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Occupy Democracy, aber wie?

 Kämpfe um Demokratie. Ein Review-Essay von Siegfried Jäger. Erschienen in DISS-Journal 24 (2012)

Sind die weltweite Occupy-Bewegung und – erst recht – der arabische Frühling kläglich gescheitert? Was hat die Entkolonialisierung afrikanischer Länder ((Vgl. dazu auch die Rezension des Doppelheftes der Zeitschrift Peripherie mit dem Titel „Umkämpfte Räume“ http://www.diss-duisburg.de/2012/11/umkampfte-raume/)) gebracht außer Korruption und Kriegen? Hat die Krise neoliberaler Alternativlosigkeiten einen Ausweg gezeitigt, der in die Richtung wirklicher Demokratie deutet?

Angesichts des „arabischen Frühlings“ und auch der weltweiten Occupy-Bewegung drängt sich die alte Frage auf, was „wir“ denn eigentlich unter Demokratie verstehen und wie und ob überhaupt sie zu realisieren ist. Und diese Frage drängt sich deshalb in besonderer Weise auf, weil das von „uns“ und dem ganzen Westen vertretene und gelegentlich auch geliebte oder manchmal gar als heilig geglaubte Modell von (repräsentativer) Demokratie in anderen, besonders in armen, islamisch geprägten Ländern oft vehement abgelehnt und oftmals schlichtweg gehasst wird. ((Vgl. dazu Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, München 2008.))Der Kampf gegen autokratische Systeme in Tunesien, Libyen oder Ägypten konnte in kurzen Stürmen erfolgreich sein, westliche Demokratie konnte aber bisher nicht an ihre Stelle treten. ((Auch die Occupy-Bewegung lehnt bekanntlich zumindest in großen Teilen die Verquickung von Demokratie und sogenannter freier Marktwirtschaft ab, konzentriert sich in ihrem Widerstand jedoch vornehmlich auf die negativen sozialen Auswirkungen dieser Verquickung, allerdings oft verbunden mit der Forderung nach „wirklicher Demokratie“. S. dazu DISS-Journal 22/2011. http://www.diss-duisburg.de/download/dissjournal-dl/DISS-Journal22_2011.pdf)) Daher zuerst der Versuch, etwas genauer zu bestimmen, ob dieses Konzept, eine Regierungsform, nur die dazu geeignete Exekutive oder eine ethische Haltung meint? ((Zu dieser Frage vgl. auch die Gouvernementalitäts-Studien Michel Foucaults und dazu einführend Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000.))

In dem soeben erschienenen Büchlein von Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-Luc Nancy, Jacques Ranciere, Kristin Ross und Slavoj Žižek: Demokratie? Eine Debatte ((Frankfurt/M.: Suhrkamp 2012, 137 Seiten, 14 €)) wird der Versuch gemacht, dem Begriff der Demokratie auf den Grund zu gehen. Mit anderen Worten, es wird nach der Wahrheit dieses Begriffs gesucht und – wie nicht anders zu erwarten – diese Wahrheit wird nicht gefunden. Es werden nur unterschiedliche Wahrheiten gefunden, also Definitionen, die jeweils eine gewisse zeitweilige, lokale oder regionale Gültigkeit haben. Entsprechend gibt es auch sehr unterschiedliche Demokraten: „sozialistische Demokraten“, „revolutionäre Demokraten“, „bürgerliche Demokraten“, „imperialistische Demokraten“, „fortschrittliche Demokraten“ und „autoritäre Demokraten“. ((Ross, in Agamben u.a.; S. 106.)) So scheint der Begriff der Demokratie völlig beliebig und letztlich inhaltslos geworden zu sein und seine emanzipative Komponente eingebüßt zu haben, falls er sie denn jemals innehatte. Aber die oft radikale und nicht selten hasserfüllte Ablehnung der Demokratie, wie wir sie recht umstandslos kennen, muss doch ihren Grund haben. Es muss sich um eine bestimmte gültige Auffassung von Demokratie handeln, die diese radikale Ablehnung provoziert. Kristin Ross (S. 113) wartet mit einer Antwort auf, die diesen Hass zumindest in seiner Grundstruktur zu erklären geeignet sein könnte. Sie schreibt: [D]ie westlichen Regierungen … haben das Wort praktisch vollkommen für sich in Beschlag genommen und nichts von seinem früheren emanzipatorischen Beiklang übriggelassen. Demokratie ist zu einer Klassenideologie zur Rechtfertigung von Systemen geworden, die das Regieren einem kleinen Personenkreis überlassen – und sozusagen ohne das Volk regieren; … Wenn man es schafft, eine ungehemmte und deregulierte freie Marktwirtschaft, einen rücksichtslosen, mit allen Mitteln geführten Kampf gegen den Kommunismus sowie das Recht, sich militärisch in die inneren Angelegenheiten zahlloser souveräner Staaten einzumischen, wenn man es also schafft, dies alles ‚Demokratie’ zu nennen, dann ist das schon ein echtes Kunststück. Es fertigzubringen, dass der Markt für eine offensichtliche Bedingung der Demokratie gehalten wird und die Demokratie für ein System, das unerbittlich nach dem Markt ruft, ist eine beachtliche Leistung.“ ((Dazu kommen natürlich manche andere Faktoren, religiöse, traditionelle etc.))

