
783 Seiten, 29.95 Euro,
2013: Frankfurt: Suhrkamp Tb, 14,00 Euro