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Die Debatte um antiziganistische Zustände

Eine Rezension von Bente Gießelmann, erschienen im DISS-Journal 25 (2013).

Alexandra Bartels / Tobias von Borcke / Markus End / Anna Friedrich (Hg.)
Antiziganistische Zustände 2
Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse
Münster 2013: Unrast-Verlag
258 Seiten, 19,80 €

Der Sammelband „Antiziganistische Zustände 2“ erscheint mitten in einer kontroversen Auseinandersetzung um den Begriff des Antiziganismus. Die dort versammelten, thematisch breit gefächerten Artikel versuchen ein komplexes Gebilde von Zuschreibungen und Diskriminierungen zu beleuchten, das wissenschaftlich bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Der Sammelband schließt sich an die Publikation „Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments“ von 2009 an. Als Antiziganismus wird dabei eine spezifische Form rassistischer Bilder und Ausgrenzung gefasst, die sich vor allem gegen Sinti und Roma richtet. Das Buch gliedert sich in die Abschnitte: Grundlagen, Fremdbilder, Antiziganismus in Deutschland und Europa, Antiziganismuserfahrungen/Interventionen sowie einem Anhang mit einer umfangreichen Bibliographie.

In den wissenschaftlichen und politischen Diskussionen der letzten Jahre werden sehr unterschiedliche Zugänge sichtbar. (Vgl. Winckel 2002; Wippermann 1997, 2005; Zimmermann 2007.) Nicht zuletzt geht es dabei auch um die Präzisierung von Begriffen.

Im grundlegenden Abschnitt erläutert Markus End deshalb detailliert die aktuellen Begriffsdebatten sowie seinen Zugang zum Konzept des Antiziganismus. Er betont, dass es sich um ein Kontrukt der Mehrheitsgesellschaft handele, welches auf einem historisch tradierten „Zigeuner“-stereotyp basiere und in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen (Bilder, Diskurse, Institutionen und Praktiken) ständig reproduziert und aktualisiert werde. Betroffen von Diskriminierung und Ausgrenzung seien mehrheitlich Sinti und Roma. Markus End diskutiert verschiedene Kritiken am Begriff des Antiziganismus, von denen eine besonders aus aktivistischen Kontexten formuliert wird: Sollte der Begriff durch die Reproduktion des Wortelementes „zigan“ verletzen oder rassistische Sprache reproduzieren, müsse ein anderer gefunden werden. Markus End argumentiert schlüssig, dass der Begriff das System von Stigmatisierung und Diskriminierung momentan jedoch gut zusammenfasst, weil er den Konstruk-tionscharakter der Zuschreibungen betont und spezifische Sinngehalte des Antiziganismus als Form des Rassismus benennt. Der Definitionsversuch von Markus End bietet somit eine Grundlage für Debatten und macht Kontroversen um den Begriff sichtbar, die nicht nur im wissenschaftlich-akademischen Kontext ausgehandelt werden können.

Dass in der aktuellen akademischen Forschung zu Antiziganismus auch problematische Ansätze vertreten und erneuert werden, zeigt der Artikel von Tobias von Borcke im Abschnitt “Fremdbilder”. Er weist auf essentialisierende und stereotype Wissensproduktion im institutionellen Kontext des Leipziger Forum Tsiganologische Forschungen (FTF) hin. Tobias von Borcke illustriert ein hegemoniales wissenschaftliches Feld und damit den Hintergrund, vor dem der Sammelband als Beitrag in der wissenschaftstheoretischen Debatte wichtige kritische Impulse liefert.

Weitere Beiträge versammeln Forschungen zur Geschichte antiziganistischer Fremdbilder und zu europäischen Dimensionen antiziganistischer Zustände, so zum Beispiel in Frankreich und Ungarn. Die Selbstverortung des Buches an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik spiegelt sich vor allem im letzten Abschnitt wider, in dem politische Interventionen reflektiert werden und so auch der Kampf gegen Diskriminierung sichtbar gemacht wird.

Bedauerlich ist, dass sich kein Bezug zur Einweihung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin findet. Dies ist auch deshalb erstaunlich, da im ersten Band der antiziganistischen Zustände (End/Herold/Robel 2009) Yvonne Robel die gedenkpolitische Stereotypisierung von Roma in Debatten um das Erinnern an den Porrajmos (Völkermord an den Sinti und Roma) analysierte. Von daher wäre eine vergleichende Analyse der Diskurse um Schuld und Verantwortung zur Einweihung im Oktober 2012 – dem gleichen Zeitpunkt, zu dem Innenminister Friedrich eine Verschärfung der Asylgesetzgebung für Menschen aus Serbien und Mazedonien forderte – sicherlich sehr aufschlussreich gewesen. Welche Umstände Diskurse um Verantwortung und Schutz gegen Diskriminierung einerseits, repressive Forderungen und antiziganistisch gefärbte Zuwanderungsdebatten andererseits ermöglichen, sollte eine folgende Publikation genauer analysieren. Insgesamt stellt der Sammelband „Antiziganistische Zustände 2“ eine wichtige kritische Publikation in einem wissenschaftlichen Feld dar, die mitten in der Diskussion um Gegenstand und Perspektiven positioniert ist.

 

Literatur

End, Markus / Karthrin Herold/Yvonne Robel 2009: Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster.

Winckel, Änneke 2002: Antiziganismus. Rassismus gegen Roma und Sinti im vereinigten Deutschland, Münster.

Wippermann, Wolfgang 2005: Was heißt Antiziganismus? http://ezaf.org/down/IIIAZK19.pdf (Zugriff 10.6.2013).

Wippermann, Wolfgang 1997: Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich.

Zimmermann, Michael 2007: Antiziganismus – ein Pendant zum Antisemitismus? Überlegungen zu einem bundesdeutschen Neologismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 55, H. 4, 304-314.

 

P.S. Zum Thema Antiziganismus in Duisburg sind auf der Website des DISS mehrere Online-Broschüren kostenlos abrufbar:

AK Antiziganismus im DISS (HG.): Stimmungsmache. Extreme Rechte und antiziganistische Stimmungsmache. Analyse und Gefahreneinschätzung am Beispiel Duisburg. Veröffentlicht als kostenlose Online-Broschüre im März 2015.

Martin Dietzsch, Bente Giesselmann und Iris Tonks: Spurensuche zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Duisburg. Eine Handreichung für die politische Bildung. Veröffentlicht als kostenlose Online-Broschüre im Juni 2014.

Bente Gießelmann: Differenzproduktion und Rassismus. Diskursive Muster und narrative Strategien in Alltagsdiskursen um Zuwanderung am Beispiel Duisburg-Hochfeld. Bachelorarbeit, veröffentlicht im August 2013.