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Demokratie auch in westlichen Industrieländern zunehmend „verstimmt“ ist.

Stephan Braun  und Alexander Geisler haben  ein Buch herausgegeben, das den Titel trägt: Die verstimmte Demokratie. Moderne Volksherrschaft zwischen Aufbruch und Frustration. ((Wiesbaden: Springer VS, 330 Seiten, 24,95 €.))

Zugegeben, es ist ein etwas langweiliges und sozusagen eindimensionales Buch, das sich in fast allen seiner 25 Beiträgen einem einzigen Thema widmet: der Verdrossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger angesichts der realen parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, und was gegen diese Verstimmtheit zu machen sei, die meist als Politikverdrossenheit daherkomme. In ihrer Einführung werden die Symptome der Verstimmung zwar ausführlich aufgelistet und es wird auch von Demokratiekritik gesprochen und von der Macht der Ökonomie und des kapitalistischen Finanzsystems gegenüber den demokratischen Parteien und der gewählten Exekutive, die damit ihre Autonomie verloren hätten. ((Unter Bezug auf einen Artikel von Uwe Timm im Tagesspiegel vom 28.1.2012.)) Diese grundsätzliche Frage wird in den folgenden Beiträgen dann aber kaum weiter erörtert, und dies, obwohl der Kabarettist Dieter Hildebrandt mit seiner „kabarettistischen Provokation“ zitiert wird: „Demokratie ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.“ (13) Die Verdrossenheit in der Bevölkerung scheint jedoch damit nichts zu tun zu haben. So geht es in einem allerdings äußerst verbalradikalen Beitrag von Elmar Wiesendahl von der Universität der Bundeswehr München nur „um eine Kritik der maßlosen und herabsetzenden Antiparteienkritik, zumal nicht von der Hand zu weisen (sei), dass sie mit ihrer Stimmungsmache und Klimavergiftung dazu beiträgt, die Legitimitätsgrundlagen der Parteiendemokratie zu untergraben.“ (S. 79)

Ganz so wild agieren andere Verteidiger der real existierenden repräsentativen Demokratie allerdings nicht. So sieht z. B. Karl-Rudolf Korte von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen unverzagt, „dass das Parteiensystem als ein anpassungsfähiges System lebendig geblieben ist.“ Und er begnügt sich damit, „Politik und Politikverdrossenheit (als) Chiffren für die Unzufriedenheit der Bürger mit den Unübersichtlichkeiten einer komplizierten Demokratie“ anzusehen. (S. 41) Das ist vielleicht etwas arrogant gegenüber den Wählerinnen und Wählern, zeigt aber zugleich auf, dass Korte sich mit einer oligarischen Form des Regierens zufrieden gibt.

Nun gibt es in diesem reichhaltigen Band durchaus auch einige Lichtblicke wirklich demokratischen Denkens und wissenschaftlicher Klarsicht. So spricht etwa der Wirtschaftssoziologe Oliver Nachtwey von der „Krise des demokratischen Kapitalismus“, einer Krise, die „nicht nur eine Frage demokratischer Verfahren, sondern unmittelbar verbunden (sei) mit der Verteilung und Kontrolle des Reichtums zwischen besitzenden und nicht-besitzenden Klassen.“ (S. 45) Er sieht, dass „[e]ine demokratische Erneuerung … von den ideell ermatteten und politisch erschöpften Eliten der Gegenwart kaum zu erwarten“ sei. (S. 47) Und glaubt, dass „[a]uch die neuen demokratischen Bewegungen … bislang einfluss- und machtlos“ (bleiben). Occupy oder die spanischen Indignados sind vor allem symbolische Manifestationen der Unzufriedenheit und möglicherweise die Vorboten einer viel umfassenderen Demokratiebewegung.“ (S. 47f.) Und er hofft auf eine „Wiedergewinnung utopischer Energien“. (S. 48)

Darauf hofft auch der kritische Soziologe Oskar Negt und plädiert für Utopie und außerparlamentarischen Widerstand. Alexander Häusler diskutiert die Gefahr rechtspopulistischer Umdeutung direkter Demokratie und fordert, dass die soziale Frage – in ihrer transnationalen Dimension – wieder in das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen gerückt wird.

In einigen abschließenden Beiträgen werden Möglichkeiten direkter Demokratie anhand von konkreten Fällen wie ‚Stuttgart 21’ diskutiert, die meistens aber nur als Ergänzungen repräsentativer Demokratie angesehen werden. Hervorzuheben ist allerdings der engagierte Schlussbeitrag von Anne Seifert und Franziska Nagy, in dem eine „demokratiepädagogische Unterrichtsmethode“ (S. 287) vorgeschlagen wird. Sie stützen sich auf ein fundiertes Demokratieverständnis mit dem Konzept „Demokratie als Lebensform“, durch das eine Erziehung zu kritischen Geistern erfolgen kann.

So enthält dieses Buch eine grundlegende Verteidigung repräsentativer kapitalismuskonformer Demokratie, allerdings auch einige Fluchtlinien, die Wege in die Richtung wirklicher Demokratie aufzeigen.

Solche Fluchtwege könnten sich besonders deutlich in der Occupy-Bewegung und im Arabischen Frühling zeigen.

Eine ausgezeichnete und analytisch profunde Darstellung der Proteste enthält Wolfgang Kraushaar: Der Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung ((Hamburg, Hamburger Edition, 255 Seiten, 12 €)), ein Buch, in dem viele Schauplätze der Aufstände in aller Welt aufgesucht und nicht nur akribisch dargestellt werden, sondern von Kraushaar, dem bekannten Politik- und Sozialwissenschaftler und Protestforscher vom Hamburger Institut für Sozialforschung, kritisch vergleichend untersucht werden. Dabei geht es ihm insbesondere auch um die Perspektive und damit die Erfolgsaussichten dieser Bewegungen. Die Demonstranten des Arabischen Frühlings haben immerhin eine ganze Reihe autoritärer Regierungen zu Fall gebracht, angefangen mit Tunesien und daraufhin die gesamte nord- und teilweise auch die südliche afrikanische Mittelmeerküste überziehend. Der Anstoß, so Kraushaar, den der Arabische Frühling gegeben hat, sei keineswegs auf diesen Raum beschränkt geblieben und habe mit Spanien, Portugal und Frankreich etwa auf Länder übergegriffen, die politisch, kulturell und religiös völlig anders strukturiert seien. (S. 10) Überraschend ist für ihn, dass auch Israel hinzugekommen ist, wo auch Hunderttausende junger Leute vor allem der Mittelschicht auf die Straße gegangen sind. Mit Occupy Wallstreet ist sodann eine weitere Bewegung von besonderer Bedeutung hinzugekommen, und insgesamt „sieht es ganz so aus, als sei die soziale und politische Welle, die über Monate hinweg so viele und so unterschiedliche Länder in Atem gehalten hat, nun im Epizentrum der Macht, zumindest der des internationalen Finanzkapitals, angekommen.“ (S. 11)

Der mediale Mythos, dass es sich bei den beiden Aufständen um völlig unterschiedliche Ereignisse handele, ist daher auch nicht haltbar. Denn: „Weltweit wurde in mehr als 900 Städten in rund 80 Ländern demonstriert.“ (S. 12) Kraushaar sucht denn auch nach der „gemeinsamen Schnittmenge“ der Proteste, aus denen so etwas wie gemeinsamer Widerstand und Aufruhr erwuchs bis hin zur Auflehnung gegen die Staatsgewalt. Protagonisten dieser Widerstände sind nach Kraushaar die „Ausgebildeten“, die weltweit dagegen angingen, dass sie ihre Zukunftsversprechen nicht mehr als eingelöst betrachten konnten. Das ist, wie mir scheint, eine zwar richtige, aber nicht völlig zureichende Erklärung. Der soziale Druck, dem die jungen Leute ausgesetzt sind, ist zwar bedeutsam und keineswegs unwichtig. Doch die Analysen Kraushaars selbst zeigen, dass es um mehr ging, nämlich um Kämpfe gegen die Verletzung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, nicht nur soziale, sondern universale. ((Kraushaar untersucht natürlich nicht alle Schauplätze, sondern trifft eine Auswahl. So untersucht er für den Arabischen Frühling Tunesien und Ägypten, für die Occupy-Bewegung die USA, Spanien, Portugal, Israel und die Bundesrepublik Deutschland. Mit Chile und China berücksichtigt er zudem jeweils ein signifikantes lateinamerikanisches und ostasiatisches Land. Griechenland, England und Russland bleiben, weil als untypisch eingeschätzt, dezidiert unberücksichtigt, worüber man sicherlich streiten kann. Insbesondere Griechenland wäre unbedingt hinzuzunehmen gewesen, weil der dortige Aufruhr durchaus exemplarischen Charakter hat. Vgl. dazu auch die Ausführungen in DISS-Journal 22/2012, http://www.diss-duisburg.de/download/dissjournal-dl/DISS-Journal22_2011.pdf)).

Die einzelnen Analysen und die Kapitel zu den Akteuren, zu den virtuellen Räumen, zu den Ursachen für den Fall der arabischen Autokratien, den Verursachern der weltweiten Finanzkrise, dem Widerstand der Prekarisierten und zu dem Machtkampf in Kairo sind überaus lesenswert. Dagegen dürften Kraushaars Überlegungen zu den Perspektiven des Aufruhrs und der Proteste insgesamt ziemlich umstritten sein. Insbesondere seine Einschätzung, dass die Proteste rein symbolischen Charakter hätten und somit perspektivlos seien, möchte ich so nicht teilen. Hier hat ein ungeheuer wichtiger Lernprozess stattgefunden, und findet im Übrigen weiterhin statt, der für zukünftige Kämpfe außerordentlich wichtig sein wird. Der ungewöhnlich erfolgreiche Widerstand in Griechenland, der vom Syntagmaplatz ausging, hatte einen wichtigen Vorlauf in Gestalt von Protesten wenige Monate zuvor. Formen gewaltfreien Widerstands lernt man nicht auf Anhieb, sondern in den Auseinandersetzungen selbst. Revolutionen sind keine einmaligen Gewaltakte, sondern historische Lernprozesse. Politische Programme fallen nicht vom Himmel, und sie erweisen sich als kontraproduktiv, wenn es darum geht, wirkliche Demokratie durchzusetzen.

Diese Schlussfolgerungen werden durch eine weitere Veröffentlichung unterstrichen, nämlich von Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer: Occupy. Räume des Protests, ((Bielefeld, transcript, 191 Seiten, 18,80 €)) einem knapp 200 Seiten langen „Essay“ der beiden Wiener Kulturwissenschaftler. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf dieselben Fakten wie Wolfgang Kraushaar, allerdings unter Betonung der Ereignisse in New York, interpretieren sie jedoch durchaus anders, insbesondere was die „Schnittmenge“ der Ereignisse und die Schlussfolgerungen zu den Perspektiven der Widerstandsbewegung von arabischem Frühling und Occupy betrifft. Zwar sehen auch sie angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise hüben wie drüben Zukunftsängste als gemeinsame Triebfeder, aber keineswegs als die alleinige; sie diskutieren darüber hinaus auch die Enttäuschungen der Hoffnungen der Menschen auf ein sinnvolles Leben in einer menschlichen Gesellschaft und sehen in der weltweiten Rebellion dagegen den Beginn eines Lernprozesses. Der letzte Satz dieses Buches lautet denn auch: „Die Errungenschaft von Occupy liegt in der Besetzung der Option auf Zukunft.“ Auf die Räumung der meisten Zeltlager reagieren sie mit dem Slogan: eine Idee kann nicht einfach geräumt werden. Sie arbeiten überzeugend heraus, dass Occupy eine Vielzahl von Vorläufern hatte, auf deren Erfahrungen zurückgegriffen werden konnte und aus denen zukünftige Proteste und Rebellionen lernen können. Es wundert daher nicht, dass die Rebellionen mit einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Probleme konfrontiert waren (und weiterhin sein werden), denn die Gründe für die Proteste vor Ort und die Widerstände dagegen sind außerordentlich vielfältig und deshalb sind dies auch die unterschiedlichen Formen des Protestes. Und trotz der daraus resultierenden Komplexität des Widerstandes zeichnet sich ein Gemeinsames ab: die Widerstände richten sich gegen gültige Wahrheiten, auch wenn sich diese hinter den unterschiedlichsten Verkleidungen verstecken. In diesen Widerständen artikuliert sich „ein universelles Verlangen nach Gerechtigkeit und Demokratie.“ (S. 97) Zu bedenken geben die Autoren jedoch, dass die Subjekte, die die Proteste tragen, selbst durch die neoliberal dominierten gesellschaftlichen Verhältnisse beschädigt sind und zudem, wenn sie ihre demokratischen Grundrechte beanspruchen, einer reaktionären Gewalt gegenüber stehen. Dies führe zu oft sehr widersprüchlichen Einsichten bei den Aktivisten von Occupy und es stelle sich die Frage, wie eine Handlungsfähigkeit zu entwickeln sei, „welche die komplexen Beziehungen zwischen der Systemhaftigkeit des Finanzkapitalismus und dem von Occupy angerufenen Individuum jenseits von fixierten Oppositionen“ in sich aufnehmen kann. (S. 142)

An diesem Ort ihrer Überlegungen warten die Autoren mit dem Modell der „Nachträglichkeit“ auf. „Das Denkmodell der Nachträglichkeit bricht nicht nur mit einer direkten Kausalität zwischen Ereignis und Bedeutungsgebung, sondern auch mit der Vorstellung einer linearen Abfolge an Zeit-Räumen. Für die Einschätzung der Ausgangslage und Wirkung unseres politischen Handelns ist so ein multidimensionales Feld an Kräften einzubeziehen.“ (S. 143) Es geht um eine nachträgliche Bedeutungsgebung. Denn: „Jede Avantgarde-Bewegung verarbeitet immer auch Spuren früherer Bewegungen, während sie bereits die Saat für die Traumata der Nachkommenden legt.“ (ebd.)

Daher sei auch Occupy nicht mit einem Erfolg oder einem Scheitern abzuschließen. Vielmehr gelte es, die jeder Bewegung inhärente Widersprüchlichkeit aus den Rückbezügen und Vorgriffen auf ein unentwirrbares Geflecht an verlagerten Räumen und Zeiten zu verstehen. Auch die in sich selbst instabile Anordnung von Occupy zeitige somit affirmative wie subversive, destruktive wie produktive, ästhetische wie ethische Effekte. So gelte es, die Motive und Bedeutungen der Occupy-Bewegung nicht zu überschätzen, aber auch nicht zu unterschätzen. „Um wahren Widerstand gegen die Entfremdungspraxis des Kapitalismus leisten zu können, gilt es nicht nur, dagegen zu protestieren, sondern sich dem Zugriff durch das System zu entziehen und stattdessen gemeinschaftlich an einer Alternative zu bauen. … Trotz aller Anstrengungen können wir der Tatsache nicht entkommen, dass wir immer auch selbst durch das System impliziert sind. Immer Schuldner und Schuldeneintreiber, Sklave und Meister zugleich, gibt es keine Lösung durch die Wahl richtiger Produkte oder optimaler Procedere.“ (S. 153) Occupy sei ein stets andauerndes Projekt, das immer aufs Neue begonnen werden müsse. Dazu bedürfe es des „Muts zur Wahrheit“ (Foucault) und der Erfindung neuer Weltanschauungen. „Die Errungenschaft von Occupy liegt in der Besetzung der Option auf Zukunft.“ (S. 159)

Damit ist die Diskussion eröffnet und keineswegs abgeschlossen. Einige Wegweiser gibt es allerdings. Ob sie richtungsweisend sind, muss geprüft werden.